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„Das Private ist noch nicht politisch, es muss erst dazu gemacht werden“

Mithu Sanyal, geboren 1971, hat vor ihrem Roman zwei Sachbücher veröffentlicht, in denen sie sich mit dem weiblichen Genital und mit Vergewaltigungen auseinandersetzt.
Foto: Guido Schiefer

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Saraswati, Professorin für Postcolonial Studies an der Universität Düsseldorf, bestimmt die Debatte um Rassismus und Identität in Deutschland. Doch dann kommt heraus, dass Saras­wati weiß ist und keine „Person of Color“, als die sie sich bisher ausgegeben hatte. Während ein Shitstorm über sie hereinbricht, versucht ihre Star-Studentin Nivedita, von ihr zu erfahren, warum zur Hölle sie das getan hat.

Mithu Sanyals Roman „Identitti“, der am 15. Februar bei Hanser erscheint, verhandelt alles, was wir derzeit täglich verhandeln: Rassismus in Deutschland, Identitätspolitik und die Fragen, wer worüber sprechen darf, was bestimmt, wer wir sind, und wie das alles unsere Gesellschaft und unsere persönlichen Beziehungen beeinflusst. Und die indische Göttin Kali, die die Köpfe ihrer Feinde als Halskette trägt und beim Sex immer oben liegt, spielt auch noch eine wichtige Rolle. 

Im Interview spricht Mithu Sanyal über den Fall Rachel Dolezal, der sie zu dieser Geschichte inspiriert hat, über die Möglichkeit von „transrace“ und darüber, ob Diskriminierung einen zu einem besseren Menschen macht. 

jetzt: Nach der Enthüllung, dass ihre Professorin Saraswati weiß ist, sagt Nivedita etwas zu ihr, dem ich intuitiv zugestimmt habe: „Alles was du sagst, ist richtig. Was du getan hast, ist trotzdem falsch.“ Siehst du das auch so?

Mithu Sanyal: Ja, voll, und gleichzeitig auch nicht. Mir war es wichtig, Saraswati als ambivalente Figur zu zeichnen. Ich stimme Nivedita zu, dass etwas an dem, was Saraswati getan hat, falsch ist. Aber es ist eben nicht nur falsch. Und wäre es immer noch falsch, wenn unsere Welt eine andere wäre? 

Der Fall Saraswati erinnert an den der US-Professorin Rachel Dolezal, die sich jahrelang als Schwarze ausgegeben hatte, bevor sie 2015 enttarnt wurde. 

Rachel Dolezal war die Inspiration für Saraswati. Die Debatte hat mich damals an einem intimen Punkt getroffen, denn viele Fragen, die Dolezal gestellt wurden, wurden mir mein Leben lang auch gestellt: „Wer bist du wirklich, woher kommst du wirklich, kannst du beweisen, wer du bist?“ Wir als BIPoCs fordern ja immer ein, dass unsere Antwort darauf zählt. Aber Dolezal durfte in diesem Moment nicht mehr definieren, wer sie ist. Darum konnte ich ihren Schmerz verstehen. Gleichzeitig konnte ich verstehen, dass ihr Verhalten auf massiven Widerstand gestoßen ist, weil die Wut und die Trauer über die rassistische Vergangenheit der USA sich an ihr kulminiert haben. Mit Saraswati habe ich den Fall nach Deutschland geholt, wo die Debatte über Rassismus aber andere Voraussetzungen hat als in den USA.

„Die Erfahrungen von PoCs sind in meinem Buch die Norm“

Inwiefern?

Ich kann mich an Konferenzen erinnern, auf denen Amerikaner*innen bemängelt haben, es seien keine PoCs auf dem Podium, während dort zum Beispiel Leute saßen, deren Familien aus Griechenland oder aus der Türkei kamen. In Amerika wären sie weiß, hier sind sie PoC. Es gibt hier eine ganz andere Migrations- und Kolonialgeschichte und dadurch ganz andere politische Verstrickungen als in den USA. Trotzdem importieren wir viel unserer politischen Theorie von dort. 

Nivedita hat neben dem Konflikt mit Saraswati auch einen Generationenkonflikt mit ihrem indischen Vater. Der ist genervt, wenn sie über „Mikroagressionen“ spricht, und sagt: „Wir haben früher noch echten Rassismus erlebt!“ 

Die beiden mussten und müssen sich unter anderen Bedingungen mit Rassismus auseinandersetzen. Die Generation von Niveditas Vater hat nicht gelernt, darüber zu reflektieren. Er konnte eigentlich nur dann über Rassismus sprechen, wenn er zusammengeschlagen wurde. Wenn er aber nicht mal für sich selbst Empathie aufbringen durfte, wo soll er sie für seine Tochter hernehmen?

Nivedita und ihre Kommiliton*innen haben im Gegensatz dazu sehr gut gelernt, über Rassismus zu sprechen, sie kommunizieren in einem „fantastischen akademischen Abkürzungscode“. Ist das nicht problematisch, weil dadurch nicht alle mitdiskutieren können?

Doch, und wenn ich an Unis bin, merke ich immer wieder, dass Menschen Angst davor haben, sich zu beteiligen, weil sie den Code nicht kennen. Darum habe ich in meinem Buch versucht, viele Aspekte der Postcolonial Studies nebenher zu erklären – zum Beispiel durch das Interview, das Nivedita im Deutschlandfunk gibt, oder durch ihre Blog-Posts. Ich möchte, dass meine Leser*innen kein abgeschlossenes Studium brauchen. Gleichzeitig ist es mir wichtig, dass sie sich emotional auf die Wahrnehmungswelt von Nivedita einlassen. Die wird nicht erklärt, denn die Erfahrungen von PoCs sind in meinem Buch die Norm.

Einen weiteren Konflikt hat Nivedita mit ihrer Cousine Priti aus Großbritannien. Nivedita beneidet sie um ihr Leben in einer indischen Community in Birmingham, während Priti sagt, der Rassismus in Deutschland sei „kuschelig“. Ist da was dran?

Nivedita hat in Deutschland nie anti-indischen Rassismus erfahren. Als nicht-Weiße schon, aber Inder*innen gelten hier unter den Menschen mit sichtbarem Migrationshintergrund als „die Allerbesten“. In England ist das ganz anders, Priti hat dort nackten Rassismus erfahren. Aber als Teil einer sichtbaren Minderheit hat Priti auch Vorteile.

Welche denn?

In Birmingham ist sie Teil einer Community, während Nivedita, die noch dazu „mixed-race“ ist, in Deutschland nirgendwo richtig dazugehört. Ich kann mich selbst noch erinnern, wie ich als Kind das erste Mal in London war: Auf der Straße war mein Körper plötzlich nicht mehr komisch, und das war so angenehm! Was ich damit sagen will: Nivedita und Priti haben beide Recht. Es gibt keine objektive Wahrheit.

„Als Schwarzer Mensch ist man in Deutschland mit einem Rassismus konfrontiert, den man sich nicht vorstellen kann, wenn man nicht selbst betroffen ist“

Einen dritten Konflikt durchlebt Nivedita mit ihrer Freundin Oluchi, die als Schwarze andere Rassismuserfahrungen macht als sie.

Nivedita und Oluchi verbindet viel: Sie sind Saraswatis Star-Studentinnen, haben beide eine Geschichte mit demselben narzisstischen Ex-Freund, sind beide mixed-race, stammen aus demselben Milieu. Aber als Schwarzer Mensch ist man in Deutschland mit einem Rassismus konfrontiert, den man sich nicht vorstellen kann, wenn man nicht selbst betroffen ist. Darum reagiert Oluchi so viel härter auf die Enthüllung von Saraswati als Nivedita. 

Das Buch verhandelt Identität, aber auch Identitätspolitik, die sich immer nur auf ein einziges Merkmal einer Gruppe bezieht. Können dann zum Beispiel Nivedita und Oluchi überhaupt zusammen gemeint sein, wenn sie doch so unterschiedliche Erfahrungen machen?

Das ist ja das Riesenproblem mit Identitätspolitik, dass sie behauptet: „Es gibt ein wichtigstes Merkmal, das deine Identität ausmacht, alle anderen sind dem nachgeordnet.“ Das ist einerseits falsch, andererseits sind es eben politische Identitäten, über die man bestimmte Rechte einfordert, da muss man Sachen vereinfachen. Im Moment gibt es viele gemeinsame politische Forderungen von BIPoCs, aber ich habe es auch schon erlebt, dass Schwarze Menschen in Debatten gesagt haben: „Du hast es viel besser als ich.“ Das stimmt, gleichzeitig sind das sehr verletzende Momente, weil man vorher noch dachte: „Wir sitzen im selben Boot.“ Und weil da so ein bisschen das Gefühl mitschwingt – und nimm das jetzt bitte nicht mit auf ins Interview – dass Diskriminierung uns zu besseren Menschen macht.

Das war jetzt „off the record“?

Ja. Oder vielleicht auch nicht. Das ist ja eigentlich auch Thema des Buches, dass Saraswati sich nach dieser Diskriminierung sehnt.

Weil eigene Diskriminierungserfahrungen derzeit oft als Voraussetzung dafür gelten, über Rassismus sprechen zu dürfen? 

Ja. Ganzen Gruppen von Menschen wurde sehr lange verboten zu sprechen, darum ist es wichtig zu sagen: „Wir reden jetzt für uns selbst!“ Gleichzeitig ist das Private noch nicht politisch, es muss erst dazu gemacht werden, Erfahrung adelt mich noch nicht. Nehmen wir die Debatte um „Die letzte Instanz“ beim WDR: Natürlich müssen von Rassismus Betroffene eingeladen werden – aber man muss auch Leute einladen, die sich mit dem Thema auseinandergesetzt haben. Das ist ja kein Widerspruch, ich kenne ganz viele BIPoC-Rassismus-Expert*innen. Aber wir wollen es immer so gefühlig: „Wie empfindest du denn Rassimus?“ Dabei ist Rassismus ja kein Gefühl, sondern etwas, das man analysieren kann. Gleichzeitig würde es eine gesamtgesellschaftliche Debatte unmöglich machen, wenn nur noch Menschen mit Rassismuserfahrung über Rassismus sprechen dürften. Ich halte es sowieso für naiv zu glauben, dass es Menschen gibt, die nicht von Rassismus betroffen sind.

Aber als Weiße bin ich doch nicht davon betroffen?

Auch wenn man weiß ist, ist man von Rassismus betroffen: Weil man privilegiert ist und man auf der Seite der Schuldigen steht. Da muss man doch darüber nachdenken dürfen, was das mit einem selbst und mit dem eigenen Verhältnis zur Welt macht! „Ihr müsst den Mund halten und euch schämen“, finde ich eine politisch beknackte Forderung. Obwohl ich natürlich auch Menschen kenne, bei denen ich mir denke: „Halt bitte den Mund.“ 

In der Debatte um Saraswati wird über den Begriff „transracial“ diskutiert, analog zu „transgender“, weil „race“ und „gender“ beides soziale Konstrukte seien. Kann man das wirklich vergleichen?

Wenn man es sich ganz genau anschaut, ist „race“ eigentlich viel konstruierter als „gender“. Ich will überhaupt nicht sagen, dass „gender“ echt ist – aber es hat immerhin noch eine biologische Ausformung, die nachvollziehbar ist, während „race“ wirklich absolut arbiträr ist. Der Unterschied ist, dass „race“ über Generationen vererbt wird, dadurch haben wir das Gefühl, dass es eine viel stabilere Kategorie ist als „gender“, wo der Würfel bei jedem Menschen neu fällt. Saraswati spart die transgenerative Ebene von „race“ einfach aus und sagt: „Ich nehm’ die Abkürzung!“ Ich glaube sogar, dass das möglich sein könnte – aber dafür müsste sie die Gesellschaft verändern, nicht ihre Hautfarbe.

Inwiefern?

Es müsste erst einmal viel anti-rassistisches Wissen an Schulen unterrichtet werden, Institutionen müssten sich ihrem rassistischen Bias stellen. Die Medizin müsste erforschen, wie Krankheitssymptome auf nicht-weißer Haut aussehen – dieses Wissen ist ja immer noch nicht vorhanden, deshalb können Ärzt*innen, egal wie antirassistisch sie sind, nicht darauf achten. Und wenn all das erreicht wäre, müssten wir uns als Gesellschaft Gedanken über kollektive Trauer und über Heilung machen.

Im Buch gibt es zur Möglichkeit von „transrace“ ein Zitat der Soziologin Paula-Irene Villa Braslavsky: „Körper wie Saraswatis sind heute nicht denkbar, aber vielleicht sind sie das morgen oder übermorgen.“

Ja, ich glaube auch, dass „transrace“ in ein paar Generationen akzeptierter sein könnte. Den Satz hat Villa Braslavsky übrigens selbst zum Buch beigesteuert, das ist eines der vielen gespendeten, wahnsinnig tollen Zitate!

„Für mich war Hanau ein zentrales Ereignis und sehr belastend“

Auch viele Tweets haben einige Menschen extra für dein Buch geschrieben, zum Beispiel Fatma Aydemir, Felix Dachsel, Kübra Gümüşay und Ijoma Mangold.

Der Fall Dolezal wurde damals breit online diskutiert, aber ich war mir nicht ganz sicher, ob man in Deutschland auch so heftig darauf reagieren würde. Darum habe ich ein paar Leute gefragt: „Welchen Tweet würdest du dazu schreiben?“ Und die Tweets waren so toll, dass ich noch mehr Menschen angeschrieben haben. Im Nachhinein bin ich froh darüber, denn all die verschiedenen Sichtweisen und Schreibstile in den Twitter-Feeds hätte ich so ja gar nicht hinbekommen.

Am 19. Februar 2020 hat ein Rassist in Hanau neun Menschen erschossen. Du hast damals noch an deinem Buch gearbeitet und den Anschlag darin aufgenommen. Es fällt der Satz: „Der Anschlag in Hanau hat alles verändert.“ Hat er auch das Buch verändert?

Ich hatte schon vorher geplant, mit einem rassistischen Anschlag zu enden. Zum einen, weil der Shitstorm gegen Rachel Dolezal aufgehört hat, als ein weißer Rassist, Dylann Roof, in Charleston neun Schwarze erschossen hat, und klar war, dass man jetzt erst mal nicht mehr in dieser Form über das Thema sprechen kann. Zum anderen, weil ich schockiert war, dass diese Anschläge in der deutschen Literatur nicht vorkommen – das ändert sich gerade, etwa zeitgleich mit meinem Buch erscheinen zum Beispiel die Romane von Hengameh Yaghoobifarah und Shida Bazyar, die sich damit auseinandersetzen. Als Hanau passierte, wollte ich keinen fiktiven Anschlag mehr ins Buch hineinschreiben, sondern den realen Opfern ein – wenn auch sehr kleines – Denkmal setzen. 

Was hat der Anschlag für dich persönlich verändert?

Für mich war Hanau ein zentrales Ereignis und sehr belastend. Es ist nicht so, dass ich in meinem Alltag das Gefühl habe, auf der Straße gefährdet zu sein, denn Deutschland ist nicht das gefährlichste Land, in dem man als nicht-weiße Person leben kann. Ein Anschlag wie dieser ist nicht die Realität in Deutschland – aber er ist ein Teil der deutschen Realität und etwas, worüber wir gemeinsam trauern müssen. 

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