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Das Unglück schreitet schnell: Interview mit Johannes Böhme
Was haben die eigenen Großeltern eigentlich genau getan in der Zeit des Nationalsozialismus? Was haben sie gedacht? Wie haben sie geliebt? Viele von uns wissen das nicht so genau. Johannes Böhme, 1987 geboren, hat in der eigenen Familie nachgeforscht. Anderthalb Jahre wühlte er für sein jetzt erschienenes Buch „Das Unglück schreitet schnell“ in Archiven, las alle Briefe, die seine Großmutter und ihr erster Mann Hermann einander schrieben. Hermann starb in Stalingrad, seine letzten Zeilen erreichten seine damalige Frau im Januar 1943. Johannes Böhme spürt der Liebesgeschichte der beiden nach, folgt Hermanns Weg durch den Krieg. Und erzählt von den Spuren, die Gewalt hinterlässt.
Mit uns hat er unter anderem darüber gesprochen, wieso sich die Enkelgeneration intensiver mit der eigenen Familiengeschichte auseinandersetzen sollte, bevor es gar keine Zeitzeugen mehr gibt.
jetzt: Du hast anderthalb Jahre recherchiert und dich intensiv mit dem Holocaust auseinandergesetzt. Wann war das besonders schwer?
Johannes Böhme: Es gab immer wieder Momente in der Recherche, die mir den Atem genommen haben. Zum Beispiel gibt es im Buch eine kleine Szene, in der eine ukrainische Miliz unter Anleitung der SS kleine Kinder erschießt, darunter Babys und Kleinkinder, die noch gar nicht laufen konnten. Die wurden am Rande einer Grube vor einem Erschießungskommando abgelegt. Die Henker haben gezittert und nicht richtig getroffen. Die Szene ist derart grausam, das Zeugnis einer solchen Entmenschlichung. Ich habe sehr, sehr viele Versuche gebraucht, um sie zu schreiben.
Hermann war zwar nicht Teil der SS, aber eine Kompanie aus seiner Division hat etwas von dem Vorfall mitbekommen. Er war zur gleichen Zeit im Ort, als die Kinder dort ohne Wasser und Essen in einem Haus gefangen gehalten wurden. Es wurde auch kurz darüber diskutiert, ob Soldaten aus seiner Division die Kinder erschießen sollen. Letztlich hätte auch er dort einige Meter von der Grube entfernt stehen können.
Inwieweit hat deine Recherche das Bild verändert, das du und deine Familie von Hermann hattet?
In unserer Familie hieß es immer, Hermann sei in der SS oder der SA gewesen. Das stimmt nicht. Aber der Grundtenor war nicht falsch. Er war überzeugt von den Ideen Adolf Hitlers, er war auf jeden Fall Nationalsozialist. Als er in Stalingrad starb, glaubte er noch immer an diesen Krieg. Es ist oft so, dass die Erinnerungen und Vermutungen in Bezug auf unsere Verwandten nur Halbwahrheiten sind. Wir wissen oft nicht welche Hälfte nun stimmt und welche nicht. Es fehlt an Genauigkeit.
Böhmes Großmutter und ihr damaliger Mann Hermann.
Findest du, unsere Generation sollte sich insgesamt noch einmal intensiver mit der Geschichte unserer Großeltern auseinandersetzen?
Ja. Aber ich weiß auch, dass das sehr aufwändig ist und dass sich nicht einfach jeder drei Monate freinehmen kann, um in Archiven zu stöbern. Dennoch: Wir sind die letzte Generation, die teilhatte an persönlichen Kriegserinnerungen. Unsere Großeltern haben uns Dinge erzählt, die uns begleiten. Nach uns bricht der direkte Kontakt zur Kriegsgeneration ab. Wenn wir diese Geschichten jetzt nicht noch einmal mit aller Wucht aufschreiben, dann war es das. Bald wird das alles ganz weit weg sein. Wie der Deutsch-Französische Krieg 1870. Da weiß auch kein Mensch mehr, was der Ur-Ur-Opa da gemacht hat.
„Auch zärtliche Menschen können an Partisanenerschießungen teilgenommen haben“
Vielleicht haben wir auch Angst vor dem, was wir herausfinden könnten.
Das ist sicher ein Grund. Es gibt eine Studie der Uni Bielefeld aus dem Jahr 2018: 69 Prozent der befragten Menschen denken, dass es in ihrer Familie keine Täter gibt. Dabei wäre die einzige ehrliche Antwort meistens gewesen: Ich weiß es nicht. Keine Ahnung. Viele aus der Enkelgeneration haben ein viel zu optimistisches Bild von ihren Großeltern. Da ist ganz viel Wunschdenken im Spiel. Man erkennt eine Kollektivschuld an – aber wenn es um die eigene Familie geht, dann ist man sich sicher, dass das herzensgute Menschen waren, die keiner Fliege etwas zu Leide tun konnten.
Aber auch herzensgute und zärtliche Menschen können an Partisanenerschießungen teilgenommen haben. Dafür mussten sie oft nur ein Gewehr tragen, zur falschen Zeit am falschen Ort sein und nur einen Moment lang nicht auf ihr Gewissen hören. Die Wahrheit ist: Meistens lässt es sich nicht mehr zweifelsfrei herausfinden, ob Verwandte an Verbrechen beteiligt waren. Dafür ist die Aktenlage oft einfach zu schlecht. Es geht vor allem darum die Möglichkeit zuzulassen, dass Verbrechen Teil der Familiengeschichte sein könnten.
War die Beziehung deiner Großmutter zu Hermann bei euch schon länger Thema in der Familie?
Schon als ich ein Kind war, haben meine Eltern immer wieder über die Briefe gesprochen, die meine Großmutter und Hermann einander geschrieben haben. Aber wir haben sie erst 2017 gelesen. Sie sind in Sütterlinschrift geschrieben, ich konnte sie also gar nicht alleine entziffern. Aber meine Oma hatte zwei mit der Maschine abgetippt – als ich die beiden gelesen hatte, wusste ich: Daraus will ich mehr machen. Mein Vater hat mir die restlichen Briefe übersetzt.
Wie war es für deine Eltern, so viel Neues über deine Großmutter und Hermann zu erfahren?
Nicht immer leicht. Mein Vater war insgesamt extrem involviert, er hat ja die Briefe für mich übersetzt, und ich habe insgesamt fast 20 Stunden systemische Interviews mit ihm geführt. Er hat versucht, sich zu erinnern. Über das, was ich herausgefunden habe und über das, was in den Briefen steht, waren meine Eltern teilweise schockierter als ich. Ich habe während der Recherche sehr viele Feldpostbriefe gelesen und in vielen standen die immer gleichen rassistischen Klischees über Franzosen, Polen, Russen, Ukrainer, die immer gleichen Überlegenheitsgefühle. Man stumpft da etwas ab.
„Ich finde die unspektakulären Leben oft interessanter als die hochdramatischen“
Du schreibst im Buch, dass du zu deiner Großmutter oft keinen richtigen Zugang hattest. Was hast du über sie herausgefunden, was dir geholfen hat, ihr Verhalten besser zu verstehen?
Ich habe verstanden, wie fragil die Welt sich für sie angefühlt hat, als mein Vater mir die Geschichte ihrer besten Kindheitsfreundin erzählt hat. Sie hat sich sich an einem rostigen Nagel verletzt, das war eine ganz kleine Verletzung an der Hand. Meine Oma hat später immer erzählt, wie unscheinbar der Schnitt aussah. Die Freundin starb einige Tage später an Tetanus. Irgendwie hat sie das immer begleitet. Sie hat sich selbst danach permanente Wachsamkeit verordnet. Ihr sollte so etwas nicht passieren. Sie war letztlich eine sehr ängstliche Frau.
Dein Buch ist sehr spannend, obwohl die Protagonisten ja ganz normale Menschen sind, die den Alltag im Krieg erleben. Hebt es sich dadurch auch ab von den vielen anderen Büchern, die es über den Nationalsozialismus schon gibt?
Ich finde die unspektakulären Leben oft interessanter als die hochdramatischen, außergewöhnlichen. Durch sie wird viel klarer, wie die Shoa möglich wurde. In der deutschen Literatur über den Krieg wird immer noch ganz viel ausgeblendet. Wenn deutsche Soldaten Protagonisten sind, dann werden die so beschrieben, dass der Leser sich mit ihnen identifizieren kann. Lauter junge Männer, die erst kurz vor Ende des Krieges eingezogen werden; die sowohl Täter als auch Opfer sind; und die irgendwann erkennen, dass der Nationalsozialismus ein einziges großes Verbrechen ist.
Eine unsympathische Figur in den Mittelpunkt eines Romans zu stellen, hat sich kaum jemand getraut – und wenn nur in der überspitzten Figur des komplett zynischen, unmoralischen SS-Offiziers. Es gibt aber Dinge, die man nicht versteht, wenn man ausblendet, dass es ganz normale Männer waren, die hochmotiviert in den Krieg gezogen sind - und die nie Einsicht oder Reue gezeigt haben. Auch Hermann hat das nicht. Und das findet in der Literatur bisher nicht wirklich statt.