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Wir Kinder aus Ing
Anlässlich des 30. Jubiläums von SZ Jetzt holen wir einige Texte, die uns besonders im Gedächtnis geblieben sind, noch einmal aus dem Archiv hervor. Dieser ist einer davon.
Sie raten. Sie raten, wenn sie glauben, dass wir in München den Triumph, eine überteuerte Mini-Mietwohnung zu bekommen, mit Prosecco begießen. Sie raten, wenn sie darüber lachen, dass bei uns um ein Uhr Nachts Sperrstunde sei, und sie raten, wenn sie uns voreilig „Ich würde nie zum FC Bayern gehen!“ ins Ohr grölen.
All die jungen Berliner, Kölner und Hamburger stochern auf der Suche nach den Unterschieden zwischen ihren und unseren Stadtleben in einer blickdichten Hecke aus Klischees, Kurzeindrücken und den Gerüchten, die ihnen von Bekannten erzählt wurden. Gleichzeitig ist es ihnen aber auch nicht egal, wie wir hier in unserem München leben, so wie es ihnen doch fürchterlich egal ist, wie die Menschen in Münster, Düsseldorf oder Brügge aufwachsen. Nein, sobald man ihnen von der 089 erzählt, erfasst sie etwas wie eine Unruhe der Ausgeschlossenen, ein Annähernmüssen und ein unbedingter Drang, ihre Leben zu unseren zu positionieren. Im gleichen Maße, in dem wir uns dann für unsere München-Existenz rechtfertigen müssen, rechtfertigen sie sich damit ungefragt auch für ihre Nicht-Münchner-Existenz.
Dabei sind unsere Leben natürlich nicht in dem Grade unterschiedlich, wie es diese Sonderbehandlung vermuten lässt. Im Grunde dürften alle jungen Menschen in urbanen Gesellschaften Westeuropas ein ziemlich ähnliches Leben führen und das Einzige, was uns junge Münchner davon wirklich unterscheidet, sind die Sonntagnachmittage. All die Ings. Am Sonntag fahren wir nach Ing.
Da war Fußball neben Kuhweiden und da war der 20-Minuten-Takt der S-Bahn zum Marienplatz
Ing ist nicht der Ingenieur, Ing sind all die vielen Orte im Münchner Speckgürtel, der ja eher ein SUV-Gürtel ist, in denen unsere (Ingenieur)-Eltern wohnen. Es sind all die Feldafings, Freisings, Olchings, Tutzings, Gautings, Herrschings, die beiden Föhringe, diverse Echings und all die vielen kleineren Ings, in die unsere Eltern vor 30 Jahren mal gezogen sind, als Mama ein bisschen Grün für uns haben wollte und Papa eine Garage für seinen BMW-Kombi.
In den Ings sind wir aufgewachsen und zwar in einer idealen Mischung aus Stadt und Land. Da war Fußball neben Kuhweiden und da war der 20-Minuten-Takt der S-Bahn zum Marienplatz und es war beides gleich wichtig. Sicher, wir mussten vielleicht mit einem Schulbus ins nächste Gymnasium fahren, weil nur jedes zweite Ing eines gebaut bekam, aber trotzdem liefen wir nicht Gefahr, dem Provinzhass zu erliegen, der ganze Landstriche Heranwachsender aus Niedersachen und Baden-Württemberg zuverlässig in die Berliner Altbauten treibt. München hatte immer unseren Rücken und vor uns lagen Berge und Seen. Die Grüne Karte, die der MVV damals ausgab, war unsere GreenCard, die ewige Einreiseerlaubnis in die Stadt. Ihre speckige Hülle begleitete uns zum ersten eigenen Stadtbummel und zum ersten richtigen Konzert und was dabei zu beachten war, war einzig, sie für Mama wieder rauszulegen, wenn man berauscht von Stadtluft und Stadtbier aus der ersten S-Bahn kam und vorbei an der Tischtennisplatte über die nicht abgeschlossene Terrassentür ins Bett wankte. Es war nicht die wildeste Jugend, aber eine sehr angenehme.
Natürlich konnten wir nicht in den Ings bleiben, so wenig hassenswert sie auch waren. Und natürlich gingen viele von uns nach der Schule doch nach Berlin, eher aber noch nach London oder Paris. In Städte eben, mit denen es München wirklich nicht aufnehmen konnte. Ein paar Jahre ließ es sich dort in windigen WGs und mit der monatlichen Überweisung aus Ing gut studieren. Aber nur wenige von uns konnten sich Neukölln oder Hampstead wirklich als Dauerort vorstellen. Das ist das Doofe, wenn man „im Himmel“ aufwächst, wie Georg M. Oswald seinen Roman über den fiktiven Speckgürtelort „Welting“ nennt. Nach dem Himmel, selbst wenn er ein wenig unecht ist, kann man sich so schlecht etwas anderes wünschen.
Die vage Sehnsucht nach den Ings ist es also, die uns nach und nach wieder zurück nach München treibt
Wenn man also in dieser Zeit in Kreuzberger Kneipen mit anderen Exilmünchnern ins Gespräch kam, vielleicht sogar anderen ehemaligen Ing-Bewohnern, dann gab es immer diesen Moment, in dem auch die radikalsten Neudenker und Freischärler für Sekunden ein Haus mit Bergblick auf der Unterseite ihrer müden Lider sahen, einen Trampelpfad zum See vielleicht und den beruhigenden 20-Minuten-Takt im Kopf hatten. Zwar summte man tagsüber noch „Samstag ist Selbstmord“ von Tocotronic, aber sonntags, das ahnte man, würde man irgendwann wieder in Ing sein. Es war so sicher dort und die Luft so gut, dass man es spätestens den eigenen Kindern gerne wieder ermöglichen würde. Auch wenn die Grundstückspreise eine Rückkehr in diese Heimat immer unwahrscheinlicher machten und uns vermutlich in den Ruin treiben würden.
Die vage Sehnsucht nach den Ings ist es also, die uns nach und nach wieder zurück nach München treibt. Manche kommen früher, andere erst spät und einige waren eigentlich immer hier. Wir stellen jedenfalls eines Tages fest, dass wir wieder in der Stadt sind, deren Speck uns genährt hat und die mit dem immer strahlenden Wittelsbacher-Gelb der Theatinerkirche auf uns gewartet hat. Wir wohnen jetzt nicht in den Ings – viel zu früh – aber die Eltern wohnen noch dort (oft sind die auch der Vorwand, zurückzukehren). Sie bilden mit ihren dezent veralteten Einfamilienhäusern und Doppelhaushälften gewissermaßen wieder den ersten Schutzwall um uns, so wie früher.
Und in der Mitte dieses Walls formiert sich die Generation Speckgurt, die es so in keiner anderen deutschen Stadt gibt. Eine Schicht von jungen Urbanisten, um die 30 Jahre alt, nett und weltläufig, die am Sonntagnachmittag zum Kaffeetrinken in ihr Elternhaus aufs Land fährt und zwar: gerne. Die dankbar den Platz in Papas Garage für ihre Skiausrüstung nutzt und die auf ihren Vernissagen und Konzerten in der Stadt ganz ungeniert nach hinten winkt – wenn nämlich die alten Erzeuger für diesen Anlass aus den Landkreisen angereist sind. Für sie und uns sind Umland und Stadt jetzt die gleichen Spielplätze geworden und wir verabreden uns mit Eltern- und Freundescliquen zum gemeinsamen Eisstockschießen auf dem Nymphenburger Kanal oder segeln mit dem Vater eines Freundes, weil der sein Boot noch im Wasser hat.
Wir sind keine Snobs oder qua Geburt Freizeitspießer, im Gegenteil: Dieses Leben bewerkstelligen wir nicht mit jener unbedingten Eile der Neumünchner und zugezogenen BWL-Snobs, die all das, die perfekte Liegewiese, die Gartenfeste und Vernissagen, eilig übernehmen wollen. Nein, wir haben hier nur einfach den gewachsenen Zugriff auf die Netzwerke unseres ganzen Lebens – und auf die unserer Eltern. Genau wie jeder, der in sein Heimatdorf zurückkehrt, auf diese Grundvernetzung zurückgreifen kann. Nur, dass unsere Ings keine Dörfer im Irgendwo sind, sondern eben Oasen, eingebettet in den größten Wohlstandskuchen dieses Landes.
Im Grunde ermöglicht uns diese besondere Eltern-Kind-Konstellation Münchens eine recht ehrliche Konzentration auf das Wesentliche. Weil wir die Vergangenheit ganz gut im Griff haben, so übersichtlich vor uns, kann die Zukunft gerne kommen. Das Gestern und Morgen geht besonders fließend und Münchens S-Bahn-Netz verbindet ein großes Mehrgenerationenhaus. Das Kinderzimmer ist hier für viele immer nahe. Zumindest das mentale Kinderzimmer, das im Kopf funktioniert wie eine universale Rückversicherung. Wer in Berlin mit seinem Start-up pleite geht oder als selbstständiger Grafiker nicht durchkommt, dem bleibt vielleicht irgendwann nur noch die reumütige Rückkehr nach Bad Saulgau oder in die hessische Provinz. Wir sehen uns in diesem Fall sechs Streifen auf der blauen Karte stempeln und in unser Ing fahren.
Dort geht es dann vorbei an der Tischtennisplatte über die Terrasse in die Küche. Ein bisschen Kuchen wird immer noch da sein.