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Was mir das Herz bricht: Pubertärer Oberlippenflaum
Das Süßeste an Babys ist der Flaum: Ein paar Monate nach der Geburt, wenn sie nicht mehr ganz froschig aussehen, bedecken diese kleinen, zarten Härchen ihren Kopf und manchmal auch den Nacken. An Babyflaum möchte man am liebsten die ganze Zeit riechen und manchmal auch ganz vorsichtig reinpusten. Denn dann muss das Baby zahnlos lachen und alle beide – Pustender und Baby – sind sich einig: Der Flaum steht auf der Liste der besten Dinge der Welt sehr weit oben.
Nun bleiben Babys naturgemäß nicht klein. Sie wachsen, lernen laufen, bekommen eine Schultüte in die Hand gedrückt und irgendwann wünschen sie sich eine Plasmaglotze, wie Paul aus der 7b sie auch von seinen Eltern bekommen hat. Und eines Morgens am Frühstückstisch, der pubertäre kleine Bruder hat sich gerade das dritte Schokocroissant mit Nutella beschichtet und man will ihm sagen „Du hast da was hängen“, bemerkt man: Das da über der Oberlippe – das ist kein Nutella! Das ist die Rückkehr des Flaums! Nur, dass er jetzt nicht mehr oben auf dem Kopf wächst und auch nicht mehr auf der Liste der weltbesten Dinge steht. Stattdessen bricht er einem das Herz.
Knack!
Denn der Oberlippenflaum ist ein untrüglicher Beweis dafür, dass die nächsten Jahre beschissen werden – sein Träger von diesem Schicksal allerdings noch nichts ahnt. Es ist wie bei einer Geschichte mit einem allwissenden Erzähler, der über den Protagonisten sagt: „Hätte er damals gewusst, was ihm später widerfahren würde – er hätte seine Kindheit mehr genossen.“
Denn jetzt, mit den ersten sprießenden Härchen auf dem sonst noch glatten Kindergesicht, ist unabwendbar, dass auch der Rest des kleines Bruders nicht mehr zusammenpassen wird. Entweder wird er in die Höhe schießen, während seine schmale Brust noch lange die eines Elfjährigen bleibt. Seine Arme werden dann affenartig zu Boden hängen und die Hose immer ein Stück zu kurz sein, da Mama nicht alle zwei Wochen neue Jeans kaufen möchte.
Vom süßen Baby zum unglücklichen Kotzbrocken
Oder er wird die Form des gerade von ihm verputzten Nutellaglases annehmen, weil sein Körper die Breiten- vor der Höhenanpassung vornimmt. Sein Geruch wird sich von „Sonne und Seife“ zu einer scharfen Mischung aus Pubertätsschweiß und „Axe Anti Hangover“ verändern. Und wo früher weiches Kinderhaar zum Durchwuscheln war, werden Schuppen und fettige Strähnen hängen, im schlimmsten Fall betont mit Wet Gel.
Der kleine Bruder wird über diese Entwicklung sehr unglücklich sein. Er wird jeden einzelnen Pickel an sich hassen, vielleicht sogar wütend in sein Kissen weinen, in Anbetracht des zu diesem Zeitpunkt unabwendbar erscheinenden Schicksals, als Jungfrau zu sterben. Das Allerschlimmste aber wird sein: Auch wenn alle in seiner Familie ihn weiterhin lieben und sagen „Ich weiß genau, wie du dich fühlst“, wird er nur erwidern: „Fickt euch!“ und die Tür knallen. Der kleine Bruder wird sich vom süßen Baby zum unglücklichen Kotzbrocken wandeln. Alle wissen das, außer ihm.
Stattdessen wird er sich nachher, nach dem Frühstück, vor den Spiegel im Bad stellen und stolz seine Oberlippenhaare zählen. Vielleicht macht er sogar ein Selfie davon und schickt es einem Kumpel. Er freut sich, endlich erwachsen zu werden. Die Familie hingegen hat bereits innere Schmerzen. Sie weiß: Er wird nie wieder Kind. Sie tröstet sich damit, dass sie in ein paar Jahren alle gemeinsam über die Beschissenheit der Pubertät lachen werden. Aber das Tal, durch das jetzt alle gehen müssen, ist sehr lang. Und verdammt finster.
Hinweis: Dieser Text wurde erstmals am 30. Juli 2014 veröffentlicht und am 19. Januar 2021 noch einmal aktualisiert.