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Warum wurde Greta Thunberg zur Anführerin des Klima-Protests?

Foto: REUTERS

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Anlässlich des 30. Jubiläums von SZ Jetzt holen wir einige Texte, die uns besonders im Gedächtnis geblieben sind, noch einmal aus dem Archiv hervor. Dieser ist einer davon.

Den schönsten Moment ihres Protests erlebte Greta am zweiten Tag. Am 20. August 2018 hatte sie sich zum ersten Mal mit ihrem „Schulstreik fürs Klima“-Schild vors schwedische Parlament gesetzt – und am 21. setzte sich eine 14-jährige Schülerin dazu. Aber auch den schlimmsten Moment erlebte sie innerhalb der ersten Wochen. Als nämlich immer mehr Menschen dazukamen. „Ich konnte mit der Aufmerksamkeit nicht umgehen“, sagt Greta. Sie fing an zu weinen und verließ ihren eigenen Protest. „Aber dann dachte ich: Ich kann jetzt nicht einfach aufhören.“

Sie hat bis heute nicht aufgehört. Greta Thunberg, bei dem Treffen im Januar 2019 16 Jahre alt, streikt für eine konsequente Klimapolitik. Zu Beginn vor dem schwedischen Parlaments, seit der Corona-Pandemie im Internet. Die ersten drei Wochen ging sie gar nicht zur Schule, seitdem streikt sie jeden Freitag. Sie will das durchziehen, bis Schweden die Klimaziele des Pariser Abkommens erfüllt, also Maßnahmen für eine Begrenzung der Erderwärmung auf unter zwei Grad ergreift.

Mit ihrem Protest ist sie sehr schnell sehr bekannt geworden. Ihre blonden Zöpfe und ihr „Skolstrejk för Klimatet“-Schild sind mittlerweile beinahe ikonisch und sie hat eine weltweite Bewegung ausgelöst: Unter dem Motto #FridaysForFuture treten Kinder und Jugendliche ebenfalls in den Schulstreik, in Kanada, Südafrika, Deutschland, Nigeria, Australien und vielen Ländern mehr. Im Dezember hielt Greta eine Rede auf der UN-Klimakonferenz in Kattowitz, das Video ging viral, BBC, Washington Post und auch viele deutsche Medien berichteten. Sie warf den Delegierten vor, die Zivilisation und die Zukunft ihrer Kinder für wirtschaftliches Wachstum zu opfern, anstatt endlich zu handeln.

Greta ist natürlich nicht die einzige junge Klima-Aktivistin. Timoci Naulusala zum Beispiel hielt 2017 mit 12 Jahren ebenfalls eine Rede bei der Klimakonferenz. Felix Finkbeiner, 21, gründete mit neun Jahren die Initiative „Plant-for-the-Planet“ für Aufforstung. Kelsey Juliana, 22, reichte 2015 gemeinsam mit anderen Jugendlichen Klage gegen die US-Regierung und ihre Klimapolitik ein. Der Klimawandel ist ein Thema der Jugend, denn es geht um ihre Zukunft. Aber kein junger Aktivist hat bisher so eingeschlagen wie Greta. Warum ausgerechnet sie?  

Greta verschwindet immer wieder: in der Menge, hinter ihrem Schal oder wortwörtlich

Wenn man Gretas Schulstreik besucht, um das herauszufinden, fällt als erstes auf, dass sie nicht auffällt. Protestwoche 21, Freitag um kurz nach acht, zwei Grad und noch dunkel. Eine kleine Gruppe Unterstützer wartet schon auf dem Mynttorget, dem Platz in Stockholms Altstadt zwischen Parlament und Schloss, mit Blick aufs Wasser, herrschaftliche Gebäude und Linienbusse, die übers Kopfsteinpflaster zuckeln. Als Greta ankommt, geht sie ganz still an den anderen Demonstranten vorbei. Die meisten bemerken sie erst, als sie ihr Schild und den großen Rucksack mit Isomatte und Schlafsack neben einem Haufen Restschnee ablädt. Nach und nach gehen sie auf sie zu, beinahe vorsichtig, als könnten sie sie sonst verschrecken. Ell und Isabell, zwei 17-Jährige, sagen hallo. Greta ist freundlich, aber still.

Stockholm Streik Gruppenfoto 2

Die meisten Menschen sind um die Mittagszeit am Mynttorget.

Foto: Nadja Schlüter
Stockholm Streik ausruhen

Die Streikenden haben Isomatten und Schlafsäcke gegen die Kälte mitgebracht.

Foto: Nadja Schlüter
Stockholm Streik Mårten

Mårten ist Musiker und schon länger im Klimaschutz aktiv. Er findet es gut, dass es durch Gretas Streik jetzt einen Ort gibt, an dem er andere Aktive treffen kann.

Foto: Nadja Schlüter
Stockholm Streik Gästebuch

Jeder, der zum Mynttorget kommt, trägt sich ins Streik-Gästebuch ein.

Foto: Nadja Schlüter
Stockholm Streik Gruppenfoto

Die meisten Schüler sagen ihren Eltern und Lehrern Bescheid, wenn sie in den Streik treten – aber nicht alle.

Foto: Nadja Schlüter
Stockholm Streik Schilder

Ell, Milna, Isabelle und Morrigan (v.l.n.r.) malen ein Schild: „Willst du sterben? Na also! Dann rette das Klima!“

Foto: Nadja Schlüter
Stockholm Streik Schild Greta

Gretas Streik-Schild ist mittlerweile schon berühmt. Sie hat es immer dabei, wenn sie zum Mynttorget kommt.

Foto: Nadja Schlüter

Sie wird das auch den Rest des Tages bleiben: still. Zurückhaltend. Konkret zu ihrem Thema befragt, redet sie eloquent und ausführlich, spontan angesprochen kann sie sehr einsilbig sein. Zwischendurch verschwindet sie immer wieder. In der Menge, weil sie klein ist für ihr Alter. Hinter ihrem Schal, den sie sich bis unter die Nase schiebt. Oder auch wortwörtlich. 

„Ihr Schild ist noch da, sie kommt also gleich wieder“, sagt Ell, während sie mit dem Streik-Gästebuch rumgeht. Jeden Freitag ist jemand anders dafür zuständig, dass sich alle eintragen, die mitmachen. Am Ende des Tages werden 143 Namen im Buch stehen. Manche schauen nur kurz vorbei, andere bleiben den ganzen Tag. „Das ist ein demokratischer Ort, an den jeder kommen kann“, sagt David, ein Theaterpädagoge.

Das ist einer der Gründe, warum Gretas Protest so gut funktioniert: Sie gibt den Menschen einen konkreten Ort und eine Zeit. Mårten, ein Musiker mit „We stand with you!“-Schild und Mütze mit Ohrenklappen, sagt, dass es bisher schwierig gewesen sei, andere Klimaaktivisten zu treffen, dabei seien „gute Beziehungen das Wichtigste beim Aktivismus“. Die Menschen, die  einen solchen Ort anscheinend gesucht haben, sind ganz verschieden: Schülerinnen und Schüler. Männer und Frauen mit Schildern, auf denen #FathersforFuture, #PsychologistforFuture oder #WritersforFuture steht. Ein Hochschulprofessor. Eine Bahn-Mitarbeiterin. Eine Aktivistin, die sich gegen den Ausbau des Stockholmer Flughafens einsetzt. Mütter mit Babys. Eine junge Russin, die gerade Erasmus+ in Schweden macht. Zwei junge Frauen von der Initiative „Sisters of Europe“, die Frauen in Europa vernetzen will. 

„Ich sehe mich selbst nicht als Anführerin, sondern nur als Aktivistin, die anderen eine Protestform zeigt“

Mårten sagt auch: „Greta hat mich beeindruckt und inspiriert.“ „Inspirierend“, das Wort benutzen viele, die Greta auf Twitter unterstützen, und auch viele hier am Mynttorget. „Klar ist das toll“, sagt sie. „Aber ich sehe mich selbst nicht als Anführerin, sondern nur als Aktivistin, die anderen eine Protestform zeigt.“ Das könnte Koketterie sein. Wenn man Greta anschaut, während sie das sagt, ihr immerzu ernstes Gesicht, wirkt es allerdings überhaupt nicht kokett. Sondern wie eine Tatsache.

Aber der Protest lässt sich nicht von ihrer Person trennen, sie steht in seinem Zentrum. Auf der einen Seite wird sie weltweit bejubelt. Auf der anderen beschimpfen sie sogenannte Klimaskeptiker oder behaupten Kritiker, hier werde ein Kind instrumentalisiert, um Erwachsene emotional zu erpressen. Ist da was dran? 

„Ich glaube, wenn sie 30 Jahre alt wäre, wäre sie unbekannt“, sagt der Soziologe und Protestforscher Dieter Rucht. Heißt: Ihre Jugend steigert ihre Popularität. Und macht sie zu einem  Anknüpfungspunkt für Schüler: „Ein sehr junger Mensch, dem man oft die Politikfähigkeit noch abspricht, äußert sich politisch. Das findet Anklang bei ähnlich gelagerten jungen Menschen, die sagen: Wenn sie anfängt, klinke ich mich auch ein!“, sagt Rucht.

Der Punkt mit der „Politikfähigkeit“ ist wichtig. Denn junge Menschen stecken oft in einem Teufelskreis: Man traut ihnen keine politische Meinung zu, also werden sie nicht politisch aktiv, also traut man ihnen nichts zu. Und selbst, wenn sie daraus ausbrechen und doch aktiv werden, traut man es ihnen immer noch nicht zu – und behauptet, das könne doch nur von Erwachsenen erdacht und dem Kind eingeflüstert worden sein. Daraus entsteht eine Meta-Diskussion, die vom Thema wegführt und in der es nur noch darum geht, wer hier angeblich welche persönlichen Interessen verfolgt und wen damit unterbuttern will. 

Statt sich in die Diskussion einzumischen, macht Greta vor, wie es anders geht: Sie spricht nur, wenn sie wirklich etwas zu sagen hat. Darum ist sie oft einsilbig. Darum hält sie gerne Reden, kurz, fokussiert und faktisch. Ansonsten geht es ihr darum, aktiv zu sein. „Meine Erfahrung bei der Klimakonferenz in Kattowitz war, dass dort sehr viel geredet wurde, aber nichts getan“, sagt sie. „Wir müssen die Mächtigen unter Druck setzen, denn wenn wir das nicht tun, können sie das Problem einfach weiter ignorieren.“ Und mit ihrem Aktivismus hat sie genau das erreicht, was Rucht gesagt hat: andere junge Menschen ziehen mit. Auf Twitter sieht man ja, wo sie jetzt überall streiken. Auch viele Schüler am Mynttorget sagen, dass sie sich längst hatten engagieren wollen, aber nicht wussten, wie. Dass es gut sei, dass Greta angefangen habe. „Ich finde sie sehr mutig“, sagt der 14-jährige Patrick. Milna, Edit und Morrigan, die heute auch hier sind, haben sich Greta sehr schnell angeschlossen und mit ihr gemeinsam den Freitags-Streik ins Leben gerufen.

Der Vater erzählt eine Geschichte, in der Greta ihre Eltern erzogen hat – und sich selbst gerettet

Gegen 11:30 Uhr kommt Svante Thunberg vorbei und bringt seiner Tochter etwas zu essen, Reis mit Kirchererbsen, vegan. Er und seine Frau haben immer wieder betont, dass sie es nicht gutheißen, dass ihre Tochter die Schule schwänzt. Aber sie akzeptieren ihren Willen, so wie auch Gretas Lehrer. Thunberg, Schauspieler und Musikproduzent, langhaarig und gut gelaunt, steht als Gretas Erzieher natürlich als Erster unter Verdacht, wenn Instrumentalisierung oder Infiltrierung unterstellt wird. Er erzählt dann aber eine Geschichte, in der Greta eher ihre Eltern erzogen hat. Und sich selbst gerettet. 

In der Kurzfassung geht diese Geschichte so: In der Grundschule hat Greta zum ersten Mal vom Klimawandel gehört und angefangen, daheim immer das Licht auszuschalten. Mit 11 hörte sie fast ganz auf zu sprechen und zu essen, sie wurde depressiv. Man könnte sagen: Die Menschheit machte sie fertig. Dass alle vom Klimawandel wussten, aber niemand etwas dagegen unternahm. Dass alle, ihre Eltern eingeschlossen, ihren verschwenderischen Lebensstil beibehielten. Dazu muss man wissen: Greta hat das Asperger-Syndrom, eine Form von Autismus. Ein solches Spezialinteresse ist dabei nichts Ungewöhnliches. „Das war die Phase, in der sie die ganze Familie verändert hat“, sagt Thunberg. Als erstes beschloss seine Frau, eine bekannte Opernsängerin, nicht mehr zu fliegen. Heute ernähren sich alle Thunbergs vegan und fahren nur noch mit dem Elektroauto. „Das ist alles ihre Schuld“, sagt Thunberg liebevoll und deutet auf seine Tochter. „Ich bin jetzt 49 Jahre alt – und 45 Jahre lang war mein Leben ein Fehler.“ 

Als die Schüler aus Parkland nach dem Amoklauf an ihrer Highschool im Februar 2018 einen Schulstreik für strengere Waffengesetze starteten, sagte ein Bekannter: Was wäre, wenn Kinder das fürs Klima machen würden? Greta gefiel die Idee. Ihre Eltern waren wenig begeistert, aber sie blieb stur. „Wir haben nicht mal damit gerechnet, dass sie den ersten Tag durchstehen würde“, sagt ihr Vater. Aber Greta stand durch. Und machte weiter. 

Svante Thunberg findet das bis heute unglaublich. „Es ist, als ob sie sich selbst geheilt hätte. Sie hat sich eine Aufgabe und ihrem Leben einen Sinn gegeben und dadurch sind fast alle ihre Probleme verschwunden.“ Das sei für ihn und seine Frau das Wichtigste. Als Greta nach drei Wochen Schulstreik bei einer Demo ihre erste Rede halten sollte, hatte ihr Vater Angst, sie könnte vor allen Menschen zu weinen anfangen. Als sie aufgerufen wurde, stand sie auf und hielt ihre Rede. Sie weinte nicht. Ihr Vater schon.

Sich verstellen oder diplomatisch sein, um jemandem zu gefallen, das können Menschen mit Asperger-Syndrom nicht gut. Unter anderem darum ist Greta so authentisch. Sie sieht ihren Autismus aber ohnehin eher als Vorteil. „Ich sehe die Welt anders: schwarz und weiß“, sagt sie. „Alle sagen, dass es nichts gibt, was eindeutig schwarz oder weiß ist. Dabei ist die Klimakrise genau das: Entweder, wir bleiben unter der Erwärmung von 1,5 oder zwei Grad – oder nicht. Es gibt keine grauen Bereiche, wenn es ums Überleben geht.“

Die Welt kann jemanden wie sie gut gebrauchen: einen Menschen, der nicht Fake ist und keine Eigeninteressen verfolgt

Vielleicht ist Greta so berühmt geworden, weil die Welt mit all ihren Problemen jemanden wie sie gerade wirklich gut gebrauchen kann. Einen Menschen, der so wenig Fake ist, der nicht nur Eigeninteressen verfolgt, der sich nicht von Berühmtheit und Viralität mitreißen lässt. Es ist Greta egal, ob sie beliebt ist, das hat sie auch in ihrer UN-Rede gesagt. Es geht ihr nur darum, dass sich etwas ändern muss, damit es noch eine Zukunft gibt.

Mårten, der Musiker, sagt über sie: „Sie hat mein Herz berührt.“ Kitschig, klar. Aber Greta hat wirklich etwas Anrührendes an sich. Gerade, weil sie nicht das strahlende, gut gelaunte, quirlige Mädchen ist. Sondern dieses ernste, besorgte, von den Erwachsenen tief enttäuschte Kind, das sagt: Ihr wisst seit 25 Jahren, dass wir so nicht weitermachen können. Aber ihr ändert einfach nichts.

Um kurz nach 14 Uhr telefoniert Greta vom Mynttorget aus mit Schülern in der Schweiz, deren Vorbild sie ist. Damit kann sie mittlerweile umgehen. „Ich stehe nicht gerne im Mittelpunkt“, sagt sie. „Aber das ist eine der Sachen, die man akzeptieren muss, wenn man in dieser Position ist. Das ist es wert.“ Ist sie denn gar nicht stolz? „Kann ich so nicht sagen“, sagt Greta. „Ich empfinde das hier als Pflicht. Es gibt keine andere Option.“ 

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