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True-Crime boomt: Ted Bundy und Fritz Honka als Seriencharaktere
Als am 28. Juli 1978 im Gefängnis die Anklageschrift gegen Ted Bundy verlesen wird, lehnt sich dieser süffisant grinsend mit dem Rücken gegen die Wand. „I’ll plead not guilty right now“ beteuert er, gewohnt nonchalant an die Presse gerichtet, und fügt kurz darauf – und das ist das eigentlich Makabre – noch hinzu: „I’ll be heard“. Denn heute wissen wir, dass Bundy sehr wohl schuldig war; einen Tag vor seiner Hinrichtung, gestand er, zwischen 1974 und 1978 zahlreiche Frauen umgebracht zu haben. Mindestens 30 waren es, die Dunkelziffer liegt wohl um einiges höher. Mit seiner zweiten Aussage aber sollte er recht behalten. Genau 30 Jahre nach seinem Tod lebt der berüchtigtste Serienmörder der USA weiter – wegen einer Dokumentation auf Netflix.
Die vierteilige Doku-Serie „Conversations With A Killer: The Ted Bundy Tapes“ nahm das Streaming-Portal ausgerechnet an Bundys Todestag ins Programm ins Programm. Sie ging in den sozialen Netzwerken so sehr durch die Decke, dass sich Netflix sogar gezwungen sah, eine Warnung auf Twitter auszusprechen: Man solle endlich damit aufhören, den vermeintlich „heißen“ Bundy, zu glorifizieren, und ihn als das sehen, was er tatsächlich war: ein kaltblütiger Mörder. Wie ironisch. Ist der Streamingdienst, der Bundy posthum eine Bühne bietet, denn nicht selbst schuld an seiner Stilisierung? Und was sagt das über uns aus, die wir fasziniert dabei zuschauen, wie er grausam getötet und den Rest der Welt jahrelang mehr oder minder erfolgreich zum Narren gehalten hat?
Ob in Serien oder Podcasts – Geschichten über echte Verbrechen scheinen eine sichere Bank zu sein
Seit dem 2014 erschienenen US-Podcast „Serial“ um den Mord an einer 17-jährigen High-School-Studentin und einer Journalistin, die den Fall aus dem Jahr 1999 neu aufgerollt hat, boomen True-Crime-Formate. Ob im Film (das jüngste Beispiel dürfte Fatih Akins „Der goldene Handschuh“ über den Serienkiller Fritz Honka sein, der in den 1970er Jahren in Hamburg mordete), in Serien, Büchern und Magazinen oder eben in Podcasts – Geschichten über echte Verbrechen scheinen eine sichere Bank zu sein. Dabei ist das Genre keineswegs neu. Truman Capote bediente es bereits 1965 in seinem Tatsachenroman „Kaltblütig“. Und „Aktenzeichen XY … ungelöst“ gibt es auch schon seit 1967.
Das Interesse für echte Verbrechen reiche aber noch viel weiter zurück, weiß der Kommunikationswissenschaftler Jo Reichertz, der an der Universität Essen den Einfluss von Crime-TV auf die Gesellschaft untersucht hat. „Geschichten über tatsächliche Begebenheiten sind schon seit jeher fester Bestandteil kultureller Überlieferungen, an denen sich das Publikum ergötzt hat. Angefangen mit den Bänkelsängern im Mittelalter, die schaurige Berichte über angeblich echte Verbrechen zum Besten gaben.“
Das Grauen habe auch immer etwas Tröstliches: Wir schauen aus sicherer Entfernung zu
Das Böse habe schon immer eine Faszination auf den Menschen ausgeübt – und wir hören bzw. schauen gerne hin, wenn wir nicht selbst betroffen sind. Das Grauen, das uns bei True-Crime-Geschichten beschleicht, sagt Reichertz, habe auch immer etwas Tröstliches: Wir schauen aus sicherer Entfernung zu. Es sei einerseits ein absonderlich schönes Gefühl der Sicherheit. Wir wissen, dass es auch uns hätte treffen können, weil es ja wirklich passiert ist. Hat es aber nicht. So können wir beruhigt, und dennoch tief erschüttert, von unserem Wohnzimmer aus in die dunkelsten Abgründe hinabschauen“, erklärt Reichertz.
Gilt der Mörder noch dazu als irgendwie charmanter Typ wie Ted Bundy, spielt auch die Diskrepanz zwischen Schein und Sein eine große Rolle. „Wenn der vermeintlich Gute seine Maske fallen lässt und sich das Böse dahinter in voller Wucht offenbart, erstaunt uns das immer wieder. Wir glauben bisweilen immer noch daran, dass sich das Böse zum Beispiel im Gesicht zeigt – eine Vorstellung von Physiognomik aus dem 19. Jahrhundert“, erklärt die Kulturwissenschaftlerin Susanne Regener. In ihrem kürzlich erschienenen Buch „Fabrikation eines Verbrechers“ hat sie sich mit den wissenschaftlichen und populären Vorstellungen vom Bösen auseinandergesetzt. Dass wir immer noch davon überzeugt sind, dass sich das Böse auf irgendeine Art erkenntlich machen muss, sei es durch körperliche oder charakterliche Absonderlichkeiten, zeigt sich mitunter bei der Berichterstattung von Straftaten, wenn etwa Nachbarn zum Täter befragt werden und sagen, „Von dem hätte ich das nie gedacht, der sah doch ganz normal aus“.
"Die Kunst greift immer das auf, was unsere Gesellschaft bewegt"
Das erklärt aber noch nicht, warum es gerade jetzt wieder einen Hype um True-Crime gibt, und was das alles über unsere Gesellschaft aussagt. Regener hält es nicht für einen Zufall, dass die Aufdeckung gesellschaftlicher Missstände, beispielsweise der Missbrauchsskandal der katholischen Kirche oder die #Metoo-Debatte über Sexismus und Machtmissbrauch, mit dem Boom von True-Crime korreliert. „Die Kunst greift immer das auf, was unsere Gesellschaft bewegt. Sie führt ihr einen Spiegel vor, will auf ihre Probleme aufmerksam machen“, erklärt die Expertin. So soll etwa „Der Goldene Handschuh“, der Gewalt gegen Frauen auf schockierende Art zeigt, laut Fatih Akin vor allem das männliche Publikum erschüttern.
Dabei gebe es aber ein Problem: „Mit der erneuten Inszenierung der Kriminalfälle aus den Siebzigerjahren werden stellvertretend Auseinandersetzungen mit Individuen angeboten“, erklärt Regener. Will sagen: True-Crime-Formate mögen zwar auf aktuelle gesellschaftliche Probleme hinweisen wollen, tun das in den meisten Fällen aber, indem sie sich an „alten Kamellen“ abarbeiten – der Zusammenhang ist für Zuschauer somit kaum nachzuvollziehen. Vielmehr fühlt sich das alles eher wie Verdrängung an.
So lange uns der Nervenkitzel anspricht, wird der Hype wohl nicht abflachen
„Das Böse spielt sich ja nicht nur auf dem Bildschirm ab, es ist allgegenwärtig“, sagt Regener. So könne Gewaltbereitschaft durch solche Formate auch nicht erhöht werden, sie sei schon längst da. Und hier greift dann wieder Reichertz Erklärung von der realen Möglichkeit, dass es auch uns hätte passieren können, und unserem Bewusstsein, dieses Mal noch einmal verschont geblieben zu sein. So lange uns dieser Nervenkitzel anspricht und wir den Hype in sozialen Netzwerken selbst befeuern, wird er wohl erst einmal nicht abflachen.
Was die Experten zu Netflix’ Empörung über die Reaktionen seiner Zuschauer zur Ted-Bundy-Doku sagen? „Eine ziemlich witzige Schutzbehauptung“, handele es sich bei der Warnung doch eindeutig um Kalkül. „Wer es als Serienmörder schafft, in die Medien zu kommen, erfährt nicht nur Abscheu, sondern genießt auch eine spezifische Art der Anerkennung, die ihn aufwertet und bedeutsam macht“, erklärt Reichertz. Und so sei letztlich auch das Kalkül von Bundy ist aufgegangen: Er wurde gehört.
„Fast alle Serienkiller wollen irgendwann gefasst werden, damit sie diesen Moment der (traurigen) Berühmtheit genussvoll erleben können. Sie arbeiten dann an auch aus dem Gefängnis weiter an dieser Aufmerksamkeit, die ihnen von Medien eingeräumt wird“, ergänzt Regener. Das sollte man stets im Hinterkopf behalten, etwa wenn man sich schon auf den Thriller „Extremly Wicked, Shockingly Evil and Vile", der den Mythos Ted Bundy mit Zac Efron in der Hauptrolle weiter vorantreibt, freut. Die Rechte hat sich Netflix ja schon für neun Millionen Dollar gesichert.