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Warum die Popkultur weniger stereotype Brillenträger braucht
Seit ich denken kann, trage ich eine Brille. Ich bin sozusagen mit vier Augen auf die Welt gekommen. Dass mich meine Brille schon mein ganzes Leben begleitet, ist vermutlich auch ein Grund, warum ich sie bis heute nie durch Kontaktlinsen ersetzt habe. Ich kann mit Fug und Recht behaupten, eine stolze Brillenträgerin zu sein.
Doch schon als Kind fiel mir eines auf: Keine Disney-Prinzessin sieht aus wie ich. Denn keine von ihnen ist eine Brillenträgerin. Eine ernüchternde Erkenntnis für mein damaliges Ich. Dass die Königin von England eine Brille trägt, wie mir meine Mutter glaubhaft versicherte, war ein schwacher Trost. Schließlich ist die Queen nicht unbedingt die Art von Monarchin, mit der sich eine Vierjährige gern identifiziert: Sie ist nicht jung, kann nicht mit Tieren sprechen und hat auch keine Prinzessinnenkleider an – vor allem aber ist sie viel zu real und auch nicht die Heldin in einem Zeichentrickfilm. (Dass Elizabeth II. womöglich ein besseres Vorbild abgegeben hätte als so manche Disney-Prinzessin, konnte mein oberflächliches Mini-Me damals noch nicht wissen …) Es blieb mir also nichts anderes übrig: Ich musste die Sache selbst in die Hand nehmen. Bewaffnet mit all meinen Buntstiften kreierte ich eben meine eigene Prinzessin. Und zwar MIT Brille!
Held*innen tragen keine Brille
Nun könnte man argumentieren, dass in einem weit, weit entfernten Märchenland Sehhilfen möglicherweise nicht ganz oben auf der Prioritätenliste stehen. Oder dass einfach alle Prinzessinnen mit einer hundertprozentigen Sehstärke gesegnet sind. Aber auch in weniger fantastischen Genres suchte ich meist vergeblich nach bebrillten Held*innen. Eigentlich erschreckend, wenn man bedenkt, dass Brillenträger*innen allein in Deutschland zwei Drittel der Bevölkerung ausmachen. Freilich hielt mich meine Sehschwäche nicht davon ab, mich trotzdem mit Bibi Blocksberg oder Pippi Langstrumpf zu identifizieren. Dennoch verfestigte sich in meinem Kopf vor allem eine Botschaft: Kinoheld*innen tragen keine Brille.
Dabei gibt es sie durchaus, die brillentragenden Filmfiguren. Nur liegt an dieser Stelle das zweite Problem: Die Popkultur reproduziert die immer gleichen Stereotype von Brillenträger*innen. Sei es der comicbuchlesende Nerd, die graue Maus, der freundliche Opi oder die sexy Lehrerin:
Eine Brille ist nie einfach nur eine Brille – sie ist ein Symbol
Eine Brille erfüllt in Film und Fernsehen fast immer eine Funktion. Sie ist geknüpft an einen festgelegten Katalog bestimmter Persönlichkeitsmerkmale. Durch das Tragen einer Brille wird eine Figur automatisch charakterisiert. Das Ergebnis sind wiederkehrende Schemata, die in ermüdender Weise uralte Klischees zementieren: Brillenträger*innen sind überdurchschnittlich intelligente Streber*innen – entweder unscheinbare Mauerblümchen mit Minderwertigkeitskomplexen (wie Lisi Schnabelstedt in Fack ju Göhte) oder aber nervige Besserwisser*innen (wie Alex Dunphy in Modern Family). Dabei zumeist ein wenig zerstreut, verschroben, socially awkward, unattraktiv, uncool.
Dass die Brille in der Popkultur mehr Kostümierung ist als Sehhilfe, wird an einigen Beispielen besonders deutlich: Die Neunziger und Zweitausender sind voll von Verwandlungsgeschichten. Ob in Eine wie keine (1999), Plötzlich Prinzessin (2001) oder Ugly Betty (2006-2010) – die Story ist immer dieselbe: Hässliches Entlein entwickelt sich zum schönen Schwan. Und was könnte diese Metamorphose besser unterstreichen als das dramatische Abnehmen der schrecklich entstellenden Hornbrille ... Seriously?!
Natürlich senden bei weitem nicht alle Filme und Serien eine derart fragwürdige Botschaft. Leonard Hofstadter aus The Big Bang Theory schafft es auch mit Brille, das hübsche Mädchen von nebenan für sich zu gewinnen. Und spätestens seit New Girl hat auch der Letzte verstanden, dass Brillenträgerinnen nicht hässlich sein müssen. Sitcoms wie diese haben mit Sicherheit erheblich zu einer Aufwertung des Brillenträger-Images beigetragen. Doch auch wenn sie durch Überspitzung und Humor altbekannte Klischees bewusst aufgreifen und reflektieren – überwunden haben sie sie noch lange nicht. Leonard ist die Inkarnation des brillentragenden Nerds und Jess eine Mischung aus sexy Lehrerin und süß-verpeiltem Geek-Chick.
Harry Potter ist der Messias der Brillenträger*innen
Doch es gibt eine Filmfigur, die mich die Hoffnung auf eine mediale Zukunft ohne klischeebehaftete Brillenträger*innen nicht aufgeben lässt: Der Junge, der überlebt hat. Der Auserwählte. Harry Potter. Völlig zu Recht gilt die Romanfigur von J.K. Rowling als einer der bekanntesten Brillenträger der Literatur- und Filmgeschichte. Und das, ganz ohne abgedroschene Stereotype zu bedienen. Harry Potter ist für mich nicht nur aus den offensichtlichen Gründen ein Held: Er ist der Messias aller Brillenträger*innen.
Zusammen mit der blitzförmigen Narbe auf der Stirn ist die runde Brille zu Harrys Markenzeichen geworden. Sie kennzeichnet ihn weder als Streber noch als Nerd, sondern einfach nur als kurzsichtig. Seine Sehschwäche hält ihn aber keineswegs davon ab, die Welt zu retten. Harry Potter war das Vorbild, das mich damals ermutigt hat, meine erste Brille im Kindergarten mit Stolz zu tragen, anstatt sie beschämt in der Tasche verschwinden zu lassen. Denn durch ihn habe ich vor allem eines verstanden: Auch Brillenträger*innen können Held*innen sein!
Eine Brille bestimmt nicht die Persönlichkeit eines Menschen. Sie steigert (leider) nicht den Intelligenzquotienten, ist aber genauso wenig in der Lage, ein hübsches Gesicht zu entstellen. Vielleicht kommt diese Erkenntnis irgendwann ja auch im letzten Winkel der Popkultur an..