Süddeutsche Zeitung

Unsere Kernprodukte

Im Fokus

Partnerangebote

Möchten Sie in unseren Produkten und Services Anzeigen inserieren oder verwalten?

Anzeige inserieren

Möchten Sie unsere Texte nach­drucken, ver­vielfältigen oder öffent­lich zugänglich machen?

Nutzungsrechte erwerben

Abschied vom Wachtturm: Drei Frauen und ihre Leben nach den Zeugen Jehovas

Foto: Juri Gottschall

Teile diesen Beitrag mit Anderen:

Maria Vinko*, 26, lebt in München

904048
Foto: Juri Gottschall

Ich hatte schon immer meinen eigenen Kopf. Zwar wurde ich in die Zeugen Jehovas hineingeboren, allerdings habe ich mich früh dagegen gewehrt, nichts mit weltlichen Kindern machen zu dürfen. Ich bin auf Klassenfahrten gefahren und habe auch Geburtstagspartys besucht, egal was meine Eltern sagten. Auch die langen Röcke, also die typisch biedere Kleidung der Zeugen Jehovas, habe ich in der Schule nie angezogen. Ich hatte es als eine der Wenigen in der Schule geschafft zu den Coolen zu gehören. Mir war es dann natürlich saupeinlich, wenn meine Klassenkameraden mich auf dem Weg zur Versammlung oder beim Missionieren sahen. 

Mit zwölf bin ich dann total hochgedreht. Ich wollte endlich irgendwo richtig dazugehören. Zuerst habe ich mich von den Zeugen Jehovas taufen lassen. Vier Monate später habe ich das Ganze dann schon bereut und bin ausgestiegen. Dafür habe ich dem Ältestenrat einen Brief geschrieben, in dem stand, dass ich nicht mehr an Jehova glaube, und keine Versammlung mehr besucht. Immer, wenn der Rat danach zu uns nach Hause kam um mit mir darüber zu sprechen, bin ich einfach abgehauen. Ich war ja erst zwölf und wusste, dass die mich locker im Gespräch fertig machen. Das wollte ich mir nicht antun. Wir haben uns dann sehr oft gestritten. Ich war eine „Schande für die ganze Familie“, mein Vater wurde meinetwegen sogar aus dem Ältestenrat geschmissen. Den Frust darüber hat er dann an mir ausgelassen. Entweder war ich zu lange weg, hatte mich nicht abgemeldet oder war unsittlich angezogen. Ich habe dann allerdings auch doppelt so krass pubertiert, wie andere in meinem Alter. Doppelt hart gefeiert, alles mitgenommen. Aber ich bereue nichts davon.

Als ich dann einen Freund hatte, der kein Zeuge war, hat mein Vater den natürlich direkt rausgeschmissen. Das ging einfach überhaupt nicht. Ich habe dann eine Zeit lang bei meinem Freund gewohnt, aber das war natürlich keine Dauerlösung. Einmal wurde ich auch erwischt, wie ich bei uns zu Hause heimlich meinen Geburtstag feierte, was bei den Zeugen Jehovas nicht erlaubt ist. Das gab natürlich Riesenkrach. Mir war es allerdings wichtig, ich feiere bis heute sehr gerne Geburtstag.

Default Bild

„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Im Streit sagte mein Vater oft „Ruf doch das Jugendamt an“. Mit 17 habe ich das schließlich auch getan. Die haben dann sehr schnell erkannt, dass man in unserer Familie nichts mehr retten kann. Ich hab dann alleine eine Wohnung bekommen und mein Fachabi gemacht. Später habe ich auch mein Abi nachgeholt. Heute lebe ich in München und habe mich auch am Studium versucht, allerdings war das bisher alles nichts. Ich singe sehr gerne und spiele Klavier. Eigentlich würde ich gerne Musik studieren, aber für die meisten Musikhochschulen bin ich leider schon zu alt. Das ist auch das, was ich den Zeugen Jehovas am meisten vorwerfe: Dass sie mir die Zeit geklaut haben. Die sind einfach eine Sekte, die total in ihrer eigenen Welt lebt. Im täglichen Bibelstudium haben sie total versucht, mir eine Gehirnwäsche zu verpassen. Dort muss man dann immer wieder einzelne Passagen wiederholen und Fragen beantworten, bis man den Scheiß wirklich glaubt.

Ich glaube gar nichts mehr. Kein Esoterik-Kack, nichts

Zwischenzeitig hatte ich noch Kontakt zu meinen Eltern. Auch ehemalige Freunde haben versucht, mich über Facebook zum Zurückkehren zu überreden. Seit ich allerdings erfahren habe, dass mein Bruder heiratet und ich „zum Wohle aller“ nicht eingeladen bin, habe ich den Kontakt abgebrochen. Manchmal ist es dann hart, so ganz auf sich gestellt zu sein. Andererseits habe ich mittlerweile einen eigenen Freundeskreis, der sich gut um mich kümmert. Vielleicht ist die fehlende Familie so langfristig ersetzbar, ich weiß es nicht. Zumindest komme ich so gut klar.

Vom Glauben ist allerdings nichts mehr übrig geblieben. Ich glaube gar nichts mehr. Kein Esoterik-Kack, nichts. Mit 22 hatte ich noch mal die Angst „Was, wenn das doch alles wahr war? Wenn ich nun wirklich bald beim Weltuntergang grausam sterbe?“ Dank eines auf Sekten spezialisierten Psychologen konnte ich das allerdings überwinden. Nun tun mir meine ehemaligen Glaubensbrüder manchmal fast Leid. Meine Eltern beispielsweise denken ja immer noch, dass ich des Teufels bin und im Harmagedon umkomme, während sie ins Paradies gelangen. Das ist für die schon schlimm. In anderen Sachen habe ich hingegen überhaupt kein Verständnis mehr für die Sekte. Durch ihre Ablehnung von Bluttransfusionen lassen die teilweise ihre eigenen Leute sterben. Schon Kinder müssen in der Schule Brustbeutel tragen, auf denen gut lesbar „Kein Blut“ steht, damit sie bei Unfällen keine Blutkonserven bekommen. Das ist doch furchtbar. Ich gehöre mittlerweile zu denen, die deshalb extra häufig Blut spenden gehen. Um irgendwie das Gefühl zu haben, das ein bisschen auszugleichen.

Neulich haben meine Eltern mich dann sogar noch einmal angerufen. Da hatten sie erfahren, dass ehemalige Freundinnen von mir von ihrem Großvater sexuell missbraucht wurden. Und das alles innerhalb der Sekte. Da waren sie so geschockt drüber, dass sie es mir dann doch erzählen wollten. Mich bestärkt das nur darin, mit diesem Sauhaufen nichts mehr zu tun haben zu wollen. Manchmal würde ich mir fast wünschen, dass die Zeugen Jehovas eines Tages mal hier klingeln und mich missionieren wollen. Ich würde mir dann ruhig anhören, was sie zu sagen haben. Sie innerlich vielleicht bemitleiden. Und dann würde ich einfach die Tür zumachen.

* Name von der Redaktion geändert  

Patrizia Petarra, 23, lebt mit ihrer fünfjährigen Tochter in Augsburg

Default Bild

„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Letztendlich bin ich der Liebe wegen bei den Zeugen Jehovas ausgestiegen. Ich war 16 und hatte mein Leben bis dahin in der Sekte verbracht. Ich kannte es nicht anders. In der Schule war ich ein richtiges Mauerblümchen, Kontakt zu weltlichen Kindern hatte ich kaum. „Das sind ja gar keine wahren Freunde“, hatte ich gelernt. Als meine Schwester dann mit 14 austrat, bin ich richtig ausgetickt. Sie war für mich einfach das Allerletzte. Ich habe mich dann aus Protest sehr früh, mit 13 Jahren, taufen lassen. Davon gibt es noch heute Fotos. Da stehe ich im Badeanzug in einem Schwimmbecken, ein Mann in einem weißen T-Shirt wird mich gleich untertauchen. Ich war damals so stolz. Wollte einfach richtig zur Gemeinde dazugehören. Wenn ich heute die Bilder ansehe, fühlt es sich komisch an. Das ist genauso wie mit dem Missionieren: Damals war ich total stolz darauf, dass die Leute mir soviel Aufmerksamkeit widmeten. Heute denke ich, dass ich mich einfach nur zum Deppen gemacht habe.

Ein paar Jahre nach der Taufe kippte meine Stimmung dann allerdings. Ich war oft deprimiert. Mochte das Haus nicht mehr verlassen und bin abends schon um sieben ins Bett gegangen. Mit 15 habe ich dann das erste Mal Antidepressiva genommen. Meine Mutter meinte, ich hätte eine Pubertätsdepression. Die Frage, ob das vielleicht auch mit unserem Glauben zusammenhinge, ließ sie nicht zu. Ich habe dann trotzdem nicht mehr die Versammlungen besucht. In mir wuchs der Gedanke, dass ich vielleicht einfach raus muss. Frei sein will.

Irgendwann habe ich dann Bekannte aus der Schule von ganz früher wiedergetroffen. Wir sind etwas trinken gegangen, dann kam schnell dieses „Scheiß doch drauf!“-Gefühl. Es war wie ein großer Rausch: Wir haben getrunken, geraucht. Alles was ich vorher nicht durfte. Auf einmal wollte ich nichts mehr verpassen, alles mitnehmen. Dabei habe ich dann auch übertrieben, mich bis ins Koma gesoffen. Es machte mir nichts. Meine Mutter hat mich dann irgendwann von zu Hause rausgeschmissen. Sie hatte von meinen Eskapaden gehört, in dem kleinen Dorf, in dem ich wohnte, ging alles schnell rum. Aber vielleicht wollte ich das auch. Ich wollte, dass die Zeugen mich ausschließen.

Als ich mit 17 schwanger wurde, war meine Familie komplett außer sich

Ich zog dann zu meinem Vater und schmiss erstmal meine Ausbildung. Mit sechzehn bin ich dann mit meinem jetzigen Freund zusammen gekommen. Wir haben uns im Internet kennengelernt und einfach getroffen. So war ich damals eben drauf. Rückblickend hatte ich natürlich Glück, dass er nett war. Als ich mit 17 schwanger wurde, war meine Familie komplett außer sich. Mein Vater meinte „das war ja klar, dass dir das passiert“. Meine Mutter hat es hingegen abgelehnt, mir dabei zu helfen. Ich war ja eine Aussätzige. Mir ging es damals natürlich total schlecht. Ich war 17, schwanger und ohne Ausbildung.

Heute ist meine Tochter fünf, mit ihrem Vater bin ich immer noch zusammen. Allerdings ist es manchmal sehr schwer. Er arbeitet viel, ich hole meine Ausbildung nach. Was Kindererziehung angeht, könnte ich oft einen Rat gebrauchen. Meine Mutter sagt dann nur: „Wenn Du zurückkommst, dann helfen wir Dir auch.“ Eine Zeit lang habe ich sogar darüber nachgedacht. Ich bin wieder zu Versammlungen gegangen. Meine Mutter meinte irgendwann „Du bist immer noch stolz auf dein Leben. Das darfst du nicht sein, wenn du wieder zu uns gehören willst.“ Da wurde mir klar, dass ich nie mehr zu den Zeugen Jehovas zurückgehe. Ich habe es alleine geschafft, meine kleine Tochter ist ein wunderbares Mädchen. Da gibt es jede Menge, worauf ich stolz bin. Wenn sie später groß ist, soll sie sich selbst aussuchen dürfen, zu welcher Religion sie gehören will.

Meine Mutter tut mir einfach nur leid. Sie denkt ja wirklich, dass meine Tochter und ich bald grausam vernichtet werden. Meine Schwester, wegen deren Austritt ich damals so sauer war, hat es übrigens nicht gepackt. Sie war mit dem „realen Leben“ überfordert, ist irgendwann zurückgegangen. Sie meidet mich auch. Trotzdem habe ich das Gefühl, besser zurechtzukommen. Ich habe jetzt eine neue, eigene Familie.  

Barbara Kohout, 74, lebt mit ihrem Mann in Augsburg

Default Bild

„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

60 Jahre habe ich für die Zeugen Jehovas gelebt. Nahezu mein ganzes Leben. Das Internet hat mir letztendlich zum Ausstieg verholfen. Da war ich bereits 72 Jahre alt. Die damalige Frau meines Sohnes hatte damals bei mir gepetzt, dass mein Sohn im Internet kritisch über die Zeugen schreiben würde. Ich konnte das zunächst gar nicht glauben. Er war immer mein Vorzeige-Kind gewesen, hatte sogar als Pionier in der deutschen Zentrale der Zeugen Jehovas gearbeitet. Ich habe mir dann einen Internetanschluss zugelegt, um das zu überprüfen.

Tatsächlich habe ich ihn unter dem Nicknamen „Plus“ in einem Forum wiedererkannt. Ich habe mich selbst als „Alphabetus“ angemeldet, um ihn von seinen Theorien abzubringen. Ich hatte wirklich Angst, er würde sich im Internet versündigen und am Ende nicht mit uns ins Paradies kommen. Er hat das Schauspiel natürlich schnell durchschaut. Wir haben uns dann getroffen und er konnte mir seine Vorwürfe beweisen. Zum Beispiel hat er mir gezeigt, wie oft die Zeugen Jehovas schon ihre Lehrmeinungen geändert haben. Dass sie in Ländern wie Malawi von ihren Anhängern Märtyrertum für den Glauben fordern. Wenn es Ihnen finanziell etwas bringt, lassen sie sich dann aber auch mal schnell in einen „kulturellen Verein“ statt einer Religionsgemeinschaft umschreiben. Solche Sachen.

Meine bereits ausgestiegene Tochter hat mir dann ein Buch über Psychologie geschenkt. „Ich bin okay, Du bist okay“ war dort das Motto. Das hat mir als Leitspruch sehr geholfen. Später habe ich dann auch unter schlechtem Gewissen richtige Aussteiger-Literatur gelesen. Der Ausstieg selbst war dann natürlich sehr schwer. Erst einmal musste ich meinen Mann davon überzeugen, mit mir zu gehen. Er war lange im Ältestenrat gewesen, kam bereits mit 19 in die Sekte. Ich habe ihn dann überredet, ebenfalls die Aussteiger-Bücher zu lesen.

Heute mache ich mir Vorwürfe, dass ich das damals alles zugelassen habe

Nie werde ich vergessen, wie er dann eines Tages bei uns in Augsburg auf den Balkon ging, auf den Königreichssaal zeigte und sagte: „Dort will ich nie mehr hin.“ Wir haben uns daran gehalten. Der Rest der Gemeinde, unsere früheren Freunde, grüßen uns nun nicht mehr. Sogar meine eigene Mutter hat seitdem nicht mehr mit mir gesprochen. Freunde von außerhalb hatten wir so gut wie gar nicht. Die waren in unseren Augen ja vom falschen Glauben.

Default Bild

„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Meine Kinder waren zu diesem Zeitpunkt allerdings bereits alle raus aus der Sekte. Zwei von ihnen hatten mit 16 und 20 Jahren andere Zeugen aus der Gemeinde geheiratet. Das ging natürlich schief. Sie hatten vorher ja gar keine Zeit gehabt ihren Partner richtig kennenzulernen, durften sich überhaupt nicht näher kommen. Und mit Sex alleine hält dann später nun mal keine Ehe. Nach ihren Scheidungen wurden sie von der Gemeinde isoliert, waren psychisch angeschlagen.

Heute mache ich mir Vorwürfe, dass ich das damals alles zugelassen habe. Natürlich, wir wussten es nicht besser und wir glaubten an die Lehren der Wachtturm-Gesellschaft. Aber es gab so viel, was ich meinen Kindern verbieten musste. Ich habe ihnen erzählt, dass es Dämonen gebe, die sich heimlich daran erfreuen, wenn sie gegen Jehovas Gesetzte verstoßen. Selbstbefriedigung war so ein Verstoß. Und dass der Teufel in Gestalt eines brüllenden Löwen auf die Erde kommt um die Ungläubigen zu töten. Nur wer dann rechten Glaubens, also bei den Zeugen Jehovas ist, würde gerettet werden. Natürlich hatten meine Kinder da Angst. Ich hatte als Kind ja auch schon immer Alpträume von den Harmagedon-Geschichten. Aber die Zeugen haben uns immer gesagt, wie wichtig es doch sei, regelmäßig Bibelstunden mit den Kindern zu halten, ihnen diese Geschichten immer und immer wieder zu erzählen.

Bei anderen Sachen war ich dann wiederum auch nachgiebiger. Geburtstage feiern war zum Beispiel verboten. Ich mochte das immer gerne, bevor ich in die Sekte kam. Ich habe dann stattdessen mit meinen Kindern einen „Geschenketag“ eingerichtet. Der war dann ähnlich wie ein Geburtstag, nur nicht verboten. Außerdem habe ich mir einmal die Zeitschrift „Eltern“ gekauft, als ich schwanger wurde. Dafür habe ich oft um Vergebung gebeten.

Das Gefühl, wirklich glücklich zu sein, kenne ich bis heute nicht

Eigentlich hätte ich die Kinder nur nach den Regeln der Wachtturm-Gesellschaft erziehen dürfen. Auch als meine Kinder ausgestiegen sind, habe ich natürlich weiter den Kontakt mit ihnen gehalten, auch wenn ich das offiziell nicht gedurft hätte. In meinen knapp 60 Jahren bei der Sekte habe ich natürlich viel mit den Zeugen Jehovas erlebt. Ich habe andauernd versucht Menschen zu missionieren. Einen Königreichssaal mit aufgebaut. Oft den Wohnort gewechselt. Wir waren immer dort im Einsatz, wo wir gebraucht wurden. Ich hatte immer das Gefühl, noch nicht genug für Gott zu leisten. Parallel habe ich dann auch noch drei Kinder großgezogen. Irgendwann war ich psychisch am Ende. Dass das alles mit dem Glauben zusammenhängt, wollte ich damals nicht einsehen.

Das Gefühl, wirklich glücklich zu sein, kenne ich bis heute nicht. Ich habe in meinem Leben so vieles aufgegeben, weil ich ja dachte, dass die Welt eh bald untergeht. Und wenn sie das nicht tat, hatten die Zeugen wieder einen Grund parat, warum der Weltuntergang verschoben wurde. Ich habe sogar meine Lebensversicherung gekündigt, als mal wieder Harmagedon anstand. Solche Sachen kann ich heute nicht mehr rückgängig machen. Allerdings arbeite ich mittlerweile für den Sektenausstieg in Bayern. Ich leite hier eine Selbsthilfegruppe. Das gibt mir zumindest ein bisschen das Gefühl, all die verfehlten Missionierungen wieder gut zu machen. Und ich erzähle weiter meine Geschichte. Ich bin aktiv auf Facebook, Youtube und Twitter. Hoffentlich kriegen dann viele Leute mit, dass es nie zu spät für einen Ausstieg ist.

Was sind die Zeugen Jehovas?

Default Bild

„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Nach eigenen Angaben leben momentan in Deutschland 165 000 Zeugen Jehovas. Laut der evangelischen Zentrale für Weltanschauungsfragen ist diese Zahl seit Jahren stagnierend. Die Religionsgemeinschaft existiert erst seit Ende des 19. Jahrhunderts und wurde in vielen deutschen Bundesländern in einer umstrittenen Entscheidung als „Körperschaft des öffentlichen Rechts“ anerkannt.

Die Zeugen Jehovas interpretieren diese Entscheidung als Anerkennung ihrer Religion, umgangssprachlich werden sie jedoch weiterhin abwertend als „Sekte“ bezeichnet. Bekannt sind die Zeugen Jehovas für ihre Haustür-Missionierungen, bei denen sie Hefte namens „Wachtturm“ oder „Erwachtet“ verteilen. In diesen Heften sowie in ihrer eigenen Bibel, der „Neue Welt Übersetzung“, predigen sie einen herannahenden Weltuntergang („Harmagedon“), bei dem nur die Menschen „in der Wahrheit“, also bei den Zeugen Jehovas, überleben werden.

Die Gesellschaft hinter den Zeugen Jehovas nennt sich die „Wachtturm-Gesellschaft“ mit Sitz in Brooklyn, USA. Hier werden Bibelinterpretationen und Glaubenssätze geschaffen. So verkündete die Wachtturm-Gesellschaft beispielsweise zunächst einen Weltuntergang für 1914. Nachdem dieser nicht eintrat, wurde auf 1925 verschoben usw. Mittlerweile gilt für die Zeugen Jehovas, dass jeder der jemanden kannte, der 1914 bereits lebte, den Weltuntergang erleben wird. Aussteiger von den Zeugen Jehovas werden von der Gemeinschaft isoliert. Sektenexperten raten deshalb dazu, sich bereits vor dem Ausstieg ein soziales Umfeld aufzubauen, das aus mehr als einer Person besteht.

Eine Übersicht über Sektenausstiegs-Hilfen gibt es im Netz unter: weltanschauungsfragen.de oder sektenausstieg.net. Ansprechpartner der katholischen Kirche ist Axel Seegers (089 / 54 58 13 0), Ansprechpartner der evangelischen Kirche ist Wolfgang Behnk (089 / 5595 610).

  • teilen
  • schließen