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Die Sehnsucht nach fremden Städten

Während der Panedmie ist die Sehnsucht nach fremden Städten noch ein bisschen größer als ohnehin schon.
Illustration: Katharina Bizl; Bearbeitung: jetzt

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Hinweis: Dieser Text erschien, als wir noch frei reisen konnten, nämlich am 6. Juni 2016. Am 17. März 2021 wurde er nochmals veröffentlicht – denn die Sehnsucht ist ja noch immer da. 

In Lebensläufe schreiben Menschen ja inzwischen gerne gern aus Prinzip mehrere Städte als Lebensmittelpunkt: Lebt in Leipzig, Kempten, Beirut. Dass es sich meistens nur bei einer der aufgeführten Städte um den tatsächlichen Wohnort – nämlich Leipzig – handelt, und bei den anderen um den Wohnort der Eltern (Kempten) oder die Auslandssemester-WG der kleinen Schwester (Beirut): egal. Hauptsache flexibel.

Menschen aber, die tatsächlich an mehreren Orten leben, beneide ich. Ich wünsche mir sehr, eines Tages mal so etwas wie: „Lebt in New York, Neapel und irgendwo auf dem Land, wo viel Meer in der Nähe ist und keine anderen Menschen“ von mir behaupten zu können. In der Liebe halte ich mich für monogam, was das Geographische angeht bin ich polyamor. Zumindest was meine geographischen Fantasien angeht. Faktisch lebe ich nur in München – boring!

Städte, in die ich sofort für eine Weile ziehen würde: Rom, Mailand, Neapel, Florenz, London, Paris, die gesamte Côte d’Azur, Reykjavik, Melbourne, Lissabon, Zürich, Wien, Berlin, Istanbul und so könnte es noch eine Weile weitergehen, vor allem, weil es ja auch noch so viele Städte gibt, von denen ich nur ahne, dass ich sie liebe, aber sie leider noch nie besucht habe.

Da im dritten Stock, überlege ich mir dann alle 100 Meter, wäre meine Wohnung

Denn es ist selten, dass ich irgendwo hinfahre und sage: Nö, das ist gar nix für mich. In den meisten Fällen sage ich: „Könnt ich ja auch sofort hinzieh’n.“ Ich wandere durch die Straßen der neuen Stadt und sauge sie tief durch meine Nasenlöcher in meine Lungen rein: Wie der fremde Asphalt riecht, wie es aus den fremden Häusern riecht, aus den fremden Restaurants, wie die fremden Männer und Frauen und Kinder aussehen, sich bewegen, sprechen, während sie ihren fremden Alltag leben. Ich schaue die Hausfassaden hoch, denke: Ach, die Fensterläden, wie es wohl wäre, wenn man so Fensterläden hätte?

Da im dritten Stock, überlege ich mir dann alle 100 Meter, wäre meine Wohnung. Und von da aus wäre die Stadt meine Stadt. Bei Gewitter, bei 39 Grad im Juli, bei Schnee, an Silvester. In der Küche stünden Produkte mit fremden Verpackungen, landestypische aus dem Supermarkt eben, die bald schon gar nicht mehr fremd, sondern normal für mich wären. Das Café um die Ecke wäre mein Café, der Bäcker mein Bäcker, das Schwimmbad mein Schwimmbad. Wenn ich Besuch hätte, würden Leute sagen: Ah, die Butter schmeckt ja ganz anders hier und ich würde mich kurz dran erinnern, dass ich das auch mal geschmeckt habe, jetzt aber nicht mehr.

Manchmal ruiniert mir dieser unbedingte und absolute Hinzieh-Enthusiasmus meine Reiseleichtigkeit. Ich komme irgendwo an und mag es dort sofort so sehr, dass ich es nicht mehr genießen kann, nur Gast zu sein. Meine Dankbarkeit darüber, überhaupt in der Lage zu sein, frei reisen zu können, schrumpft drastisch angesichts der Tatsache, dass ich hier niemals leben werde. Dass die Stadt schon Jahrhunderte ohne mich auskommt und es in einigen wenigen Tagen wohl auch bis in alle Ewigkeit wieder tun wird. Reisen sind deshalb ja auch immer direkte Konfrontationen mit dem Tod.

Ich jedenfalls sehe den Mann mit der Sense deutlich vor mir, wie er mich auslacht und ruft: „Tja, kleines Freundchen, dein Leben ist zu kurz, um die ganze Welt zu besuchen, und haha, ,eine Weile lang‘ leben willst du auch noch in, Moment, mindestens zehn Städten und siebzehn ländlichen Regionen?“ Da blitzt seine Klinge unter der Sonne der Toskana.

Wenn man sich dauernd in Städte verliebt, woher weiß man dann, welche die richtige für einen ist?

Und dann frage ich mich manchmal: Wieso reist man dann überhaupt? Reisen ist so betrachtet doch Masochismus, ein bisschen auch wie „Bummeln“, dieses an Feiertagen Vor-Schaufenstern-Stehen, um „nur mal zu gucken“, aber nichts zu kaufen. Wer tut sich so etwas an?

Aber: Geht halt nicht. Geht beim Einkaufen nicht, geht beim Reisen nicht. Man kann nicht alles haben. Mit diesem Satz muss man sich trösten, der hilft. Kurz. Ganz kurz. Denn tief drinnen weiß man ja doch: Wenn diese Stadt es jetzt wirklich wäre, wenn sie dir wirklich alles bedeutete, dann könntest du hier schon herziehen. Du müsstest dafür einiges aufgeben, aber du könntest es tun. Du musst es nur genug wollen. Und schon geht das Gezweifle von vorn los: Sollte ich es nicht einfach tun? Ist diese Stadt DIE Stadt? Es liegt in meiner Hand.

Aber wenn man nun jemand ist, der sich andauernd in Städte verliebt, woher weiß man dann, welche die eine, die richtige für einen ist? Ich tröste mich manchmal damit, dass es sich ja immer auch ergeben muss. Dass ich schon eine gute Stadt habe. Dass ich einfach reisen kann. Dass es woanders in Summe und auf Dauer doch auch nicht besser wäre. Es braucht Bescheidenheit im Leben und Realismus und ein winziges bisschen Selbstbetrug – und schon geht es einem viel besser.

Nur leider selten lang. Denn spätestens, wenn man an einem sehr schönen See in der heimischen Umgebung sitzt und sich gerade darüber freut, wie gut man es hier hat, kommt doch die Nachricht, in der eine Freundin schreibt: „Oh man, fuck, wo bist du, ich bin in NY und ich sags dir: Ich muss hier herziehen! Nicht mal eine Zeitlang in New York gelebt zu haben ist ein verschenktes Leben!!!“ Spätestens dann geht alles wieder von vorne los.

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