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Darum nehmen wir die Debatte um Upload-Filter so persönlich

Illustration: Federico Delfrati

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Eigentlich ist in Deutschland momentan Freitag Streiktag. Dann gehen Tausende Schüler und Studenten demonstrieren, es geht um alles: Ums Klima, die Zukunft, ums Überleben. Heute aber ist Samstag. Heute wird auch demonstriert. Es geht um den ominösen Artikel 13, um Upload-Filter, um Memes. Klingt nicht gerade heroisch. Und trotzdem werden auch zu diesen Demonstrationen in über 40 deutschen Städten Tausende Menschen kommen. Warum?

Wenn es um das Internet geht, verstehen die Leute wenig Spaß. Das schlimmste am Umzug ist heutzutage nicht mehr das Kistenschleppen und tagelange Renovieren, sondern die Zeitperiode, in der man darauf wartet, dass das Wlan endlich angeschlossen wird. Man bekommt selten mehr kollegiales Mitleid, als wenn das High-Speed-Datenvolumen auf dem Handy verbraucht ist. Und auch auf der gesellschaftlichen Ebene ist das zu beobachten: Bereits 2018, vor der neuen EU-Datenschutzgrundverordnung (DSGVO), hatte man im Netz das Gefühl, die Welt gehe unter. Wir kämpfen so für das Internet, weil es ein Teil von uns ist. Quasi unser dritter Arm mit Superfähigkeiten. Wenn es jemand kaputt macht, fühlt es sich ein bisschen so an, als hacke uns jemand einen Arm ab.

Auch jetzt, vor der eventuell eintretenden Urheberrechtsreform, sind die Gemüter dementsprechend bewegt. Bei der Reform geht es unter anderem darum, dass Plattformen für Urheberrechtsverletzungen bei auf ihnen hochgeladenen Inhalten verantwortlich gemacht werden können. Viele befürchten deshalb den Einsatz sogenannter „Upload-Filter“, die das Material automatisch auf derartige Verletzungen scannen. Für manche steht damit das gesamte Internet auf dem Spiel. Wortwörtlich. Unter dem Motto „Savetheinternet“ sammeln sich europaweit die Gegner des Reformvorhabens der EU. Und das sind eine ganze Menge: Auf der weltweit größten Kampagnenplattform change.org hat die Bewegung eine Online-Petition gestartet, das Ziel: sechs Millionen Unterschriften. Mehr als fünf Millionen haben bereits unterschrieben. Es ist damit nach Angaben der Organisation auf ihrer Facebook-Seite die erfolgreichste Online-Petition auf der Plattform aller Zeiten. 

Ein Hashtag, unter dem die Kampagne weiterverbreitet wird, ist neben #savetheinternet auch #fckart13. Fuck Artikel 13. Eine sehr wütende Ansage, die man bei einem abstrakt erscheinendem Thema wie Upload-Filtern nicht erwartet hätte. Vor allem Kreative wie Youtuber sind in ihrer direkten Arbeit bedroht. Aber hinter den Protesten steht eben nicht nur die Sorge um die Erhaltung von Wikipedia, Reddit und Youtube. Wir empfinden die geplanten Veränderungen als persönlichen Angriff auf uns selbst, unsere Lebensweise und den Zeitgeist.

Tatsächlich fühlt man sich ohne Internet, als müsste man eine Rolltreppe in entgegengesetzter Richtung nach oben laufen

Stephan G. Humer beschäftigt sich als Internetsoziologe schon seit den Neunzigern mit den Wechselwirkungen zwischen Internet und Gesellschaft. Das Gefühl, dass einem das Internet weggenommen wird, kann „als Verlust der eigenen Handlungsspielräume und Verlust der eigenen Identität“ wahrgenommen werden, meint er. Natürlich würden wir uns auch um unsere Online-Kultur, um antrainierte Handlungsabläufe, die dann vielleicht nicht mehr greifen oder um abrufbares Wissen sorgen. Gleichzeitig sei der Verlust des Internets aber tatsächlich auch etwas extrem Persönliches.

Tatsächlich fühlt man sich ohne Internet, als müsste man eine Rolltreppe in entgegengesetzter Richtung nach oben laufen. Es ist so, so anstrengend. Das Internet macht uns schneller, schlauer und verknüpfter mit unserer Umwelt – und zwar in einem Maße, dass man schon beinahe von „Body Enhancement“, also einer Verbesserung unseres Körpers, sprechen kann. Klar, wir sind keine Cyborgs, sind nicht in einem medizinischen Sinne modifiziert. Aber das Netz ist zu einer Verlängerung unseres Selbst geworden. Und wenn man darüber nachdenkt, ist die Veränderung, die der Mensch durch die Digitalisierung und das Internet erfahren hat, vielleicht sogar größer, als wenn man sich einen dritten Arm anschrauben hätte lassen.  

Ob die EU-Urheberrechtsreform tatsächlich eintritt und was das tatsächlich für das Wesen des Internets bedeuten würde, lässt sich zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht sagen. Die Intensität, mit der sich gerade die jungen Menschen mit dem Thema auseinandersetzen, die hohe emotionale Komponente in dieser technischen Debatte, ist jedoch Fakt. „Das Digitale betrifft den Menschen inzwischen tief, es ist in uns verankert“ sagt Humer. Wir sind vielleicht noch nicht bei einem echten Transhumanismus, also der Erweiterung unserer menschlichen Fähigkeiten durch Technik, angekommen – aber wir sind den Weg dorthin schon weiter gegangen, als es im Bewusstsein vieler Menschen ist.

Humer meint deshalb, man muss das ganze Urheberrecht neu überdenken, es sei in dieser Form überkommen. „Es fehlt mir europaweit, dass die Politiker erkennen, dass sich durch die Digitalisierung alles radikal geändert hat“. Man müsse mutiger sein, Europa sei eh schon weit abgeschlagen im globalen Kontext. Dazu müssen Politiker aber erst eines verstehen: Die Ängste, die die Menschen um das Internet haben, müssen ernst genommen werden. Denn das Internet ist schon lange nicht mehr der Parallel-Spielplatz unserer Realität. Es ist ein Teil davon. Und unseren Arm würden wir ja auch nicht einfach kampflos hergeben.

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