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„Wir leben in einer Welt, in der man alles alleine schaffen soll“

Stundenlang auf dem Sofa liegen und Pizza essen – ein fauler Sonntag, oder einfach nur ein Sonntag?
Foto: freepik.com

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Die To-Do-Liste ist da und sie ist lang. Man weiß, was man zu tun hat. Aber manchmal kann man sich einfach nicht dazu überwinden, die Dinge auch anzugehen. Selbst dann, wenn die Aufgaben gar nicht so schlimm sind. Was ist also los? Ist man einfach faul?

Devon Price ist Sozialpsychologe und lehrt an der Loyola University Chicago. Neben seinem aktuellen Buch „Unmasking Autism“ hat er auch das Buch „Laziness does not exist“ geschrieben, in dem er mit vielen Vorurteilen gegenüber „Faulheit“ aufzuräumen versucht. Im Interview erklärt er, was uns manchmal davon abhält, alles schnellstmöglich abzuarbeiten und warum man mit dem Wort „faul“ nicht leichtfertig umgehen sollte.

interview faulheit imtext

Devon Price findet: Wir sollten unsere Definition von Faulheit komplett überdenken.

Foto: J.E. De la Cruz

SZ Jetzt: Im Essay und gleichnamigen Buch „Laziness does not exist“ schreibst du, dass es Faulheit nicht gebe. Wenn wir nicht faul sind, obwohl wir prokrastinieren – was sind wir denn dann?

Devon Price: Wir sind Menschen, die vor dem Problem stehen, eine Aufgabe erledigen zu müssen. Es ist nicht nützlich, jemanden, der in einem Moment prokrastiniert, als einen bestimmten Typ Mensch zu definieren.

Was genau hält uns denn davon ab, einfach anzufangen?

Das kommt auf den Kontext an. Man muss sich überlegen: Was verstehen wir vielleicht nicht an der Aufgabe? Ist es das erste Mal, dass wir diese Aufgabe bewältigen? Welche Ängste sind damit verbunden? Vielleicht wissen wir nicht, wie man ein großes Ziel in kleine Mikroaufgaben aufteilt, die wir im Laufe eines Tages oder sogar einer Stunde bewältigen können. Vielleicht ist eine Person eher sozial motiviert. Dann braucht man eine andere Person, die einem das Gefühl gibt, dass das, was man tut, wichtig ist. 

Was ist der Unterschied zwischen Prokrastination und Faulheit?

Faulheit ist ein moralisches Urteil, das über Menschen gefällt wird, die mit schwierigen Umständen konfrontiert sind. Prokrastination hingegen ist spezifisch das Hinauszögern einer Aufgabe.

„Studien zeigen, dass Menschen eine Aufgabe eher hinauszögern, wenn sie ihnen sehr am Herzen liegt“

Aber Menschen, die prokrastinieren, werden häufig als faul bezeichnet.

Viele Gruppen von Menschen werden als faul bezeichnet. Menschen mit einer körperlichen oder psychischen Beeinträchtigung, Behinderung oder Krankheit werden als faul bezeichnet, wenn sie eine Aufgabe nicht bewältigen können, zu der der Körper nicht in der Lage ist. Obdachlose werden als faul bezeichnet, selbst wenn sie strukturell von jeder Möglichkeit ausgeschlossen sind, Einkommen zu verdienen. Viele marginalisierte Gruppen werden als faul abgestempelt, wenn sie staatliche Leistungen erhalten. Der Begriff „Faulheit“ wird sehr pauschal auf verschiedene Gruppen angewandt.

Also braucht unsere Gesellschaft ein anderes Verständnis von „Faulheit“?

Ja, auf jeden Fall. Und die jüngeren Generationen haben ja schon eine andere Einstellung zu „Faulheit“. Die Gen Z spricht in eher positiver Weise davon. Sicherlich tun das nicht alle von ihnen. Aber das Bewusstsein dafür scheint zu wachsen, dass es lebenswichtig ist, sich Zeit für sich selbst zu nehmen und sich auszuruhen. Ich selbst bin Millennial, und die Menschen meiner Generation und der Generationen darunter scheinen zu erkennen, dass der Mythos, harte Arbeit würde sich auszahlen, sich nicht wirklich bestätigt. Wir haben einen Punkt erreicht, an dem die Menschen sich für Ruhe und weniger Arbeit entscheiden und sich wirklich fragen: Wofür ist das Leben da? Und da kommen viele darauf, dass die Arbeit einen nicht zurückliebt und es an der Zeit ist, das Leben auf das auszurichten, was wir wirklich lohnend finden.

Prokrastinieren wir bei Aufgaben, weil sie uns egal sind?

Studien zeigen, dass Menschen eine Aufgabe eher hinauszögern, wenn sie ihnen sehr am Herzen liegt. Das ist kein Zeichen mangelnder Motivation oder mangelnden Interesses an der Aufgabe. Viele Perfektionist:innen prokastinieren. Wenn eine Person nicht weiß, wie sie eine Aufgabe beginnen soll, führt das auch häufig zu Prokrastination. Zum Beispiel eine Studentin, der nicht beigebracht wurde, wie man wissenschaftlich schreibt. Es gibt bei Prokrastination auch ein Phänomen, das Psychologen als „Stereotype-Threat“ bezeichnen. Das liegt vor, wenn ein Mitglied einer Randgruppe, die als schlecht in einer Sache gilt, aufgefordert wird, an dieser Aktivität teilzunehmen. Wenn Mädchen zum Beispiel immer wieder hören, dass Frauen schlecht in Mathe sind, wird ein Mädchen, selbst wenn es Mathe wirklich mag und gerne Mathematikerin werden möchte, sich in einer Testsituation unwohl fühlen. 

Was steckt also dahinter, wenn wir uns Aufgaben nicht stellen?

Wenn eine Person faul rüberkommt, ist sie in Wirklichkeit oft mit Hindernissen konfrontiert, die wir entweder nicht sehen, oder die wir nicht als legitim ansehen. Als Professor weiß ich zum Beispiel nicht, was im Leben meiner Student:innen vor sich geht, es sei denn, sie sagen es mir. Wenn ich sehe, dass ein Student in der Vorlesung einschläft, wäre es sehr kurzsichtig von mir zu denken, er sei faul. Vielleicht war er die ganze Nacht wach, weil er gearbeitet hat. Vielleicht ist er in einer missbräuchlichen Beziehung, in der er die ganze Nacht belästigt wird. Vielleicht musste er für einen anderen Kurs die Nacht durcharbeiten. Es gibt so viele äußere Hindernisse, die dem Erfolg im Wege stehen können. Jemanden als faul abzutun, ist die am wenigsten hilfreiche Erklärung.

Aber prokrastiniert man nicht auch manchmal, weil man nicht mag, was man tut?

Das kann durchaus ein Zeichen dafür sein, vor allem am Arbeitsplatz. Ich ermutige die Menschen wirklich dazu, auf ihr inneres Unbehagen zu hören. Man vermeidet eine Aufgabe häufig, weil man zusätzliche Unterstützung braucht. Und das kann man angehen, indem man eine Art Fahrplan für die Erledigung der Aufgabe bekommt oder jemanden, der einem einen Teil der Last abnimmt. 

„Heute soll man seinen Lebensunterhalt alleine verdienen, einen Haushalt führen, sich ernähren, Kinder großziehen“

Welche Strategien gibt es, um die Prokrastination zu überwinden?

Menschen sind motiviert, wenn sie ihre Arbeit anderen Menschen zeigen können, wenn sie von anderen Menschen durch eine Aufgabe geführt werden. Die wichtigste Strategie zur Überwindung der Prokrastination ist, sich mit Menschen zu umgeben, die einen unterstützen, die an ihren eigenen, langweiligen, zermürbenden Aufgaben arbeiten, während man zusammen ist und sich gegenseitig mit Energie versorgen kann.

Was kann ich selbst tun, um meine Barrieren zu überwinden?

Das ist, glaube ich, die falsche Frage. Wir leben in einer Welt, in der von den Menschen verlangt wird, dass sie alles allein machen, dass sie allein sehr leistungsfähig und produktiv sind. Und dieser Individualismus ist der Grund, warum so viele Menschen vor unüberwindbaren Hindernissen stehen. Es geht nicht um die persönliche Überwindung der eigenen Barrieren. Man sollte sich also fragen: Wo bekomme ich Unterstützung? Oder: Wo kann ich einsparen?

Warum fällt es uns so schwer, unsere eigenen Grenzen zu erkennen und zu akzeptieren?

Die Gesellschaft lehrt uns verschiedene Dinge, die ich in meinem Buch als „Faulheitslüge“ bezeichne. Die besteht aus drei Grundpfeilern. Der erste ist, dass dein Wert als Mensch von deiner Produktivität abhänge. Der zweite besagt, dass du deinen Bedürfnissen oder Einschränkungen nicht trauen könntest, weil sie eine Bedrohung für deine Produktivität und damit für deinen Selbstwert darstellen. Und der letzte Punkt der Faulheitslüge ist, dass es immer mehr gäbe, was du tun könntest. Wir leben in einer Welt, in der man alles alleine schaffen soll. Das war nicht immer so, sondern begann erst in der Zeit, als Menschen angefangen haben, Häuser zu bauen und Besitz anzuhäufen. Heute soll man seinen Lebensunterhalt alleine verdienen, einen Haushalt führen, sich ernähren, Kinder großziehen. Die meisten Menschen sind nicht in der Lage, dem gerecht zu werden. Und sie denken, dass das ihr Fehler ist. Aber eigentlich ist das, was von uns verlangt wird, total unvernünftig.

Wie würdest du mich nennen, wenn ich den ganzen Tag auf der Couch liege, Pizza esse und fernsehe?

Ich würde sagen, du bist eine Person, die auf der Couch liegt, Pizza isst und fernsieht. Es gibt keinen Grund, darüber ein moralisches Urteil zu fällen. Wir müssen aufhören, jede einzelne Sache, die jemand tut, moralisch zu bewerten. Also genieß die Pizza.

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