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Wir sollten aufhören, „Natürlichkeit“ über alles zu stellen
Spätnachts, in einer Großstadt-WG. Am Küchentisch sitzt ein betrunkenes, redseliges Häufchen und erklärt sich gegenseitig die Welt. Wahrscheinlich geht es um Liebe, Sex und Zärtlichkeit. Offene Beziehungen zum Beispiel – gut oder schlecht? Und dann kommt irgendwann dieser Satz: „Naja, also früher gab es ja gar keine Monogamie, der Mensch ist gar nicht gemacht dafür, das ist eigentlich gar nicht natürlich!“ Und während diese Worte geäußert werden, erhebt sich ein leichter Wind, wirbelt Herbstblätter durch den Raum, fährt durch das Haar des*der Sprechenden, der*die den Blick verklärt in die Ferne richtet, wo eine wilde Panflöte erklingt. Die Natur ist auf seiner*ihrer Seite. Das Ursprüngliche, das Unverfälschte. Das Wahre.
Damit sei übrigens nichts für oder gegen Monogamie gesagt – die lässt sich in diesem Satz genauso gut ersetzen durch Polyamorie.
Man argumentiert mit Natürlichkeit nicht nur für eine Sache, sondern tut auch was für sein Selbstbild
Interessanter als das Was ist nämlich manchmal das Wie. Und da kommt eben dieses flotte Wörtchen „natürlich“ ins Spiel: Es ist zurzeit (wieder) sehr schick, von so etwas wie einem natürlichen Zustand des Menschen auszugehen. Das heißt, ein Zustand, der seiner Natur entspricht, für den er vorgesehen ist. Von dem er aber heimtückisch fortgelockt wurde, zuletzt durch diese ganze garstige, spätkapitalistische Massenkultur mit ihrer endlosen Parade aus Produkten, ihren seelenlosen Callcenter-Jobs, ihren Anti-Aging-Cremes, ihren Dating-Apps und ihren vorgeschälten, dafür doppelt in Plastik verpackten Bananen (Absurd! Kopfschüttel! So weit ist es schon!). Und um sich diesem unnatürlichen Leben zu widersetzen und dem natürlichen Leben wieder anzunähern, sprießen überall subversive Praktiken – die nicht nur einen vollständigeren Menschen aus einem machen können, sondern auch tiptop Gesprächsthemen hergeben:
Beim „No Poo“-Trend (wie in „No Shampoo“) wird zum Beispiel vermieden, seine Haare mit modernen Shampoos und ähnlichen Produkten zu waschen und beim „Free Bleeding“ wird menstruiert, ohne den Blutfluss durch Menstruationsprodukte aufzuhalten. Anhänger der Paleo-Diät verzichten auf Lebensmittel, die es zur Zeit der Jäger*innen und Sammler*innen noch nicht gab, während manche Veganer*innen argumentieren, dass unser Gebiss für eine rein pflanzliche Ernährung geschaffen sei. Andere richten ihren Schlaf-Wach-Rhythmus am Lauf der Sonne aus. Wieder andere schwören auf eine hockende Haltung beim Stuhlgang für eine natürlichere Entleerung. Apropos Entleerung: Die Freebirth-Community hält es für falsch, eine Hebamme oder Ärzt*in bei der Geburt dabei zu haben und den eigenen Mutterkuchen sollen einige Menschen auch schon gegessen haben (Kim Kardashian zum Beispiel). Dann wäre da noch Chemonoia (die Ablehnung von allem „Chemischem“), das Eye Contact Experiment (minutenlanges einander in die Augen schauen gegen die soziale Entfremdung der Informationsgesellschaft), Digital Detox und alle möglichen autarken Wohnprojekte in Brandenburg. Aber auch Back-to-the-Roots-Basics wie alle Haare wachsen lassen, keine BHs tragen, Oliven- statt Sonnenöl, Schlämmkreide statt Zahnpasta oder Barfuß laufen.
Bitte was?! Werden hier Barfuß laufen und der Verzicht auf Tampons mit irgendwelchen Verschwörungs-Knilchen gleichgesetzt?! Nicht doch. Die meisten dieser Trends sind eigentlich ziemlich interessant oder zumindest mehr oder weniger harmlos (außer Freebirth, erhöhtes Todesrisiko). Was sie aber gemeinsam haben, ist dieses Argument der Natürlichkeit. Und das ist einfach Quark mit Soße.
Naürlich/unnatürlich impliziert immer auch eine Bewertung: gut/schlecht, falsch/richtig
Denn alles, was existiert, ist immer auch natürlich. Auch der moderne Mensch mitsamt seiner Kaiserschnitte, Dating Apps und „Frühlingsregen“-Shampoos. Denn er konnte wegen seines (natürlich evolutionär entstandenen) großen Hirns und seines Optimierungszwangs ja kaum anders, als sich all dieses Zeugs auszudenken. Oder zu welchem Zeitpunkt wären wir von natürlichem zu unnatürlichem Verhalten übergegangen? Was soll das überhaupt sein, natürlich? Sicher, Dating Apps und „Frühlingsregen“-Shampoos muss man nicht mögen. Aber es ist albern, zu glauben, sie seien nicht von der Natur vorgesehen – denn es gibt sie ja, sie sind ein Teil von ihr und nicht von heute auf morgen durch irgendein Dimensionsloch aus einer krankhaften, unnatürlichen Welt in unsere gefallen. Oder wie?
Aber der eigentliche Beigeschmack der vermeintlichen Natürlichkeit steckt woanders. Und zwar darin, dass sie – so gutmütig lächelnd sie auch daherkommt auf ihren Insta-Bildern von Stretching bei Sonnenaufgang und der Ernte von fast vergessenen Apfelsorten – eben immer auch den Gegensatz natürlich/unnatürlich und damit eine Bewertung impliziert: ein Gut und ein Schlecht, ein Falsch und ein Richtig. Es gibt da eine falsche Art, wie die Dinge sind und eine richtige Art, wie sie sein sollten. Die natürliche Art eben. Und wenn man das erst einmal begriffen hat, lässt sich die Welt bequem in zwei Kategorien einteilen.
Dieser appeal to nature, also die Berufung auf die Natur, ist ein klassisches rhetorisches Mittel, mit dem die Richtigkeit einer Sache bewiesen werden soll, indem ihre Natürlichkeit behauptet wird. Unter Rhetorik-Nerds gilt der appeal to nature aber als irrelevant. Das liegt daran, dass er schlichtweg faul ist (natürlich ist eben gut, weil unnatürlich schlecht ist und umgekehrt) und vor allem: völlig subjektiv. Die sogenannte Anarcho-Primitivism-Bewegung zum Beispiel fordert eine Rückkehr zu einem natürlichen Zustand des Menschen inklusive Jagen und Sammeln, Abkehr von Hierarchien und Technologie. Sie geht davon aus, dass menschliche Gesellschaften in der Steinzeit deutlich mehr soziale und Geschlechtergerechtigkeit hatten, gesünder und überhaupt glücklicher lebten mit befriedigender Handarbeit und viel Freizeit. Gleichzeitig fordert die religiöse Rechte, dass Homosexualität als unnatürlich betrachtet werde und befürwortet die Kernfamilie und das kapitalistische Streben des Einzelnen nach Glück als natürlich und gottgewollt.
Vielleicht kehrt durch diese Natürlichkeits-Inflation ein bisschen Entspannung ein
Jede*r kann sich also aus „natürlich“ seinen ganz persönlichen, kleinen, sauberen Wohlfühlort basteln. Und man muss dafür keinem radikalen Verein angehören. „Natürlich“ ist sehr alltagstauglich: „Es ist ja eigentlich gar nicht natürlich, dass man acht Stunden am Tag arbeitet.“ „Es ist viel natürlicher, mit Honig zu süßen als mit Industriezucker.“ „Ich find ja diese ständige Erreichbarkeit heutzutage total unnatürlich.“ Wenn man genauso gut sagen könnte: „Ich find ja diese ständige Erreichbarkeit eher kacke. Vielleicht ist es mit weniger besser.“
Aber man argumentiert mit Natürlichkeit eben nicht nur für eine Sache, sondern tut auch was für sein Selbstbild. Man impliziert für einen kurzen Moment – bewusst oder unbewusst – durch dieses Wissen zu einem gewissen Grad auch, dass man ja eigentlich selbst auch zum Reich der Natürlichkeit gehört, aber halt durch einen unglücklichen Zufall in dieser verrückten, herzlosen Welt lebt.
Ironischerweise hat die Wirtschaft das Potential dieses Wortes längst erkannt und bewirbt alles und jeden damit. Nicht nur streng heterosexuelle Monogamie und Kaka im Hocken, sondern eben auch die Zutaten für Fertig-Bolognese-Pulver sind „100% natürlich“. Aber vielleicht kehrt durch diese Natürlichkeits-Inflation ja auf Dauer ein bisschen Entspannung ein und wir hören auf, sie so aufzuladen. Denn Natürlichkeit ist letztlich nichts, was unabhängig von uns existiert. Sie ist eine Erfindung des Menschen.
Und das heißt nicht, dass man nicht unterscheiden sollte zwischen Kategorien wie menschengemacht und nicht-menschengemacht, gesund und ungesund oder komplex und simpel. Nur, dass man dafür nicht von einem phantastisch-blütenreinen Urzustand des Menschen und der Welt ausgehen muss. Man kann auch einfach ganz unaufgeregt per trial and error testen, was funktioniert, und dann entscheiden, wie man leben will. Mal schauen, ob das hinhaut mit Polyamorie und Schlämmkreide. Wenn nicht, dann halt was anderes.