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Wie Bücherregale plötzlich zu Statussymbolen werden

Ilustration: Daniela Rudolf-Lübke / Fotos: Unsplash

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Im Videochat mit sieben Kolleg*innen bekomme ich sieben Bücherregale zu sehen. Manche sind prächtiger als ich den Besitzer*innen zugetraut hätte, eines bedeckt sogar eine ganze lange Wand. Ich versuche darin einige Titel zu lesen, sie sind zu weit weg – aber ich sehe auch so, dass in der obersten Reihe Enzyklopädien und große, schwere Sachbücher voll des Wissens aufgereiht sind. Darunter stapeln sich gelbe Reclam-Bücher, Klassiker eben. Der Kollege, so denke ich ehrfurchtsvoll, hat all das bestimmt auch wirklich gelesen. 

Mich wurmt, was meine Kolleg*innen in meinem eigenen Hintergrund jetzt sehen. Denn das Regal hinter mir sieht man nur im Ausschnitt – und darin steht gerade tatsächlich kein einziges gutes Buch. Kein Lyrikband aus dem 20. Jahrhundert, kein philosophisches Machwerk oder politisches Manifest. Nur Notizbücher und Malblöcke im einen Fach, nur die Rücken einiger Bilderrahmen im anderen Fach. Ich ärgere mich, dass all die Bücher, die ich gesammelt und gelesen habe, heute zum Großteil im Haus meiner Mutter lagern – und mir jetzt und hier in meinem Ansehen leider überhaupt nicht helfen können. Was wohl meine Kolleg*innen über mich denken? 

Vor einigen Wochen hat man auf der Arbeit noch schicke Kleidung getragen oder ist mit dem hübschen Rennrad dorthin gefahren. Das waren unsere Statussymbole. Heute zählt all das nichts mehr. Denn während der Krise hängen wir in Jogginghose und ohne BH Zuhause rum. Und selbst, wenn das Rennrad noch zum Einsatz kommt: Es interessiert niemanden mehr. Stattdessen erwischen unsere Freund*innen und Kolleg*innen uns nur noch im Videochat und das am privatesten Ort: unserem Zuhause. Und wie das ausgestattet ist, wird nun erst richtig wichtig.

Um Individualität geht es zu Zeiten der Krise kaum mehr

Denn trotz „Social Distancing“ hören das soziale Leben und damit auch das Konkurrenzdenken ja nicht einfach auf, sie verlagern sich nur großteils von der echten in die digitale Welt, von draußen nach drinnen. Wer sich im Büro, im Restaurant oder auf Veranstaltungen vorher durch besonders schicke Hosen, teure Uhren und das neueste Handy wichtig machen konnte, hat jetzt weniger Spielraum. Schicke Hosen und teure Uhren wären im Homeoffice ja eher überflüssig, das Handy wird man kaum zum Prahlen beim Chat mit Bekannten in die Laptop-Kamera halten. In fast allen Fällen muss deshalb wohl das Bücherregal ran.

Der Impuls, das Bücherregal herzeigen zu wollen, ist vermutlich für jede*n logisch nachzuvollziehen: Darin herrscht meistens einigermaßen Ordnung – und Bücher stehen für Intellekt und Bildung. Besonders dann, wenn man außergewöhnlich viele (und gute) davon hat. Zudem zeigen sie: Wenn dieser Call zu Ende ist, wird der*die Besitzer*in keine Schwierigkeiten haben, Beschäftigung zu finden. Kühlschränke, Kleiderstangen und weiße Wände sehen dagegen nicht besonders beeindruckend aus.

Trotzdem hat sich mein Wunsch nach einem pompösen Bücherregal zum Vorzeigen inzwischen schon wieder beruhigt. Denn seit alle das machen, ist auch das als Statussymbol nicht mehr besonders individuell und/oder spannend.  

Um Individualität geht es zu Zeiten der Krise aber sowieso kaum mehr. Gerade wird ja die Gemeinschaft betont, die Solidarität – dass wir da jetzt alle durch und deshalb auf vieles verzichten müssen. In diesen Zeiten wäre übertriebener Schnickschnack schlicht unsympathisch. Das führt dazu, dass sich inzwischen auch Dinge zu Statussymbolen entwickelt haben, von denen wir es nie geglaubt hätten: 

Was maximal nützlich ist, ist maximal vorzeigbar

Auf Instagram sahen wir in letzter Zeit jede Menge Klopapier – halb als Running Gag, halb als echte Angeberei. Oder selbstgebastelte Mundschutze, die nebenbei die eigene kreative und moralische Überlegenheit vermitteln. Beneidet wird zudem grundsätzlich, wer einen Balkon, einen Garten oder sogar den Wald vor der Tür hat. Zu horrenden Mietpreisen zentral in der Stadt zu wohnen, hilft einem angesichts geschlossener Geschäfte, Bars und Restaurants gerade denkbar wenig. Genau wie eine Bahncard 100 übrigens – jetzt sehnen sich vermutlich auch einige Umweltfreund*innen nach einem Auto, zumindest auf Zeit. Ob das nun aber ein Porsche oder ein kleiner Fiat ist, ist egal. Spritztouren zum Angeben sind ja sowieso verboten, Hauptsache, das Auto bringt einen ins Grüne oder zum Einkaufen. 

Viele der Statussymbole zu Zeiten der Pandemie sind daher zwar langweiliger, aber auch bodenständiger als die, die wir vorher kannten. Diejenigen, die wissen, wie man es sich Zuhause schön macht, sind die Gewinner*innen der Neuzeit. Früher machten wir uns lustig über „Prepper“. Jetzt zeigen wir uns selbst dankbar für vermeintliche „Basics“ wie Nudeln, Mehl – oder funktionierendes Internet. Denn es zählt gerade nicht mehr, welche schönen, kostbaren Dinge man besitzt. Sondern wie gut man für das Leben in sozialer Quarantäne ausgestattet ist, mit Fluchtmöglichkeiten, Essen, Hygienemitteln – und zum Zeitvertreib eben auch mit Büchern. Was maximal nützlich ist, ist maximal vorzeigbar.

Etwas Positives hat der Wandel dabei: Er zeigt, dass viele Statussymbole von früher keinen echten Wert hatten, dass sie konstruiert waren und in Krisenzeiten unwichtig werden. Und vielleicht lernen wir daraus ja endlich, was unsere Mütter und Großväter uns schon immer vorgebetet haben: Dass wir immer selbst bestimmen können, was wirklich wichtig ist.

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