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Sind Einzelkinder die besseren Menschen?

Illustration: Julia Schubert

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Ohne Geschwister aufgewachsen zu sein, bedeutet für mich vor allem eins: Ich stehe mein Leben lang unter dem Generalverdacht, ein verwöhntes Einzelkind zu sein. Gut, einen gewissen Luxus kann ich nicht abstreiten. Die Rückbank im Auto hatte ich immer für mich alleine. Ein eigenes Zimmer war für mich Standard. Und an meinen Bibi-Blocksberg-Kassetten hatte niemand in meiner Familie außer mir sonderlich Interesse. Bin ich deswegen verwöhnt? Vielleicht. Macht mich das zu einem schlechteren Menschen? Ich glaube, es hat mich sogar zu einem besseren Menschen gemacht.

Trotzdem höre ich immer wieder empörte Rufe: „Wie, du musstest nie um irgendwas kämpfen? Hast du überhaupt gelernt, zu teilen? Wie soll man denn Charakter entwickeln, wenn man immer alles auf dem Silbertablett serviert bekommt?“

Aber muss man sich wirklich ständig mit seinen Geschwistern um Spielzeug kloppen, um eine gute Kindheit zu haben? Lernt man, Schokolade zu teilen, denn nur im eigenen Kinderzimmer? Oh, Moment. Das 19. Jahrhundert ruft gerade an und will seine Erziehungstipps zurück.

Denn tatsächlich gehen unsere Vorurteile gegenüber Einzelkindern auf Studien aus dem Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts zurück. Damals waren kinderreiche Familien normal. Nur die bürgerliche Oberschicht tendierte dazu, weniger Kindern zu kriegen. Daher fürchteten Wissenschaftler*innen und Politiker*innen, dass die Oberschicht aussterben könnte. Das Gegenrezept: Einzelkinder schlechtmachen, damit die Besserverdiener mehr Kinder kriegen. Dieser Ansatz passte zu den gängigen Ideologien der Zeit: Kinder würden bei zu viel Aufmerksamkeit verweichlichen. Und wer will schon verweichlichte Kinder haben, wenn zwei Weltkriege vor der Tür stehen?

Die Vorurteile halten bis heute an, obwohl so gut wie alle von ihnen längst widerlegt worden sind. In einer großen Überblicksstudie von 1986 untersuchten zwei US-amerikanische Psychologinnen über 200 Studien zu den angeblichen Unterschieden zwischen Einzelkindern und Geschwisterkindern. Sie kamen zu dem Ergebnis, dass Kinder, die ohne Geschwister aufwachsen, nicht anders ticken als Kinder mit Geschwistern. Der einzige Unterschied: Die Beziehung zu den Eltern ist bei Einzelkindern meistens besser.

Einzelkinder sind die besten Teamplayer

Soziales Verhalten lernt man als Kind nicht ausschließlich im Wohnzimmer. Die wirklich spannenden Erfahrungen machen Kinder doch außerhalb des familiären Dunstkreises: Sandschaufel teilen auf dem Spielplatz. Freunde finden im Kindergarten. Um die Häuser ziehen mit den Kindern aus der Nachbarschaft. Und gerade in solchen Situationen verhalten sich Einzelkinder oft viel sozialer. Wir wissen nämlich ganz genau: Um am Nachmittag jemanden zum Spielen zu haben, müssen soziale Kontakte geknüpft werden. Deswegen lernen wir schon früh, auf andere Kinder zuzugehen. Wir sind schließlich darauf angewiesen – und somit quasi die geborenen Socializer*innen. In dieser Hinsicht sind eigentlich eher Kinder mit Geschwistern die Verwöhnten: Immer ist jemand da, mit dem man spielen oder streiten kann.

Wer alleine spielen muss, wird kreativ

Einzelkinder lernen ziemlich früh, selbstständig zu sein. Auf der Fahrt in den Urlaub oder an verregneten Nachmittagen, an denen niemand Zeit zum Spielen hatte, musste ich kreativ werden. Häuser für Kuscheltiere bauen, Schnecken sammeln, Kassetten in Dauerschleife hören. Dass Einzelkinder oft kreativer sind, ist sogar wissenschaftlich belegt: Bei einer Studie der Southwest University Chongquing mussten sich über 200 Proband*innen alternative Verwendungszwecke für Alltagsgegenstände einfallen lassen – Einzelkinder dachten öfter um die Ecke und schnitten dabei besser ab.

Einzelkinder sind selbständiger

Als Einzelkind muss man auch früh lernen, Probleme alleine zu lösen. Machen die Jungs aus der Parallelklasse Stress, kann man nicht auf einen großen Bruder hoffen, der einen raushaut – was allerdings nicht heißt, dass ich nicht trotzdem mal damit gedroht hätte. Als Einzelkind gibt es keine große Schwester, die einen mal auf eine Party mitnimmt oder die Eltern ablenkt, während man sich nachts noch heimlich rausschleicht. Andererseits konnte ich es auch nie jemand anderem in die Schuhe schieben, wenn ich mal was ausgefressen habe. Es gab ja nur mich - und die Katze hat bestimmt keine Bierflaschen vom letzten Mal sturmfrei auf dem Schrank vergessen.

Einzelkinder können sich freier entwickeln

Keine Geschwister zu haben heißt auch, dass man seine Rolle nicht im Bezug zu ihnen finden muss. Das ist ein Vorteil: Wer als Nesthäkchen oder Sandwich-Kind aufwächst, entwickelt sich tendenziell anders als Erstgeborene. Ich musste nie für kleine Brüder Verantwortung übernehmen, ich hatte keine große Schwester, die schon Wege für mich geebnet hat. Ich war die Erste, die Mittlere und die Letzte gleichzeitig. Nicht von Anfang an in eine Rolle geboren zu werden, hat mir auch Freiräume bei der Entscheidung gelassen, wer und wie ich sein will.

Wer keine Geschwister hat, braucht gute Eltern 

Aber um all das hier schreiben zu können, hatte ich auch einfach ziemlich großes Glück. Mein Einzelkind-Dasein wäre nicht so schön gewesen, hätte ich nicht so lässige Eltern und Großeltern gehabt, die gern Zeit mit mir verbracht haben. Eine schöne Einzel-Kindheit ohne liebe Eltern stelle ich mir nämlich schwierig vor.

Als Erwachsene denke ich mir schon manchmal, ob es mit Geschwistern nicht einfacher wäre. Wenn die Eltern langsam älter werden, drehen sich die Verantwortlichkeiten: Da sind nicht mehr zwei Erwachsene für ein Kind verantwortlich, sondern ein Kind für zwei Erwachsene. Andererseits kann mir auch niemand versprechen, dass die Geschwister, die ich bekommen hätte, auch coole Socken gewesen wären. Geschwister können zwar die besten Seelenverwandten werden, aber auch die fiesesten Feinde. Oder auch ganz anders als man selbst und man sieht sich irgendwann nur noch zu Weihnachten zu Hause. Da teile ich meine Eltern doch lieber nur mit mir selbst.

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