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Liv Strömquist: Rezension zu „Ich fühl's nicht“ über Liebe und Kapitalismus
Als die Schriftstellerin Hilda Doolitte bei einer Schiffsreise an Deck den Architekten Peter van Eck trifft, ist sie hin und weg: seine Augen so blau, er so groß und irgendwie viel attraktiver, als sie ihn in Erinnerung hatte! Als die beiden gemeinsam aufs Meer blicken, sehen sie Delfine, die zu fliegen und zu tanzen scheinen. Ihre feste Freundin, die natürlich wenig begeistert davon ist, dass ihre Partnerin mit fremden Architekten flirtet, beruhigt Doolittle anschließend mit der schönsten aller Erklärungen: Weil van Eck ja plötzlich so übertrieben attraktiv gewesen sei und weil sie Delfine gesehen hätten, aber sonst niemand, müsse sie wohl kurzzeitig in einer anderen Dimension gewesen sein! Und obwohl das ziemlicher Unsinn ist, ist es gleichzeitig wahr: Jede*r, der oder die sich schon mal verknallt hat, weiß, dass sich das so anfühlen kann, als sei einem gerade etwas Mystisches, Übersinnliches und völlig Unerklärliches passiert.
Hilda Doolittles leidenschaftlicher Flirt – beziehungsweise ihre Reise in eine andere Dimension – ist nur eine von vielen etwas verrückten, aber auch sehr romantischen Liebesgeschichten, die die schwedische Zeichnerin Liv Strömquist in ihrem neuen Buch „Ich fühl’s nicht“ erzählt. Aus ihren drei vorigen auf Deutsch erschienen Büchern – „Der Ursprung der Liebe“, „Der Ursprung der Welt“ und „I’m every woman“ – kennt man Strömquist als überzeugte Feministin. Als bissige Analytikerin, die in Comic-Form den Erzfeind namens „Patriarchat“ auseinandernimmt, weil der ja nun wirklich lange genug über unsere Vaginas, Beziehungen und Karrieren bestimmt habe. Es ging viel um Geschlechterkampf, Befreiung und Unabhängigkeit – und (Liebes-)Beziehungen waren vor allem ein Konstrukt, in dem Frauen ausgebeutet wurden. „Ich fühl’s nicht“ ist anders. In diesem Buch feiert Liv Strömquist die romantische, irrationale Liebe und der Feind ist jetzt ein anderer: der Spätkapitalismus.
„Viele unserer Befreiungskämpfe wurden in den vergangenen Jahren vom Kapitalismus übernommen“, erklärt Strömquist diese neue Ausrichtung in einem Gespräch über Skype. Sie verweist zum Beispiel auf die Kampagne eines schwedische Online-Bezahl-Dienstes, der mit Frauen wirbt, die sich selbst einen teuren Ring kaufen, statt darauf zu warten, dass ein potenzieller Partner ihnen einen an den Finger steckt: Emanzipation als Trend und Vermarktungstool. In „Ich fühl’s nicht“ blickt Strömquist noch eins tiefer ins System und beschreibt, wie die liberale Marktlogik in unsere Beziehungen eingedrungen ist. Zum Beispiel in die von Leonardo DiCaprio.
Verlieben wir uns heute ein bisschen so, wie wir shoppen gehen?
Mit denen beginnt dann auch das Buch. DiCaprio ist bekannt dafür, selbst immer älter zu werden, aber stets eine Freundin Anfang Zwanzig zu haben – und wenn Strömquist die (vermutlich noch nicht beendete) Serie von blonden Bademode-Models neben dem mittelgescheitelten Mann im „Los Angeles“-Shirt zeichnet, sieht das tatsächlich noch ein bisschen absurder aus als in Wirklichkeit. Für DiCaprio, stellt Strömquist fest, scheint es egal zu sein, mit wem genau er zusammen ist, er sei „irgendwie wie eine lauwarme Herdplatte, die das Wasser nie richtig zum Kochen bringt“. Und damit scheint er kein Einzelfall zu sein, denn das Gefühl, sich zu verlieben, schreibt Strömquist, werde immer außergewöhnlicher.
Sie erklärt dieses Phänomen anschließend anhand verschiedener Theorien von Philosoph*innen und Soziolog*innen (besonders prominent vertreten: Eva Illouz und Byung-Chul Han), die sich grob so zusammenfassen lassen: Zum einen haben wir heute durch gelockerte gesellschaftliche Konventionen und durch Dating-Portale die Möglichkeit, Partner*innen auszuwählen, die besonders gut „zu uns passen“. Wenn es irgendwann nicht mehr so gut passt, naja, dann „shoppt“ man halt den nächsten Menschen von der Stange – siehe DiCaprios Models. Zum anderen hat uns die Leistungsgesellschaft zu Narzist*innen gemacht. Es geht uns mittlerweile so sehr um Selbstverwirklichung und -optimierung, dass wir vor allem nach Partner*innen suchen, die nicht von uns verlangen, dass wir viel in die Beziehung „investieren“ oder Kompromisse machen, sondern die uns eigentlich einfach nur spiegeln. „Man macht lieber ein sexy Selfie als ein sexy Bild von jemand anderem“, steht dazu neben zwei gezeichneten Leonardo DiCaprios, die sich gegenseitig tief in die Augen schauen. Am Ende haben wir nämlich nur eine Beziehung, die zählt: die zu uns selbst.
Der Trend zur Selbstliebe, der auf Instagram so bunt, fröhlich und „empowernd“ rüberkommt, wird in „Ich fühl’s nicht“ zur traurigen Dystopie. Da bevölkern lauter krakelige Männlein und Weiblein (und DiCaprios) die Seite, die zwar jeden Morgen zehn Mal den Sonnengruß machen können und sich dank unzähliger Therapiesitzungen extrem gut selbst kennen – aber leider unfähig sind, sich emotional auf jemand anders einzulassen als auf sich selbst.
Liebe kann auch überraschend, verschwenderisch, umwerfend und unglaublich intensiv sein
Keine Sorge: Trotz dystopischer Visionen ist das Buch immer noch sehr, sehr lustig. Dafür sorgen zum Beispiel Miraculix, Papa Schlumpf und Jabba The Hutt, die als egoistische Partner in Beziehungen auftreten; ein Slavoj Žižek, dessen gelangweilter Gesichtsausdruck erstaunlich gut getroffen ist; und natürlich die vielen anderen Strömquist-typisch lakonischen Figuren („Hast du einen letzten Wunsch?“, fragt der Tod einen modernen Mann, „Ich hätte gerne einen Rote-Beete-Saft“, sagt der natürlich total gesund lebende moderne Mann). Für noch mehr gute Laune sorgen außerdem all die verrückten Liebesgeschichten – etwa die erwähnte von Hilda Doolittle – die Strömquist erzählt, um zu zeigen, wie Liebe eigentlich sein kann und ihrer Meinung nach auch wieder öfter sein sollte: überraschend, verschwenderisch, umwerfend und unglaublich intensiv.
Trotz Strömquist-Humor und romantischer Anekdoten ist „Ich fühl’s nicht“ verkopfter, theoretischer und dadurch intellektuell herausfordender als die Vorgänger – schlechter ist der Comic dadurch aber auf keinen Fall. Auffällig ist allerdings, dass Strömquist die Ergebnisse ihrer Analysen diesmal erstaunlich oft relativiert: „Vielleicht“ ist eines der häufigsten Wörter in diesem Buch und zum Schluss bittet sie sogar alle zitierten Philosoph*innen, Soziolog*innen und Dichter*innen um Verzeihung, „die ich nicht richtig verstanden, falsch erklärt oder ungenau wiedergegeben habe“. Aber vielleicht (!) liegt das einfach daran, dass dieses Thema nun mal schwer in Wort und Bild zu fassen ist. Oder wie Liv Strömquist selbst sagt: „Man kann Liebe nicht erklären – sondern muss sie erleben.“