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Meine Theorie: Warum Langweile alles andere als schlimm ist
In einer Welt, in der viele Menschen erst einmal in ihrem Terminkalender kramen müssen, um eine halbe Stunde für ein Bierchen mit Freunden freizuschaufeln, wirkt kaum eine Aussage so unsexy und mitleiderregend wie: „Mir ist langweilig.“ Langweilig? Wie kann das denn sein? Wenn man doch jeden Tag ein Start-up gründen, ein neues Gartenprojekt starten oder endlich beginnen könnte, für den lang ersehnten Marathon zu trainieren? „Nur die Langweiligen langweilen sich“, sagte einmal der Dichter und Schriftsteller Charles Bukowski und bestätigte damit das gängige Vorurteil: Wem langweilig ist, der ist einfach langweilig. Weil der oder die nichts mit seiner Zeit anzufangen weiß, unkreativ ist, ja auch faul. Aber so einfach ist das nicht.
Doch zuallererst: Ich spreche hier nicht von der flüchtigen Langeweile, die man an der Bushaltestelle mit dem Handy mal eben wegwischt (und auch nicht von der chronischen, die gesundheitsgefährdend sein kann). Nein, ich spreche von dieser phasenweisen, quälenden Langeweile, die kaum auszuhalten ist und einem das Gefühl gibt, für einen Kick vielleicht doch mal aus einem Flieger springen oder spontan ein One-Way-Ticket nach Barbados buchen zu wollen. Diese Langeweile, die einen einerseits nicht still sitzen und gleichzeitig apathisch an die Wand starren lässt. Jede:r hat schon mal heimlich aus dem Augenwinkel den Minutenzeiger einer Uhr penetrant verfolgt. Ich wette, auch Beyoncé langweilt sich mal, wenn sie zum hundertsten Mal „Halo“ singt.
Langeweile ist ein urmenschliches Gefühl wie Hunger und Durst: Wissenschaftler:innen vermuten sogar, dass Langeweile für die Evolution notwendig war und uns einen Selektionsvorteil verschafft hat. Ohne Langeweile hätten wir viele Dinge womöglich nie ausprobiert, erkundet, wären nicht an ihnen gescheitert und hätten keine neuen Lösungen gefunden. Ohne Langeweile würden wir heute vielleicht abends im Dunkeln sitzen. Für Kinder ist Langeweile in ihrer Entwicklung besonders wichtig, damit sie lernen, sich mit sich selbst und ihrer Umgebung zu beschäftigen. Auch wenn es verlockend sein kann, bei einer langen Autofahrt seinem Kind das Tablet in die Hand zu drücken. Wer das lässt, tut seinem Kind also unter Umständen etwas Gutes: Denn phasenweise Langeweile kann einen Kreativitätsschub auslösen, wie eine Studie der Psychologen Benjamin Baird und Jonathan Schooler von der Universität von Kalifornien in Santa Barbara nahelegt. Das liegt daran, dass das Gehirn bei unterfordernden Aufgaben unterbewusst an anderen Problemen weiterarbeitet. Für Kinder, aber auch ihre Eltern, gilt damit: Wer sich permanent berieseln lässt, verpasst diesen Goodie.
Für Langweile muss sich niemand schämen
Warum wir Langeweile in erster Linie trotzdem gerne vermeiden, beschreibt John Eastwood, Associate Professor an der psychologischen Fakultät der York University in Toronto, ziemlich einleuchtend. Er definiert Langeweile als „das unangenehme Gefühl, eine zufriedenstellende Aktivität ausführen zu wollen, aber nicht zu können“. Sie ist also das quälende Verlangen, etwas Erfüllendes, Sinnvolles zu tun, aber nicht in der Lage dazu zu sein: Genau wie ich 2014 einen Sommer lang an einem leeren Burgerstand arbeitete, um mir mein Leben finanzieren zu können. Und dabei herausfand, dass ich das nie wieder machen möchte. Doch auch die Arbeit als Skilehrerin, die mich am Anfang erfüllt hat, verlor nach gewisser Zeit ihren Reiz. Nach vier Monaten konnte ich weder die Piste noch den Skilift mehr sehen. Dieses Gefühl hat mir gezeigt, dass das wohl nichts für die Ewigkeit sein sollte.
Langeweile gilt also zu Unrecht als Außenseiterin unter den Gefühlen. Denn Gefühle sind vorrangig dafür da, uns unsere Bedürfnisse aufzuzeigen: So kann Langeweile eine aufgezwungene Stop-Taste sein und uns dazu bringen, uns endlich mal mit uns selbst zu beschäftigen. Während wir also unruhig von der einen Pobacke auf die andere rutschen, können in diesen Momenten wirklich wichtige Fragen aufkommen wie: Was motiviert dich stattdessen? Was findest du wirklich sinnstiftend? Oder auch: Hast du überhaupt Bock, mit deinen Schwiegereltern am Sonntag zu brunchen? Nein? Dann sag ab! Wir können viel von unserer Langeweile lernen.
Lange galt: Wer busy ist, ist wichtig, doch wer sich langweilt – hm, mit dem stimmt doch was nicht. Ich finde das ignorant. Oft passt einfach etwas nicht zu uns, fordert uns nicht und deswegen langweilen wir uns. Langeweile ist also weder Ausdruck unseres persönlichen Scheiterns, noch ist es unsere Schuld, dass wir einschläfernde Praktika machen müssen, um den eigenen Lebenslauf zu pimpen oder monotone Jobs, um aus dem Dispo zu kommen.
Lieber Charles, meine Antwort an dich lautet somit: Langeweile ist ein Gefühl und keine Charaktereigenschaft. Sie kann sogar dabei helfen, herauszufinden, was einen wirklich im Leben kickt. Schämen muss man sich dafür ganz sicher nicht.