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Plädoyer gegen den Sportzwang
Ich habe Sport noch nie so richtig verstanden. Mir fallen tausend Aktivitäten ein, denen ich lieber nachgehe. Viele beinhalten moderate Bewegungen als Nebeneffekt. Bewegung braucht der Mensch, das leuchtet mir ein. Übermäßiges Rumsitzen macht fett, schlechte Haut, Rückenschmerzen und Depressionen. Aber deshalb echten Sport betreiben? Finde ich nicht nur langweilig, sondern regelrecht beknackt.
Schon in der Grundschule ging es mir so. Dort soll man in einer Turnhalle völlig ernsthaft über Böcke springen, auf Matten abrollen, im Kreis laufen, die Arme kreisen lassen. Was soll das? Welcher Ernstfall wird hier geprobt? Genauso denaturiert natürlich: Sport im Fitnesstudio. Schweißgebadet nirgendwohin rennen? Auf einem Spinning-Rad imaginäre Steigungen auf und ab radeln? Wie deprimierend!
Aber Sport ist derzeit so angesagt wie nie zuvor. Im Internet gibt es einen regelrechten Kult um den perfekt trainierten Körper. Wer ihn will, muss arbeiten und leiden #workhard #fightforyourgoals #fitnessgoals. Menschen treffen sich über Apps wie „Freeletics“, um gemeinsam im öffentlichen Park Liegestütze zu machen. Der Körperkult des 20. und 21. Jahrhunderts wird von Soziologen immer wieder als eine Art Religionsersatz bezeichnet: Der Körper als sinnstiftende Instanz. Prestige und Erlösung erhoffen darf, wer regelmäßig Sport praktiziert.
Als Kind sagt man doch auch nicht: Oh Gott, ich müsste dringend mal wieder auf einen Baum klettern. Man tut es halt oder man tut es nicht
Ich weiß, dass es Menschen gibt, die Sport lieben. Ich möchte es ihnen nicht absprechen. Ich gehöre nur nicht dazu. Und ganz allein stehe ich damit nicht da. Denn trotz Fitnesshype herrscht oft Konsens darüber, dass man irgendwie nicht beflissen genug Sport treibt, obwohl man doch sollte. Man müsste öfter, sollte mal wieder, hat schon wieder nicht und wollte doch eigentlich, stöhnen viele. Das schlechte Gewissen ob der nicht ordnungsgemäß ausgeführten Sportpraxis sorgt unter modernen Menschen für eine Demut und Selbstkasteiung, die man sonst nur von, naja, gläubigen Katholiken kennt.
Meine Frage: Wie kommt es, dass etwas, das dem Wohlergehen so zuträglich sein sollte wie die Bewegung, anscheinend eine solche Qual darstellt? Wie gut kann etwas sein, zu dem man sich so sehr zwingen muss? Als Kind sagt man doch auch nicht: Oh Gott, ich müsste dringend mal wieder auf einen Baum klettern und danach Pferd spielen und stundenlang wie blöde durch den Garten galoppieren. Man tut es halt oder man tut es nicht. Man hat dafür keinen Stundenplan.
Ich habe schon tausend Mal erfolglos versucht, ein sportlicher Mensch zu werden. Und tausend Mal habe ich mich gefühlt wie eine Versagerin, weil es nicht geklappt hat. Mittlerweile habe ich meinen Frieden darin gefunden, einfach nur regelmäßig spazieren zu gehen und ab und zu, wenn mir der Rücken weh tut, ein paar halb erinnerte, halb erfundene Yoga-Posen auszuführen. Dazu muss mich niemand zwingen, ich mache es freiwillig, oft und gern, ich gerate dabei nicht außer Atem, mir tut dabei nichts weh. Zum Spazieren kann ein Buch mitnehmen, meine Haustürschlüssel, etwas Geld, ich kann spontan in ein Café oder sogar ein Restaurant gehen, ich muss mir keine hässlichen Polyesterklamotten dafür anziehen, ich fühle mich lebendig, aber schwitze nicht alles nass, ich kann bei Freunden vorbeischauen und mit ihnen gemeinsam spazieren gehen, wir können uns unterhalten und die Zeit geht immer, egal ob allein oder zu zweit, schneller rum als bei jedem meiner angestrengten Versuche, joggen zu gehen.
Der Autor Hans Bloss schreibt in seinem Buch „Fit ohne Sport - Ihr Alltag ist Training genug“, dass sich Gesundheit und der Verzicht auf Sport nicht im Wege stehen. In einem Interview sagt er, dass sich gerade einmal 20 Prozent der Deutschen in ihrer Freizeit freiwillig bewegen. Für alle anderen bedeute Sport nichts weiter als zusätzlichen Stress und Leistungsdruck im Alltag. Und sei damit nicht gerade gesundheitsfördernd.
Nach Bloss ergibt sich Fitness aus drei Faktoren: Bewegung, Ernährung und Entspannung. Wer sich ständig stresst, er müsse eigentlich mehr Sport betreiben, torpediert damit schon mal den Faktor Entspannung. Er wäre besser damit beraten, eine Stunde zu schlafen. Bloss rät Sportunwilligen auf Sport zu verzichten und stattdessen ihre Alltagsbewegungen als Training zu begreifen. Man hat seine Tipps alle schon einmal irgendwo gehört: Treppe statt Aufzug oder Rolltreppe, mal eine Haltestelle früher aussteigen und den Rest laufen, Haushaltstätigkeiten als Workout zelebrieren. Simpel, aber hoch effizient. Der sogenannte „Zimmermädchen-Versuch“ beweist: Wenn von zwei Gruppen Zimmermädchen eine Gruppe gebeten wird, ihre Arbeit ab sofort bewusst als Training zu begreifen, fühlen sich die Mitglieder dieser Gruppe schon nach vier Woche erheblich viel gesünder als die der anderen Gruppe. Nach weiteren acht Wochen zeigt sich sogar eine Verbesserung ihrer Blutdruck- und Cholesterinwerte. Das mentale Training allein löst muskuläre Prozesse aus, die tatsächliche Bewegung tut den Rest. Bloss sagt: Bewusste Bewegung im Alltag ist genau das richtige Fitnessprogramm für all jene, die sich für sportlich untalentiert halten oder Sport einfach nicht genießen können.
In einem anderen Interview zur Frage, wie man ein langes, gesundes Leben führt, finde ich die Aussagen eines Arztes und Aryuveda-Spezialisten namens Dr. Ulrich Bauhofer. Auch er rät darin eher zu ausreichend Schlaf und einem ausgewogenen Lebensstil anstatt zu militärisch durchgeführten Sport-Initiativen. Ich möchte es genauer wissen und bitte ihn um ein Interview zum Thema.
Bauhofer erklärt mir: „Man kann nie sagen: Dies und jenes ist gut für alle. Jeder hat seine eigene Wahrheit und die umfasst alles in seinem Leben. Was er isst, was er trinkt, ob er Sport macht, in welcher Intensität, wie er schläft, wo er in den Urlaub hinfährt, wo er wohnt, welchen Job er macht. Alles, was Sie tun, beeinflusst Ihre Gesundheit. Und deshalb ist es für ein gesundes, glückliches Leben wichtig herauszufinden: Was tut mir gut und was tut mir nicht gut.“
„Versuchen Sie, sich Ihr Leben so einzurichten, dass es Ihnen gut damit geht. Das ist das einzig Richtige. Einstein hat 12 Stunden geschlafen“, sagt der Arzt.
Aber es gebe natürlich Grundprinzipien dessen, was für unsere Gesundheit wichtig ist. Vor 100 Jahren seien die Menschen noch etwa 20 Kilometer am Tag gegangen. Heute geht der Durchschnittsdeutsche nur noch 500 Meter am Tag, der Amerikaner sogar nur 200 Meter. In den 1970er Jahren kam aufgrund dieser mangelnden Bewegung erstmalig eine allgemeine Fitness-Bewegung auf. Damals war man allerdings noch überzeugt davon, man müsse für eine gute Gesundheit regelmäßig den Puls richtig hochjagen. Heute weiß man: moderat ist besser. Man soll sich beim Sport vor allem gut fühlen. Bauhofer sagt: „Aber die meisten Menschen hören gar nicht mehr auf ihren Körper. In Parks kann man das gut beobachten: Viele Jogger starren verbissen auf ihre Pulsuhr und zwingen sich dazu, ihr Strecken- und Zeitpensum einzuhalten. Ob es ihnen wirklich gut dabei geht, darauf scheinen sie gar nicht zu achten.“
Der Fitnesshype gründe vor allem auf Stress, erklärt Bauhofer. Die Weltgesundheitsorganisation hat Stress als die größte gesundheitliche Herausforderung des 21. Jahrhundert ausgemacht. Die Innovationskraft der Menschheit ist im Vergleich zum letzten Jahrhundert um ein Tausendfaches gestiegen und damit auch der Leistungsdruck auf den Einzelnen. Viele, die abends total angespannt aus dem Büro kommen, müssen erst einmal Sport machen, damit sie sich wieder leichter fühlen. Die Ursache des Problems wird dadurch aber nicht behoben.
Und die Ursache des Problems sei, so Bauhofer, dass unsere Gesellschaft die Gesetzmäßigkeiten des Lebens missachte. „Es fängt doch schon beim Thema Schlaf an“, sagt er. „Die Leute schlafen zu wenig. Man weiß, wenn die Schule erst um neun anfängt, lernen Kinder besser, als wenn die Schule um acht oder halb acht anfängt. Trotzdem ändert sich an dieser Praxis nichts. Wenn ich Patienten gewisse Routinen oder Rituale vorschlage, mit denen es ihnen besser gehen könnte, bekomme ich oft zu hören: Das geht aber nicht, das lässt mein Alltag nicht zu. Aber den Gesetzen des Lebens ist es egal, ob etwas geht oder nicht geht. Die sind so. Wenn Sie diese Gesetze missachten, also fortwährend Dinge tun, die Ihnen gar nicht entsprechen, dann werden Sie krank. Versuchen Sie, sich Ihr Leben so einzurichten, dass es Ihnen gut damit geht. Das ist das einzig Richtige. Einstein hat 12 Stunden geschlafen.“
Und er bestätigt meine Theorie: „Wenn es Ihnen gut damit geht, zu spazieren und ab und zu etwas Yoga zu machen, ist das doch ideal. Im Übrigen ist es sowieso effektiver, jeden Tag fünf oder zehn Minuten Yoga zu machen, als einmal die Woche 40 Minuten.“
Sowohl Boss als auch Bauhofer sagen also, was ich schon lange vermute. Bewegung ist zwar wichtig, viel gesundheitsgefährdender als zu wenig Bewegung ist aber nur eins: Stress. Und der entsteht nicht nur durch einen anstrengenden Beruf. Sondern vor allem durch die ewige Selbstgeißelung. Sie macht aus potentiell lustigen Menschen freudlose Miesepeter. Und die sind nicht nur eine Gesundheitsgefahr, sondern eine Umweltgefahr.
Anmerkung der Redaktion: Dieser Text wurde zum ersten Mal am 13. Februar 2017 veröffentlicht und am 19. Juli 2020 noch einmal aktualisiert.