- • Startseite
- • Meine Theorie
-
•
Der Regenspaziergang ist der beste Spaziergang
Sobald es anfängt zu regnen, ist nichts mehr so wie vorher. Gut organisierte Menschen kramen blitzschnell Schirme aus ihren Taschen, andere halten sich Jacken oder Zeitungen über den Kopf. Alle rennen und flüchten dorthin, wo es trocken ist. Ein ganz klein wenig kann man sich so den Weltuntergang vorstellen. Der Regen hat die Menschen vom Asphalt nach drinnen gespült. Denn wenn der Mensch eins nicht mag, dann ist es, außerhalb von Freibad und Badewanne unfreiwillig nass zu werden.
Ich liebe es, zu diesem Zeitpunkt in einem Hauseingang zu stehen, mit Vorfreude im Bauch, und zu warten, bis die Panik vorbei ist. Mein Lieblingsspazierzustand ist nämlich: Regen. Nach ein paar Minuten spanne ich meinen Schirm über den Kopf und laufe durch die nassen Straßen. Es plitscht, es platscht, bei jedem Schritt.
Regen ist ein Mini-Ausnahmezustand. Kurz hält alles still. Keiner bewegt sich mehr. Ich mag es gern, dann den Bordstein entlang zu spazieren und die Welt zu sehen, wenn sie wie eingefroren vor mir liegt. Die Stille ist so anders als das, was vorher da war – die Unruhe, die Hektik, die Einkaufstüten und das Wuseln.
Der nasse Asphalt zwingt mich dazu, mich zu konzentrieren. Normalerweise gehe ich so wie alle Menschen: den Kopf immer wieder aufs Smartphone gerichtet, die Gedanken voll mit Dingen, die irgendwo in der Zukunft liegen. Jetzt aber muss ich viel mehr auf das achten, was gerade um mich herum ist. Nicht ausrutschen, meine Beine um die großen Pfützen navigieren, in die kleinen mit der Sohle tippen. Ein Spiel, das jetzt noch genau so viel Spaß macht, wie früher als Kind.
Nicht falsch verstehen: Regen kann natürlich auch extrem nerven. Auf dem Weg zur Arbeit zum Beispiel, wenn man versucht, auf dem Rad tiefseetiefe Pfützen zu umschiffen, oder wenn man mit viel Gepäck zum Bahnhof hetzt, während einem dicke Tropfen ins Gesicht klatschen. Das sind sicher nicht die Momente, in denen man Singing-in-the-Rain-pfeifend durch die Straßen schlendert.
Der Sommer hat kurz Pause
Aber wer gerade keinen Stress hat und zu Fuß unterwegs ist, ein paar Minuten Zeit und einen Schirm dabei hat, kann sich im ungeliebten Regen einen sehr schönen Alltagsmoment erobern. Denn die Welt geht im Schauer nicht unter. Im Gegenteil: Man kann sich in ihr selten so gut treiben lassen.
Unter dem Schirm hervor schaue ich wie mit einem Teleskop auf das, was vor mir liegt. Von allem bekomme ich nur Details zu sehen. Ausschnitte der Welt. Ein Stück Fahrrad neben einem Stück Fuß, etwas Häuserwand, ein leerer Park, ein hell erleuchteter Eisladen. Der Sommer hat kurz Pause. Alles riecht anders, sieht anders aus, wirkt fremd und ein bisschen aufregend. Noch schöner wird ein Regenspaziergang nur dann noch, wenn man nach ein paar einsamen Runden in der Kälte irgendwo ankommt, wo es warm ist, sich Menschen sammeln und es Kaffee gibt.
Und dann irgendwann der Moment kommt, wenn der Strom wieder zu zarten Tropfen wird. Das letzte Wasser von den Geranien, den Fahrradsätteln und Jalousien perlt. Alles nass, alles frisch. Die Organisierten schütteln ihre Schirme auf, die anderen lassen die Zeitung im Mülleimer verschwinden. Bis der nächste Regenschauer wieder auf die Pause-Taste drückt.
Dieser Text wurde zum ersten Mal am 29. August 2016 veröffentlicht und zum Regenwetter am 6. Juni 2020 recycelt.