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„Lost“ ist Jugendwort des Jahres 2020
Seit zwölf Jahren wird (als eine Art Werbeaktion) vom Langenscheidt-Verlag das Jugendwort des Jahres gekürt. Und seit zwölf Jahren sind junge Leute entsetzt über die Auswahl: Gammelfleischparty, hartzen, Niveaulimbo, Swag, YOLO, Babo, Läuft bei dir, Smombie, fly sein, I bims, Ehrenmann und Ehrenfrau – all diese Wörter wurden schon gekürt, obwohl junge Leute viele davon nicht wirklich gebrauchen.
Am vergangenen Donnerstag dann aber die Überraschung: Das Jugendwort des Jahres ist „lost“. Ein Wort, das Jugendliche tatsächlich sehr häufig verwenden.
„Eine Person, die lost ist, ist ahnungslos, verloren oder hat einfach keinen Plan, was eigentlich gerade abgeht“, erklärt der Verlag auf seiner Website den Begriff. Und jeder junge Mensch kann dem tatsächlich zustimmen.
Dazu konnte es nur kommen, weil in diesem Jahr nicht eine Jury unter Leitung des Langenscheidt-Verlages abgestimmt hat – in der säße natürlich kein einziger Jugendlicher. 2020 wurde das Ganze nämlich endlich, endlich uns überlassen: den Menschen, die Jugendwörter wirklich benutzen.
Da kamen Ausdrücke vor wie: „Voll raumschiff!“ oder „Hirni“
Komisch eigentlich, dass das so lange gebraucht hat. Denn zumindest Menschen unter 30 Jahren wissen seit Jahrzehnten, wie wenig authentisch es wirkt, wenn Erwachsene über Jugendsprache nachdenken und im schlimmsten Fall versuchen, sie wiederzugeben. Und die Mitglieder der früheren Jurys müssen doch auch mal jung gewesen sein? Ich erinnere mich beispielsweise an Schulbücher, sowohl im Deutsch- als auch im Fremdsprachenunterricht, die Jugendsprache thematisierten und mich erschaudern ließen. Da kamen Ausdrücke vor wie: „Voll raumschiff!“ oder „Hirni“. Es wirkte immer zu stark gekünstelt, konstruiert – einfach lächerlich. In dieser Manier kündigte der Verlag übrigens auch spritzig und gewollt jugendlich das Jugendwort 2020 an: „Ihr habt gevotet!“ Das deutsche Wort „abgestimmt“ war den Autoren wohl nicht poppig genug.
Das muss man der diesjährigen Kampagne also zugute halten: Die Jungen haben tatsächlich „gevotet“, der Langenscheidt-Verlag hat auf die Kritik aus den vergangenen Jahren reagiert – und Einsicht ist doch fast immer was Schönes.
Der kurzzeitige Favorit „Hurensohn“ schaffte es nicht in die Vorauswahl
Ein bisschen Mitbestimmung konnte sich der Verlag allerdings trotzdem nicht verkneifen: Eine Jury erstellte aus etwa eine Million eingereichten Vorschlägen eine Vorauswahl, erst dann durften die Jungen wählen. Der kurzzeitige Favorit „Hurensohn“ (wohl dem Engagement von Trollen auf reddit zu verdanken) schaffte es dabei beispielsweise nicht über diese Hürde. Langenscheidt sagte dazu in einer Insta-Story, dass sie keine diskriminierenden Wörter zuließen. Die Wahl entschied sich letzten Endes zwischen den Finalisten „wild“, „lost“ und „cringe“. Am Ende gewann „lost“ mit einer deutlichen Mehrheit von 48 Prozent.
Angesichts des (zumindest teilweise) demokratischen Auswahlprozesses, glaube ich jedenfalls, dass das diesjährige Jugendwort der Realität der Jugendsprache etwas näher kommt als sonst. Außerdem besitzt es eine erschreckende Aktualität. Fühlen wir uns im Moment nicht alle mehr oder weniger lost? Niemand kann sicher vorhersagen, welchen Verlauf die Corona-Pandemie in den nächsten Wochen und Monaten nehmen wird. Alle hoffen gesund und ohne strenge Einschränkungen über den bevorstehenden Winter zu kommen. Das Jugendwort drückt 2020 also ein allgemein um sich greifendes Gefühl aus – und das ganz, ohne dabei „cringe“ zu sein.