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Warum es „Fridays for Future“ in Indien schwer hat

Fotos: privat Bearbeitung: jetzt

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Seinen ersten Protest bestritt Nikhil Kalmegh allein. Mit Entschlossenheit im Blick und einem Plakat in jeder Hand stellte sich der 24-Jährige am 15. März, dem Tag des ersten globalen Klimastreiks, vor das weiße Parlamentsgebäude im Süden Mumbais. Während sich Rikschas und Autos ungerührt an ihm vorbeischoben, hielt er seine Mahnung über den Verkehr in die Luft: „Das Klima wandelt sich und wir unternehmen nichts. #WakeupIndia“

In Mumbai bringt der Maschinenbauer in einem Trainingscenter anderen das Schweißen bei. Eigentlich aber stammt Nikhil aus dem 700 Kilometer entfernten Amravati, einer indischen Mittelstadt mit 650 000 Einwohnern im Osten des Küstenstaats Maharashtra. Im Sommer steigen die Temperaturen dort auf über 45 Grad, Dürreperioden stürzen Bauern in Armut. „Für einen ganzen Monat hatten wir kein Trinkwasser“, erzählt Nikhil am Telefon. Wassertanker und PET-Flaschen großer Konzerne brachten Erleichterung, bis im Juli der Monsun-Regen großflächig den trockenen Boden flutete. Das war zu viel.  Auch die Hauptstadt Mumbai erlebte die schlimmsten Überschwemmungen der vergangenen zehn Jahre.

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Nikhil vor dem Parlamentsgebäude in Mumbai.

Foto: privat

Kaum ein Land leidet schon jetzt so unter dem Klimawandel wie Indien – und könnte gleichzeitig so eine große Rolle darin spielen, ihn zu bekämpfen. Die Bevölkerung und die Wirtschaft wachsen. Der Energieverbrauch wird sich in den kommenden zwanzig Jahren mindestens verdoppeln. Zwar investierte das Land im vergangenen Jahr erstmals mehr Geld in erneuerbare Energien als in fossile. Mehr als die Hälfte des Energiebedarfs wird trotzdem aus Kohle gespeist. Aber Indien ist auch immer noch ein armes Land. Die wirtschaftliche Entwicklung steht dem Klimaschutz an vielen Stellen im Weg. Eine umweltbewusste Generation, die „Fridays for Future“ und Greta Thunberg natürlich auch aus dem Netz kennt, will das ändern, weiß aber auch: Es geht nicht ohne Kompromisse.

An dem Tag, an dem Nikhil seinen Protest alleine vor dem Parlament begann, waren auch einige Dutzend andere Menschen am Marine Drive, der Strandpromenade Mumbais, unterwegs. Hier fand Nikhil Mitstreiterinnen und Mitstreiter, Pooja Domadia war eine von ihnen. Die 29-Jährige hat ein Unternehmen gegründet, über das sie Produkte ohne Chemikalien und Plastik vertreibt. Indien hat ein Abfallproblem, das sieht man an jeder Straßenecke und vor allem an Mumbais beliebter

Strandpromenade. Deswegen wurde Pooja Teil einer Zero-Waste-Gemeinschaft. Die „Fridays for Future“-Proteste gaben ihnen Gelegenheit, ihr Anliegen in eine größere Bewegung einzubetten.

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Pooja bei einem der Proteste.

Foto: privat

Am Anfang kam nur eine Hand voll Menschen, die meisten in ihren Zwanzigern. „Wir müssen erst mal Bewusstsein für das Problem schaffen“, sagt Pooja. Die Menschen nähmen die steigenden Temperaturen, die Dürren und den Smog in der Luft zwar wahr, verstünden aber den Zusammenhang nicht. „Sie sagen: Was sollen wir schon tun? Wir können die Natur nicht kontrollieren.“

Pooja und ihre Mitstreiterinnen und Mistreiter sehen sich daher vor allem als Botschafter. Jeden Freitag verteilen sie sich an der Promenade oder an Bahnhöfen, um mit Menschen ins Gespräch zu kommen. In der globalen Klimastreikwoche, die seit dem 20. September läuft, veranstalteten sie eine Podiumsdiskussion, einen Open-Mic-Abend und meldeten sie sich bei Dutzenden Schulen an, in denen sie Vorträge hielten. Bei der Auftaktdemo zum Klimastreik kamen bereits mehrere Hundert Menschen.

Trotzdem viel zu wenig in einer Stadt mit 15 Millionen Einwohnern.

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Pooja bei einem Gespräch über Tee.

Foto: privat
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Eine Gruppe von Aktivist*innen bei einem ersten Treffen in Delhi.

Foto: privat

Dabei ist Umweltbewusstsein in Indien vor allem ein urbanes Phänomen – und Privileg. Rund 70 Prozent der indischen Bevölkerung leben noch immer auf dem Land, viele in Armut. Sie leiden am meisten unter den Folgen des Klimawandels, obwohl sie am wenigsten dazu beitragen. Aber auch sie wollen ausreichend Nahrung, sichere Arbeit, Autos fahren und Klimaanlagen kaufen.

Indien sieht sich zwar in der Verantwortung, hält aber auch am Recht auf Entwicklung fest. Die Pro-Kopf-Emissionen liegen in Indien weit unter dem globalen DurchschnittHistorisch gesehen ist die Emissionslast von Industrieländern höher als die von Entwicklungsländern. Die USA etwa sind heute noch für rund 26 Prozent der weltweiten Treibhausgasemissionen seit dem 18. Jahrhundert verantwortlich. Indien für drei Prozent – bei einer vier Mal so großen Bevölkerung. Die Regierung erinnert deshalb immer wieder an die Verantwortung der Industriestaaten, Entwicklungsländern beim Klimaschutz finanziell unter die Arme zu greifen. Indien investiert aber auch selbst in den Klimaschutz und wird laut dem Forschungszusammenschluss Climate Action Tracker seine selbst gesteckten Ziele im Pariser Klimaabkommen erreichen. Doch gerade weil das Land so anfällig für Naturkatastrophen ist, könnten Entwicklung und Klimaschutz nicht getrennt gedacht werden, sagt Pooja. „Das Problem ist, dass wir Entwicklung völlig missverstehen. Wir meinen damit immer nur Infrastruktur, Arbeit, Geld. Wir denken nicht an das große Ganze“, sagt Pooja.

„Fridays for Future“ ist in Indien kein klassischer Schülerprotest

Das Dilemma hat in Mumbai seit kurzem einen Namen: Aarey. So heißt der städtische Wald inmitten einer viel zu dicht gebauten Stadt. Seit Monaten protestieren Bürgerinnen und Bürger gegen den Ausbau der Metro, für den die Stadt rund 2000 Bäume fällen will. Die Metro soll den Verkehr entlasten, der die Straßen verstopft und die Luft verschmutzt. Indiens Städte haben die schlechteste Luftqualität weltweit, vor allem im Norden.

Bäume fällen im Namen der Umwelt – das ergibt für viele keinen Sinn. Durch Aarey fanden Klimaaktivisten von „Fridays for Future“, „Extinction Rebellion“ und andere Gruppen eine Plattform. Gemeinsam protestierten sie gegen das Projekt und für den Klimaschutz. „Fridays for Future“ ist in Indien kein klassischer Schülerprotest. Aber die Schulen machen mit: Sie behandeln den Klimawandel im Unterricht und gehen gemeinsam

auf die Straßen.

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„Fridays for Future“-Protest in Delhi.

Foto: privat

Es ist ein Ringen um Fortbestand auf allen Ebenen. „Wir genießen noch die Früchte der Industrialisierung und Urbanisierung. Wir wollen die Nachteile noch nicht wahrhaben“, sagt Pooja. Anderen sind sie so präsent, dass sie kaum schlafen können. Bis vor einem Jahr litt Shikhar Agarwar an „extremer Umweltangst“, erzählt er. So nennt der 22-jährige Student das Gefühl von Ohnmacht, das ihn überkam, als er verstand, wie alles zusammenhängt: Ungleichheit, Unterdrückung, Klima und Umwelt. Der Inder, dessen Familie in Ghaziabad bei Neu Delhi lebt, studierte Umweltwissenschaft in Singapur und dachte: „Es gibt keine Zukunft. Was mache ich überhaupt?“

Seine Rettung fand er in den Niederlanden. Als Austauschstudent nahm er im März dieses Jahres an seiner ersten „Rebellion“ der Bewegung „Extinction Rebellion“ teil. In Utrecht, wo er studierte, half er, einen Ableger aufzubauen. Später half er in Mumbai und Delhi. Mittlerweile ist die Bewegung in elf indischen Städten vertreten, wenn auch meist von einer Hand voll Menschen getragen. Am 2. Oktober beginnt die „internationale Rebellion“, am 6. Oktober wollen die Aktivisten in Indien den Klima- und Umweltnotstand ausrufen. Eine Forderung, die „Extinction Rebellion“ eigentlich an Regierungen weltweit stellt, damit Klimaschutz zur obersten Priorität wird. Shikhar findet aber auch, dass die Bewegung dem indischen Kontext angepasst werden müsse. „Bei uns geht es um Grundsätzliches: Wassersicherheit, Nahrungssicherheit, Abfallmanagement. Wir können nicht fordern, die Treibhausgas-Emissionen bis 2025 auf null zu senken. Das wäre zu idealistisch.“

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Shikhar bei einer Protestaktion in Utrecht.

Foto: privat

Die Gruppe arbeite gerade an einer lokalen Version der internationalen Forderungen. „Der große Unterschied ist, dass der Westen uns diese Krise beschert hat. Deswegen können wir von Ländern wie Indien nicht das Gleiche verlangen. Trotzdem müssen wir auch sie in die Verantwortung nehmen“, sagt Shikhar. Das beträfe vor allem die wachsende Mittel- und Oberschicht. Gegen Klimawandel zu kämpfen würde auch bedeuten, die Idee eines bequemen Lebens aufzugeben, das viele gerade erst

kennenlernen. Das ist schwierig in einem Land, in dem Religion, Kaste, Herkunft, Geschlecht und Geld noch viel zu häufig über den gesellschaftlichen Wert eines Menschen bestimmen. Zwischen Aufschwung und Aufklärung liegen viele Hürden und Potenzial. „Indien kann ein Game-Changer sein, wenn wir die Bewegung hier herbringen.“

Einen Hoffnungsschimmer gab es am vergangenen Freitag. Zum Beginn der globalen Klimawoche gingen in Dutzenden Städten Menschen auf die Straßen. In der Hauptstadt Neu-Delhi marschierten rund 2000 junge Aktivistinnen und Aktivisten Richtung Umweltministerium. Die Demo war nicht angemeldet, Polizisten versperrten den Demonstranten den Weg. Ein voller Erfolg, sagt Shikhar, der vorne mitlief. Sie besetzten die Kreuzung

und sangen im Chor: „We are unstoppable, another world is possible.“

Europaweit streiken Schüler und Studierende für eine bessere Klimapolitik. Entsteht hier gerade eine neue Umweltbewegung? Verändern die Demonstrationen die Klimapolitik?

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