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Heavy-Metal-Festival Wacken hat coronabedingt online stattgefunden
Wacken 2020. Erster Festivaltag. In wenigen Minuten beginnen die Konzerte! Die Vorfreude steigt. Doch statt mit einer Horde Metalheads vom Campingplatz zum Festivalgelände zu pilgern, eile ich nach Hause und fahre meinen Laptop hoch. Ich ziehe keine mit Gaffa-Tape geflickten Gummistiefel an, sondern schlüpfe in meine pinken Plüsch-Pantoffeln und mache es mir auf dem Sofa gemütlich. Denn das wichtigste Heavy-Metal-Festival der Welt wird dieses Jahr coronabedingt online stattfinden.
Auf dem „Holy Ground“ der Gemeinde Wacken in Schleswig-Holstein, auf dem sich am ersten Augustwochenende normalerweise ein Meer aus Wurfzelten und Campingstühlen ausbreitet, grasen dieses Jahr die Kühe. Aber ein Sommer ganz ohne Wacken? Für viele unvorstellbar. Ob extreme Hitze oder strömender Regen – das Wacken Open Air hat bisher noch allen Widerständen getrotzt. Und selbst eine Pandemie kann das wohl bedeutendste Heavy-Metal-Festival der Welt nicht in die Knie zwingen. Unter dem Motto „Rain or Shine or Online“ hat das Wacken-Team einen Festival-Livestream auf die Beine gestellt. „Wacken World Wide“ heißt das virtuelle Spektakel, das den Metalheads die Wacken-Vibes vom 29. Juli bis 1. August direkt ins Wohnzimmer bringen sollte.
Jessica, 30, feiert sie das Wacken World Wide zusammen mit ihren Freund*innen im Ferienhaus ihrer Familie.
Ist ein Livestream wirklich eine Entschädigung für den entfallenen Festivalsommer?
Am Mittwochnachmittag um Punkt 17 Uhr starte ich erwartungsvoll den Livestream: Meine persönliche Festivalsaison 2020 ist hiermit eröffnet! Zu Hause. Allein. Ein bisschen bemitleidenswert komme ich mir in diesem Moment schon vor. Bei strahlendem Sonnenschein sitze ich (freiwillig!) in meiner abgedunkelten Wohnung und starre auf einen Bildschirm. Festivalstimmung fühlt sich anders an.
Trotzdem freue ich mich auf den Livestream und bin gespannt, was mich erwartet. Denn ich gehörte nicht zu den Frühentschlossenen, die vergangenes Jahr ein Ticket für das Wacken 2020 ergattern konnten. Innerhalb von 21 Stunden waren alle 75 000 Karten restlos ausverkauft. Mit dem Livestream bekomme nun auch ich die Chance, ein wenig Wacken-Luft zu schnuppern. Noch dazu bequem von zu Hause aus und ohne einen Cent dafür ausgeben zu müssen. Klingt doch erst mal super. Aber ist ein digitales Festival wirklich eine annehmbare Entschädigung für einen entfallenden Festivalsommer? Oder ist es einfach nur traurig, alleine vor dem Fernseher zu headbangen?
Das internationale Konzept des Wacken World Wide scheint aufzugehen: Der Stream beginnt mit Video-Einsendungen von Fans. Metalheads aus Malaysia, Kanada, Mexiko, Schottland, Neuseeland und Oberbayern recken begeistert die gehörnten Hände in die Kamera. „Eurovision Song Contest“-Feeling für die Metal-Community. Das musikalische Programm ist eine Mischung aus Archivmaterial, exklusiv eingespielten Live-Auftritten und Zoom-Gigs. Metalqueen Doro rockt ein Autokonzert, Rapper Alligatoah gibt ein Metal-Medley zum Besten und Body Count Featuring Ice-T setzen mit erhobenen Fäusten ein Zeichen gegen Rassismus und Polizeigewalt. Dazu gibt es Gitarrenworkshops, Fan-Aktionen, Interviews und Einblicke hinter die Kulissen des Wacken-Festivals. Langeweile kommt bei diesem Programm jedenfalls nicht auf. Und dank stabiler Internetverbindung kann ich den Stream zwischenzeitlich sogar vom Liegestuhl auf dem Balkon aus fortsetzen. Um die Nachbarskinder nicht nachhaltig zu verstören, drehe ich die Lautstärke bei Arch Enemy dann aber doch ein wenig herunter.
Das obligatorische Festival-Bier wird selbstverständlich stilecht aus Original-Wackenbechern getrunken.
Via Zoom können Fans Teil der digitalen Performance werden: Viele kleine Videochat-Fenster erscheinen auf dem virtuellen Lichtermeer
Eine Besonderheit ist das eigens eingerichtete Mixed-Reality-Studio: Bands wie In Extremo, Kreator und Sabaton werden während ihres Liveauftritts in ein virtuelles Wacken-Set integriert. Das Publikum (inklusive gigantischer Circle Pits) wird als Meer wogender Lichtpunkte hinzu animiert. Via Zoom können Fans Teil der digitalen Performance werden: Viele kleine Videochat-Fenster erscheinen auf dem virtuellen Lichtermeer. Ein nettes Gimmick – nach all dem euphorischen Gerede über die Weltpremiere der spektakulärsten Mixed-Reality-Show aller Zeiten bin ich im ersten Moment dann aber doch ein wenig enttäuscht.
Richtig seltsam wird es, wenn zwischendurch ekstatischer Jubel und tosender Applaus eingeblendet werden. Ebenfalls virtuell versteht sich. Stimmung auf Knopfdruck sozusagen. Wie merkwürdig müssen sich erst die Musiker*innen fühlen, wenn sie unsichtbare Menschenmassen zum Mitmachen auffordern und sich für maschinellen Beifall bedanken? Maik Weichert von der Band Heaven Shall Burn vergleicht die technisch generierte Zuschauerreaktion im Interview augenzwinkernd mit Prostitution. Hat man sich mit dieser artifiziellen Inszenierung aber erst einmal abgefunden, lässt sich das Spektakel durchaus genießen. Und wie cool sind bitte virtuelle Kühe, die im Takt der metallischen Klänge headbangen?!
Die Organisator*innen bemühen sich tapfer, ein authentisches Festival-Feeling nachzuahmen. Sogar mit Souvenir-Tickets, Festival-Bändchen und Merch Artikeln kann man sich ausstatten. Doch wie heißt es so schön? Der Headliner von Wacken ist Wacken. Was nützen headbangende Kühe und all die Kosten und Mühen ohne das überwältigende Gemeinschaftsgefühl? Was ist ein Festival ohne Camping? Ohne Crowd-Surfing? Ohne Flunkyball? Ohne versiffte Dixiklos? Ohne Ravioli und Bier aus der Dose? Auf meinem Liegestuhl fühle ich mich vom Wacken-Livestream zwar gut unterhalten, aber so richtig überspringen will der Festival-Funke noch nicht. Aber vielleicht zelebriere ich das Ganze auch einfach nicht leidenschaftlich genug?
„Es kann das echte Wacken nicht ersetzen, aber in diesen Zeiten ist es eine gute Alternative“
Tatsächlich sind andere Fans da sehr viel kreativer als ich. Unter Hashtags wie #metaliscominghome teilen Wacken-Enthusiasten Fotos von Wurfzelten im Wohnzimmer, von Planschbecken voller Dosenbier und von Hunden und Kleinkindern in Bandshirts und Kutten. Auch Jessica, 30, hat sich etwas einfallen lassen: Anstatt sich alleine vor den Laptop zu setzen, feiert sie das Wacken World Wide zusammen mit ihren Freund*innen im Ferienhaus ihrer Familie. In typischer Wacken-Manier wird im Garten gecampt und gegrillt. Auf einer Leinwand verfolgt die Festival-Crew den Livestream. Aus einer großen Musikanlage dröhnen die harten Metal-Riffs. Für Jessica ist das Online-Festival zwar kein Ersatz, aber immerhin ein Trost: „Es kann das echte Wacken nicht ersetzen, aber in diesen Zeiten und mit den richtigen Leuten ist es eine wahnsinnig gute Alternative! Wir rocken auf jeden Fall und haben Spaß!“
Die 33-jährige Janine macht ebenfalls das Beste aus der Situation. Mit ihrer Drei-Generationen-Festivalgruppe sollte sie jetzt eigentlich in Wacken sein. Stattdessen hat die Truppe ihr Camp dieses Jahr im Garten aufgeschlagen. Schließlich ist der Heimvorteil nicht zu unterschätzen: „Man genießt natürlich den Luxus zu Hause – Stichwort Toilette und Dusche … Das Essen darf dann aber gerne vom Gaskocher sein oder das fertig gekaufte Frikadellen-Brötchen.“ Das obligatorische Festival-Bier wird selbstverständlich stilecht aus Original-Wackenbechern getrunken. Schon im Vorfeld hat die Grundschullehrerin Janine gewissenhaft einen ausführlichen Zeitplan für die Konzerte erstellt. In der Nachbarschaft erregt so ein privates Festival natürlich Aufsehen: „Wir wohnen in so einer spießigen Neubausiedlung. Als wir angefangen haben, Plakate aufzuhängen und den Fernseher samt Surround-System nach draußen zu tragen, guckten die Nachbarn erst etwas komisch.“ Nach anfänglicher Verwunderung seien dann aber viele vorbeigekommen, um sich bei einem kühlen Getränk selbst ein Bild vom Festival im Nachbargarten zu machen.
Kein Livestream der Welt kann das echte Konzerterlebnis ersetzen
Jessica, Janine und ich sind uns einig: Ein digitales Festival ist auf jeden Fall besser als überhaupt kein Festival. Aber feststeht auch: Kein Livestream der Welt – möge er noch so ausgeklügelt sein – wird je das echte Konzerterlebnis ersetzen können. Trotzdem ist ein solches Ereignis in Zeiten wie diesen ein Lichtblick für Bands und Fans. Das Wacken World Wide beweist, dass ein Online-Festival – mit ein wenig Kreativität und Kompromissbereitschaft – tatsächlich funktionieren kann. Und sei es nur, um die Wartezeit bis zum nächsten Festivalsommer erträglicher zu gestalten. Sollte die Sehnsucht nach analogen Festivals in der Zwischenzeit doch mal überhand nehmen, empfehle ich folgende Übung: Einfach im Geiste ein Dixi-Klo nach drei Festivaltagen visualisieren. Problem gelöst. Gern geschehen.