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Straftäter auf der Bühne

Illustration: Julia Schubert

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theater gefaengnis cover

Illustration: Julia Schubert

Es ist Sonntag, 18 Uhr, in der Jugendstrafanstalt Berlin. Kein normaler Sonntag. Wäre es ein normaler Sonntag, hätte Jallal jetzt Jeans und T-Shirt an – Anstaltskleidung eben. An diesem Sonntag aber trägt der 21-Jährige einen Rock, knallrot, bodenlang. Dazu eine graue Bluse, die an Brust und Schultern stark spannt. Wie er seinen Aufzug findet? „Bombe!“, ruft Jallal. Ein breites Gewinnerlächeln zieht sich über sein rundes Gesicht. Er blickt begeistert in die Zuschauerreihen, dann in Richtung Bühne, wo die Kumpels stehen, mit der Presse sprechen, Autogramme verteilen. Laute, enthusiastische Stimmen hallen durch den Bühnenraum der Jugendstrafanstalt Plötzensee, alle paar Sekunden bricht jemand in schallendes Gelächter aus. Es ist die Aufregung der vergangenen Stunden, die jetzt von den jungen Männern abfällt.

„Ich dachte, wir verkacken’s“, sagt Jallal, die Hände brav im Schoß gefaltet. Der 21-Jährige sitzt in der ersten Reihe der Zuschauertribüne, der rote, bauschige Rock bedeckt den ganzen Stuhl. Jallal spielt die Marie in Georg Büchners Stück „Woyzeck“. Und Jallal heißt eigentlich nicht Jallal, es ist der Künstlername, den man ihm gegeben hat. So wie man allen acht jungen Männern Künstlernamen gegeben hat, die an diesem Sonntagabend auf der Bühne im Kultursaal der JSA gestanden haben. In einem Raum mit Schulaula-Charakter, abgedunkelt, warm, gemütlich. In dem man glatt vergessen könnte, wo man sich befindet – wären da nicht die schmalen vergitterten Fenster kurz unter der Decke, und säßen da nicht die beiden Sicherheitsleute in dunklen Uniformen ganz vorne in der ersten Reihe.

Sieben Wochen haben die Gefangenen geprobt, zusammen gegessen, getrunken, abgehangen. Alles unter der Leitung von „aufBruch“, einem Theaterprojekt, das seit mehr als 20 Jahren Stücke mit Gefangenen inszeniert. Die Zuschauerränge sind etwa zur Hälfte besetzt an diesem Sonntagabend, um die 20 Leute sind zur Voraufführung gekommen, einer Art Generalprobe. Es sind befreundete Schauspielkollegen vom „aufBruch“-Team, Regisseure und Theaterleute, die ihre Bekannten mitgebracht haben.

Am nächsten Tag ist Premiere – und dann dürfen auch Familie und Freunde kommen. Besuchen kann das Gefängnistheater grundsätzlich jeder, der für 15 Euro ein Ticket ergattern konnte und bereit ist, sein gesamtes Hab und Gut an der Pforte abzugeben: Handy, Wertsachen, Zigaretten, Lebensmittel und der Hausschlüssel müssen in grüne Schließfächer gesperrt und der Personalausweis gegen ein Besucherticket getauscht werden. 

All das, um Straftätern beim Theaterspielen zuzusehen. Nein, Jallal und seine Kumpels sind keine Profis, und viele von ihnen haben nie zuvor ein Theater von innen gesehen. Und so wirkt es an mancher Stelle tatsächlich etwas befremdlich, wenn sich die Schauspieler in ihrem gewohnten Straßen-Slang die fast 200 Jahre alten Textfragmente aus Georg Büchners Woyzeck zuwerfen. Doch die jungen Männer machen es wieder wett, indem sie mit Hingabe spielen.

Eine Gesellschaft in der Gesellschaft

Hier, am Stadtrand von Berlin, sitzen Kinder ab 14 Jahren und Heranwachsende bis 27 Jahren. Ihre Delikte reichen von Raub und Diebstahl über Körperverletzung bis hin zu Mord und Totschlag.

280 der 305 männlichen Strafgefangenen sind aktuell im geschlossenen Vollzug untergebracht, darunter Jallal und seine sieben Kumpels. Auf dem 50 000 Quadratmeter großen Gelände der JSA gehen sie zur Schule, machen eine Ausbildung, arbeiten in Werkstätten, spielen Fußball. Kurzum: Sie leben in einer eigenen Welt, in einer Gesellschaft in der Gesellschaft hinter dicken roten Backsteinmauern. Isoliert von der “Welt da draußen”.

Nicht so an diesem Sonntagabend. Da sind sie für 90 Minuten keine Gefängnisinsassen – sondern Schauspieler. Genau das ist das Ziel von „aufBruch“: Die Gefängnismauern sollen für einen Moment aufgebrochen werden, draußen und drinnen einander begegnen. 1997 gegründet, arbeitet das Gefängnistheater inzwischen mit allen neun Berliner Haftanstalten zusammen, mit 65-jährigen Sicherheitsverwahrten wie mit jugendlichen Häftlingen. Sogar in einer chilenischen Haftanstalt und in einer russischen Jugendstrafkolonie hat das Theaterteam schon Aufführungen realisiert.

Kampf gegen das Stigma

Eine Konstante gibt es bei den Projekten: Niemand in dem Team, nicht einmal der Regisseur, hat Einsicht in die Akten der Darsteller. Das möchte auch niemand. „Was für uns zählt, ist die Begabung der Teilnehmer und nicht ihre Straftaten“, erklärt Produktionsleiterin Sibylle Arndt.

Die Biografien zu kennen, würde die Arbeit des Teams beeinflussen, sagt die 43-Jährige: „Wahrscheinlich würde man einem verurteilten Gewalttäter automatisch auch im Stück die rabiatere Rolle geben. Wir wollen ihm aber die Rolle geben, in der er am überzeugendsten ist.“

Während der Proben und Aufführungen sollen sich die jungen Männer auf neutralem Boden befinden, losgelöst von ihrer Vergangenheit. Was auch bedeutet, dass Hierarchien, die im Haftalltag herrschen, während der Arbeit mit „aufBruch“ nicht mehr gelten.  Wer wegen welcher Verbrechen im Gefängnis sitzt, bleibt auch dem Publikum verborgen. Vorurteile sollen so abgebaut werden. „Wenn die Zuschauer merken, dass das ganz normale Leute sind, die durchaus auch sympathisch sein können, geben sie ihnen eine Chance. Und das hilft ganz entscheidend bei der Integration.“

Jeder zweite wird wieder straffällig

Auch Jallal möchte nicht auf seine Straftat reduziert werden. Und so lächelt der 21-Jährige nur verlegen, wenn man ihn fragt, was er verbrochen hat. „Das möchte ich nicht sagen“, murmelt er dann – und schiebt schnell noch hinterher: „Nichts Schlimmes.“ Seit einem Jahr sitzt er in der JSA Plötzensee. „Draußen“, wie er es nennt, ist er zur Schule gegangen und hat als Maler und Lackierer gearbeitet. Wann er wieder rauskommt, weiß er noch nicht. Ideen für die Zeit nach seiner Entlassung hat er dagegen schon: Wieder arbeiten, den Führerschein machen. „Und weiter Theater spielen!“

Ob Jallals Leben wirklich so strukturiert ablaufen wird, wie es sich der 21-Jährige jetzt vorstellt? Das ist ungewiss. Die Chancen sind gering. Jeder zweite Straftäter wird innerhalb von neun Jahren rückfällig, wie eine Studie des Bundesjustizministerium von 2016 ergeben hat.

Drehtürmechanismus nennen Experten diesen Kreislauf. Theaterprojekte wie „aufBruch“ wollen ihn gezielt durchbrechen und Straftätern bei ihrer Resozialisierung, also bei der Wiedereingliederung in die Gesellschaft helfen.

Dabei ist „aufBruch“ lange nicht das einzige Projekt seiner Art in Deutschland. Mehr als 20 Theaterprogramme mit Strafgefangenen laufen derzeit in den Vollzugs- und Strafanstalten der Bundesrepublik. Mancherorts gleich mehrere Projekte gleichzeitig, wie in Sachsen oder in Nordrheinwestfalen. In wieder anderen Bundesländern gibt es wiederum überhaupt keine Knasttheater-Projekte, darunter Hamburg, Niedersachen, Sachsen-Anhalt und Rheinland-Pfalz. Allerdings stehen dort auch keine Fördersummen für derartige Projekte zur Verfügung. Ganz anders beispielsweise in Thüringen, wo das Budget für kunsttherapeutische Projekte stetig wächst und inzwischen bei fast 100 000 Euro pro Jahr liegt , wie es aus dem dortigen Justizministerium heißt.

Kunst im Knast – wie wirksam ist das wirklich?

Dass Theater im Knast zur Resozialisierung beitragen kann, meint auch der Kriminologe Bernd Maelicke: Solche Projekte hält der Gründungsdirektor des Deutschen Instituts für Sozialwissenschaftler für „außerordentlich sinnvoll“. Soziales Training wie Theaterprojekte oder Rollenspiele in Therapieprogrammen sollten laut Maelicke dringend gefördert werden.

Ein Allheilmittel sind solche Maßnahmen natürlich trotzdem nicht: Die Jugendlichen, um die es hier geht, wurden vorher mindestens 14 Jahre von ihrer Umwelt geprägt“, sagt Maelicke. Sie haben Missbrauch und Gewalt erlebt, hatten womöglich drogenabhängige Eltern. So etwas könne durch ein Rollenspiel nicht ungeschehen gemacht werden.

„Dann stehen sie auf der Bühne, spielen vielleicht sogar die Heldenrolle. Aber im realen Leben werden sie diese Rolle nie spielen”, sagt Maelicke. Anders als geübte Schauspieler, die eine lange Ausbildung hinter sich haben, müssten die Gefangenen erst lernen, wer sie eigentlich sind, welche Stärken und Schwächen sie haben.

Jallal hat heute zum ersten Mal auf einer Theaterbühne gestanden. Und zum ersten Mal war er „wirklich stolz", wie er sagt.

Der 21-Jährige steht jetzt „bei seinen Jungs“ auf der Bühne. „Das ist was Besonderes zu sehen, wie die Leute sich freuen“, sagt einer der Darsteller in schicker Garde-Uniform. Er hat den Tambour-Major gespielt, den Liebhaber der Marie, also von Jallal. Ein anderer reckt das Programmheft in die Höhe – „ein Poster wird es auch noch geben“, ruft jemand vom Theaterteam in die Runde. „Das häng ich mir in meiner Zelle auf“, sagt ein bärtiger junger Mann in tailliertem Offiziers-Mantel.

Es ist inzwischen halb acht. Janina Deininger, Sozialpädagogin in der JSA, hat schon mehrmals nervös auf die Uhr geguckt. Etwa zehn Minuten bleiben den acht jungen Männern noch, dann werden die Zuschauer den Bühnenraum wieder verlassen müssen, ihre Wertsachen aus den Schließfächern holen und nach Hause fahren. Die Sicherheitsleute werden dann auf Jallal und seine Kumpels zugehen und die acht jungen Männer abführen. Sie zurückbegleiten durch die schmalen kahlen Flure, durch mehrfach verriegelte Türen und schließlich in ihren Zellen einschließen.

„Frau Deininger! Können wir nicht hier übernachten?“, ruft der bärtige Offizier. Dem jungen Mann schwebt eine Art „Theatercamp“ vor. In die Zelle zurück will er nicht. Die Sozialpädagogin muss erst lachen, dann wird sie ernst. „Das geht leider nicht“, sagt sie.

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