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2000 Euro brutto für die Gewandmeisterin in Teilzeit

Ihre Leidenschaft fürs Nähen verdankt Anja ihrer Uroma. Von ihr erbte sie ihre erste Nähmaschine.
Foto: Privat/Bearbeitung: SZ Jetzt

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Anja arbeitet als Gewandmeisterin am Theater. Anhand von Entwürfen der Kostümbildner:innen kreiert sie Schnitte, wählt Materialien aus, führt Anproben durch und leitet die Schneider:innen in der Werkstatt an. Das erfordert nicht nur handwerkliches Geschick, sondern auch ein gutes Gespür für Menschen.

Was man als Gewandmeisterin macht  

„Als Gewandmeisterin kümmere ich mich um die Kostüme im Theater. Ich bilde dabei die Schnittstelle zwischen den Kostümbildner:innen und der Schneiderei, vermittle also sozusagen zwischen der künstlerischen und der handwerklichen Ebene. Habe ich einen neuen Auftrag, bespreche ich als erstes mit der oder dem Kostümbildner:in die Kostümzeichnungen, die sogenannten Figurinen. Anschließend wähle ich passende Stoffe und Materialien aus, suche im Fundus nach wiederverwendbaren Kostümen und erstelle Schnittmuster. Ich leite die Schneider:innen in der Werkstatt an und führe mehrere Anproben mit den Darsteller:innen durch. Bei den Proben überprüfe ich dann die Wirkung des Kostüms auf der Bühne und schaue, was man gegebenenfalls noch ändern sollte.“

Wie ich Gewandmeisterin geworden bin 

„Ich habe mich schon immer für handwerkliche Tätigkeiten interessiert und mich dann an der Realschule für den Kunstzweig entschieden. Meine Leidenschaft fürs Nähen habe ich vor allem meiner Uroma zu verdanken, von ihr habe ich auch  meine erste Nähmaschine geerbt. Beim Theater bin ich dann eher durch Zufall gelandet. Da es in der freien Wirtschaft immer weniger Handwerksbetriebe gibt, ist auch die Zahl der Lehrstellen begrenzt. Hinzu kommt, dass sich viele Betriebe aufgrund des Mindestlohns keine Lehrlinge mehr leisten können. Am Theater können aussterbende Berufe wie das Schneiderhandwerk meist nur überleben, weil sie dort vom Staat subventioniert werden. Ich habe damals einen Ausbildungsplatz an einem großen Opernhaus bekommen. Nach drei Lehrjahren war ich einige Zeit als Schneidergesellin tätig und habe mich dann für eine Weiterbildung zur Gewandmeisterin entschieden. Dafür habe ich vier Jahre an einer Kunsthochschule studiert. Aktuell bin ich in Teilzeit als Gewandmeisterin am Theater angestellt.“

Welche Eigenschaften man mitbringen sollte  

„Essenziell ist handwerkliches Geschick. Während der Schneiderausbildung wird man vor allem auf Perfektion und Genauigkeit getrimmt. In bestimmten Momenten muss man aber auch bereit sein, Kompromisse einzugehen, um schnell auf kurzfristige Änderungen reagieren zu können. Man muss auch belastbar sein, denn stressige Situationen gibt es regelmäßig. Die Phase vor einer Premiere ist dabei besonders herausfordernd: Alle Kostüme müssen rechtzeitig fertig sein, die Proben ziehen sich bis in die Abendstunden und alle sind angespannt. Da muss man besonders teamfähig sein und ein gutes Gespür für Menschen haben. Man arbeitet schließlich unmittelbar am Körper anderer und sollte sich daher immer empathisch verhalten und auch für Themen wie Body Shaming sensibilisiert sein. Ich möchte die Personen, die ich einkleide, schließlich auf keinen Fall wie Objekte behandeln und versuche darauf zu achten, dass sich alle Darsteller:innen wohl fühlen. Wenn ein Kostüm besonders freizügig ist, gibt es zum Beispiel die Möglichkeit, enganliegende hautfarbene Bodysuits zu verwenden, um Nacktheit darzustellen.“

Was die Theaterwelt besonders macht 

„Im Theater treffen nicht nur unterschiedliche Gewerke aufeinander, sondern auch Menschen mit verschiedenen Nationalitäten und Charakteren. Dadurch lernt man eine gewisse Offenheit. Ich selbst bin in einem kleinen Dorf aufgewachsen und habe diese Diversität von Anfang an als große Bereicherung wahrgenommen. Wie in jeder anderen Branche gibt es aber auch am Theater einige Missstände: Es herrschen zum Beispiel immer noch sehr strikte Hierarchien. Gerade handwerkliche Tätigkeiten werden oft nicht ausreichend wertgeschätzt. In jedem einzelnen Kleidungsstück steckt unglaublich viel Mühe: Für aufwendige Kostümplastiken muss man bis zu 300 Arbeitsstunden einplanen. Da ist es natürlich frustrierend, wenn ein Kostüm kurz vor der Premiere von der Kostümbildnerin verworfen wird, weil es doch nicht ins künstlerische Konzept passt.“

Vorstellung vs. Realität 

„Als ich angefangen habe, war ich während der Anproben oft überfordert. Im Studium konnte man sich immer viel Zeit lassen, Familie und Freund:innen standen Modell und gaben sich Mühe, besonders umgänglich zu sein. In der Realität sieht das ganz anders aus: Die Anproben dauern meistens nur wenige Minuten, in denen man viele Dinge gleichzeitig machen muss. Während ich das Kostüm anpasse, muss ich parallel auf die Wünsche der Kostümbildnerin eingehen, darf aber auch die Bedürfnisse der Darsteller:innen nicht aus den Augen verlieren.“

Was man als Gewandmeisterin verdient 

„Das Schneiderhandwerk gehört leider zu den eher schlecht bezahlten Handwerkstätigkeiten. Bei einer Vollzeitstelle liegt der Bruttomonatslohn in der Regel zwischen 2500 und 4000 Euro. Als Teilzeitkraft bekomme ich aktuell 2000 Euro brutto im Monat. Damit bewege ich mich schon im oberen Bereich der Gehaltsspanne. Es erschreckt mich aber immer wieder, wie wenig einige Kolleg:innen im Vergleich zu den steigenden Lebenshaltungskosten verdienen. Neben meiner Anstellung im Theater arbeite ich noch freiberuflich als Kostümbildnerin und leite Workshops, daher komme ich mit meinem Gehalt momentan ganz gut über die Runden. Dennoch mache ich meinen Beruf in erster Linie aus Leidenschaft – und nicht fürs Geld.“

Was der Job mit dem Privatleben macht  

„Was die Arbeitszeit betrifft, muss man am Theater flexibel sein: Proben und Aufführungen finden häufig abends und am Wochenende statt und während der Spielpause im Sommer müssen alle Mitarbeitenden für mehrere Wochen Urlaub nehmen. Die Arbeit am Theater hat aber auch Vorteile: Für Angestellte gibt es Vergünstigungen bei hauseigenen Vorstellungen und manchmal darf ich mir Kleidungsstücke aus dem Fundus für den Privatgebrauch ausleihen.  

Wenn man den ganzen Tag von Federn, Fell, Glitzer und Samt umgeben ist, wirkt sich das durchaus auch auf den eigenen Kleidungsstil aus. Ich habe mich schon immer für Mode interessiert, aber durch meine Ausbildung bin ich definitiv   experimentierfreudiger geworden und achte mehr auf Qualität. Umgekehrt wird aber auch meine Arbeit durch meine persönlichen Überzeugungen beeinflusst.  

An Theatern werden zwar viele Kleidungsstücke wiederverwendet, trotzdem gibt es beim Thema Nachhaltigkeit noch große Lücken. Da Theaterhäuser heutzutage mit Streamingdiensten wie Netflix konkurrieren müssen, stehen immer mehr Produktionen auf dem Spielplan. Um Zeit und Geld zu sparen, greifen viele Kostümabteilungen auf vorproduzierte Ware zurück. Die wenigsten achten dabei auf Regionalität und faire Herstellungsbedingungen. Problematisch ist auch, dass nach wie vor mit giftigen Färbemitteln gearbeitet wird. Seit meinem Studium beschäftige ich mich mit nachhaltiger Kostümproduktion, engagiere mich ehrenamtlich in einem Kostümfundus der freien Theaterszene und biete Workshops zum Färben von Textilien mit Naturfarbstoffextrakten an.“ 

Welche Fragen ich auf Partys gestellt bekomme 

„Die meisten Menschen sind aufrichtig interessiert an dem, was ich mache. Manchmal wird mein Beruf aber auch als ‚lustige Bastelarbeit‘ abgetan. Wenn ich in einer Runde mit klassischen Büroarbeiter:innen erzähle, dass ich in meinem Arbeitsalltag  Lauch- und Peniskostüme anfertige, ernte ich durchaus den ein oder anderen irritierten Blick. Zudem wollen viele wissen, ob ich meine Kleidung selbst nähe. Für viele Schneider:innen ist diese Frage ein No-Go, weil es in den meisten Fällen eben nicht so ist. Wenn man den ganzen Tag an der Nähmaschine sitzt, hat man selten Lust, sich abends auch noch eigene Klamotten zu nähen. Trotzdem ist es natürlich praktisch, Kleidungsstücke selbst ändern zu können. Wenn ich zum Beispiel in einem Second-Hand-Laden eine qualitativ hochwertige Hose aus tollem Stoff finde, kann ich sie mir zuhause einfach schnell anpassen. Bei Änderungsarbeiten für den Freundes- und Familienkreis bin ich inzwischen sehr wählerisch geworden. Neugekaufte Fast-Fashion-Teile ändere ich grundsätzlich nicht, weil mir das keinen Spaß macht und meinen Prinzipien widerspricht. Reparaturen übernehme ich aber gerne: Einmal habe ich die Lieblingshose eines Freundes repariert, die nach einem Fahrradunfall total zerfetzt war. Er war so froh, dass ich sie retten konnte. Das zeigt, welchen emotionalen Wert Kleidung für uns haben kann. Wir tragen sie wie eine zweite Haut und sollten ihr deshalb mehr Achtung entgegenbringen.“

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