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Heimat – ist das doch mehr als ein Gefühl?
Einmal fest nach vorne ziehen und gleichzeitig den Schlüssel nach rechts drehen. Ein lautes Klacken, das Schloss zieht sich zurück – die Haustür ist offen. Aus dem Flur ertönt Hundegebell. So wie jedes Mal, wenn ich bei meinen Eltern zu Besuch bin. Es ist beinahe ein Ritual, das mir das Gefühl gibt, jetzt wieder Zuhause zu sein. Allerdings ist es eines mit Ablaufdatum.
„Wir verkaufen das Haus und ziehen um“, sagte mir meine Mutter vor einigen Wochen. Ein einfacher Satz, der meine Gefühlswelt vollkommen auf den Kopf stellte. Mehr als zehn Jahre habe ich dort, wo die Straße einer Wohnsiedlung einen Knick macht und ein kleiner Wald beginnt, gelebt.
Vollkommen unerwartet spüre ich einen kurzen Stich. Mein Zuhause wird es bald nicht mehr geben. Mein Elternhaus, das hieß in meinem Kopf: Provinz und kein Bus mehr nach 20 Uhr. Das waren lange Zugfahrten, immer wiederkehrende Diskussionen und ein riesiger Garten. So schnell wie möglich wollte ich nach dem Abitur weg, hinaus in die Welt. In diversen WG-Küchen morgens um fünf Uhr versicherten meine neuen Freunde und ich uns gegenseitig: Heimat, das ist kein Ort, sondern ein Gefühl. Wir selbst können uns aussuchen, wo wir uns heimisch fühlen wollen.
Trotzdem ging ich immer wieder zurück. Egal, ob nur für einige Tage oder Wochen: Wenn ich Abstand zum Alltag in meiner Unistadt brauchte, fuhr ich zu meinen Eltern. Dort schmeckt der Apfelkuchen besser als in jedem hippen Café und ich genoss den großen Garten. Es war gemütlich und einfach.
Nach und nach wurde mein Elternhaus zu etwas, das ich als „alte“ Heimat bezeichnete: Ein Ort, an dem man einmal viel Zeit verbracht hat, nun aber lediglich zu besonderen Anlässen besucht. Etwa, wenn jemand heiratet, ein runder Geburtstag ansteht oder zu Weihnachten. Bei diesen Gelegenheiten schwelgt man gemeinsam mit „alten“ Freunden in Erinnerungen.
Immerhin gibt es keinen Platz auf der Welt, den ich so gut kenne, wie dieses Haus. Das fängt eben bei der Eingangstür an. Es hat Jahre gedauert bis ich sie auch leicht angetrunken öffnen konnte, ohne meine Eltern aufzuwecken. Ich weiß, wo das Parkett besonders laut knarzt und welchen Küchenschrank man mit ein bisschen mehr Nachdruck schließen muss.
Jede Ecke in meinem Elternhaus ist voller Geschichten. Immerhin gibt es für mich keinen Ort, der so viele Erinnerungen bündelt. Da sind die Stufen vor dem Haus vor dem Haus, auf denen sich ein Freund nach einer guten Geburtstagsfeier übergeben hat. Oder die lange Kellertreppe, die mir als Kind Angstschauer über den Rücken jagte. Zwischen alten Tagebüchern, meinem Abiball-Kleid und Karnevalskostümen aus dem Kindergarten, kann ich meine Vergangenheit immer wieder aufleben lassen. Es ist wie ein Museum, in dem ich meiner Kindheit und Jugend bei jedem Besuch wieder nachspüren kann. Noch viel eindrücklicher als die Gegenstände, sind die Geräusche und Gerüche. Das Quietschen der Kellertür würde ich unter hunderten heraushören. Nur ihr Flur verströmt diesen speziellen Geruch nach harziger Holzvertäfelung und alten Büchern.
Mein Elternhaus ist aber vor allem ein Ort, der sich nie grundlegend verändert hat. Sogar mein Zimmer sieht noch genauso aus, wie ich es vor beinahe zehn Jahren verlassen habe.
Ich kann immer wieder nach Hause kommen, dort ist immer noch alles so ist, wie es immer war
Damit ist es der Gegenpol zu meinem jetzigen Leben. Praktikum in dieser Stadt, Praktikum in jener Stadt. Egal ob mein Nebenjob, mein Bekanntenkreis oder meine Mitbewohner: Nichts scheint sicher zu sein und kann sich jeden Moment wieder verändern. Alles ist immer nur provisorisch. Jedes Zimmer fühlt sich an, als ob ich nur auf der Durchreise bin. Nur selten denke ich darüber nach, länger an einem Ort zu bleiben.
Gleichzeitig wusste ich immer: Ich kann immer wieder nach Hause kommen, dort ist immer noch alles so ist, wie es immer war. Genau das machte dieses Haus zu mehr als nur zu einem Zuhause, sondern zu meiner Heimat. Es verkörpert ein dichtes Geflecht von Erinnerungen, Erfahrungen und Momenten. Davon waren bei weitem nicht alle gut. Eigentlich möchte ich mich nicht mehr an meinen ersten richtigen Liebeskummer erinnern oder an depressive Phasen während meiner Pubertät. Aber auch das gehört zu meiner Heimat. Sie hat mich geprägt.
Nie wäre es mir in den Sinn gekommen, dass sich gerade dort etwas ändert. Zu fest und unantastbar schien sie.
Aber ich kann auch verstehen, dass meine Familie woanders leben möchte. Niemand von ihnen fühlt sich in unserem Haus wirklich wohl. Meine kleine Schwester lebt in meinem alten Zimmer und wünscht bereits länger eine eigene Einrichtung. Für meine Mutter und meinen Stiefvater war das Haus oft nur Provisorium. Immer wieder wurden Räume neu verteilt oder umgebaut. Trotzdem sah es dort nie so aus, wie sie es sich vorstellten. Nach der Scheidung meiner Eltern, war es für sie leichter und unkomplizierter, nicht umzuziehen. Auch wegen mir. Ich konnte weiterhin in meine Schule gehen und wohnte nur zehn Fahrradminuten von meinen Freunden entfernt.
Die Räume sind für sie belastet mit Streit und Konflikten, die dort im letzten Jahrzehnt ausgefochten wurden. Der große Unterschied ist aber vor allem: Sie sind nie weggegangen, sondern verharrten. Anstatt wie ich nur einige Wochen im Jahr dort zu verbringen, ist es ihr Alltag.
Meine Heimat wird es in absehbarer Zeit nicht mehr geben. Bald werden meine Eltern einen Käufer für das Haus suchen. Bald muss ich meine Kisten im Keller aussortieren. Das Museum wird aufgelöst. Von einem wirklichen Ort, den ich besuchen kann, wird meine Heimat bald nur noch zu einer verklärten Erinnerung. Nie wieder wird mich ein Ort so stark prägen. Das tut weh. Trotzdem ist es auch eine Chance. Bald erinnert mich nicht jeder Geruch und jedes Geräusch an auch viele schlechte Momente. Stattdessen wird es Platz für Neues geben.
Und meine Familie kann bald so leben wie sie es sich immer gewünscht hat. Das ist zwar traurig, aber auch okay.