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Wir sind nicht höflich genug

Ist ein bisschen mehr Freundlichkeit gegenüber Fremden zu viel verlangt? Unserer Autorin kommt es manchmal so vor.
Illustration: Julia Schubert

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In Großbritannien gilt es als kleines Verbrechen, wenn man sich beim Aussteigen aus dem Bus nicht artig bei den Fahrer*innen bedankt. Wer es versäumt, wird mit einem extralauten „Thank You“ des nächsten Fahrgastes gerügt. Die Idee dahinter: Gelobt seien die Busfahrer*innen, unser aller unerschütterlicher Feierabend-Heilsbringer*innen. Das mag man als Tourist*in affig finden. Eigentlich ist es aber genau richtig so.

In Städten wie München wird man, wenn man sich bei den Busfahrer*innen bedankt, von allen Anwesenden irritiert angeschaut. Manche zucken auch wegen des unerwarteten „Danke“-Rufs zusammen oder verdächtigen einen des Schwarzfahrens (oder eines anderen Kapitalverbrechens). Auf die Idee, dass es einfach nur nett ist, sich beim Busfahrer zu bedanken, kommt niemand.

Wer nur einen einzigen Tag ein bisschen auf die allgemeinen Umgangsformen achtet, dem fällt auf, dass Höflichkeit gerade eher Mangelware ist. Das hat nichts mit „der Jugend von heute“ zu tun, ich bin mir sogar ziemlich sicher, dass das mit höherem Alter und wachsendem Buckel nicht besser wird. Eher schlimmer. Aber nicht nur die Alten, auch wir Jungen haben die Freundlichkeit ziemlich verlernt.

Auf gar keinen Fall! lächeln

Vor allem Menschen, die im Dienstleistungsbereich arbeiten, bekommen diese allgemein anerkannte, von Menschen jeden Alters im öffentlichen Raum perfektionierten Griesgrämigkeit zu spüren. Denn die liebste Ausrede derer, die sich Menschen im Dienstleistungssektor gegenüber unmöglich verhalten, ist die: „Es ist aber doch aber sein/ ihr Job.“ Das stimmt ja auch. Wenn man sich beim Bäcker Brot kauft, ist es natürlich „der Job“ des Menschen hinter der Auslage, dir ein Brot zu geben. Es ist aber nicht sein Job, total freundlich zu bleiben, obwohl ihm ein*e Kund*in nur halb verständlich und ohne Gruß aus dem Schal zugegrunzt hat, was er verdammt noch mal will, mit der Attitüde: „denn dafür bezahle ich ja auch“.

Die Verbindung zwischen den Geisteshaltungen „Ich bezahle dafür“ und „Ich muss also nicht freundlich sein“ scheint genauso neuronal abgespeichert, wie beim Wort „Bundeskanzlerin“ an den Namen „Merkel“ zu denken. Wer einmal hellhörig wird, dem fällt auf, dass die meisten Menschen sich angewöhnt haben, auf Dienstleistungen mit einer Art zu reagieren, die unangenehm an die Kolonialzeit erinnert: Nicht danke sagen, AUF GAR KEINEN FALL! lächeln. Lieber schnell umdrehen und die Person ignorieren, bevor man auch noch Augenkontakt riskiert.

Wenn du scheiße drauf bist, ist dein Gegenüber es auch

Vielleicht kommt es nur mir so vor. Aber das Gefühl, Unfreundlichkeit sei eine Grundstimmung der Mitteleuropäer*innen, ist doch sehr präsent. Die Mehrheit der Freundlichkeitsmuffel in Deutschland mag nur eine gefühlte sein, aber dafür, dass es keine Statistiken dazu gibt, ist sie doch sehr schmerzhaft spürbar. Und wer jetzt sagt: Dieser und jener Mensch sei aber nun mal IMMER total unfreundlich (Die eine Sekretärin! Der Barista mit dem Schnauzer! Die Pförtner am Eingang!), der ist ziemlich häufig selber daran schuld. Jede Reaktion entspringt einer Aktion, auch bei den Umgangsformen. Soll heißen: Wenn du scheiße drauf bist, sind die Anderen es auch.

Menschen im Biergarten sterben jedes Mal einen kleinen, innerlichen Foltertod

Man kennt das aus dem Reißverschlussverfahren im Straßenverkehr: Wenn ein Auto ein anderes Auto vor sich auf die Spur fahren lässt, wird der Autofahrer, der die Chance bekommen hat, sich einzufädeln, sich selbst beim nächsten Auto sehr wahrscheinlich auch so verhalten. Auf Freundlichkeit wird meistens mit Freundlichkeit reagiert, und das betrifft ja nicht nur Dienstleistungen, sondern jeden anderen Bereich des gesellschaftlichen Umgangs. Und ja, es gibt immer Menschen die hundsmiserabel unhöflich sind und es auch bleiben werden, egal wie freundlich man zu ihnen ist. Aber warum zur Hölle sollte man das als Grund nehmen, dieses Verhalten auf ein gesamtgesellschaftliches Konzept auszuweiten?

Den Höhepunkt der kultivierten Unfreundlichkeit kann man außerhalb von Pandemiezeiten im Biergarten erleben: ein Biergarten, wie jeder weiß, funktioniert nur, wenn man sich zwangsläufig neben fremde Menschen setzt. Manchmal kann man den Sitznachbarn aber dabei zusehen, wie sie einen kleinen, innerlichen Foltertod sterben, aus Angst, jetzt würde man sie gleich in ein Gespräch über Fifty Shades of Grey oder etwas ähnlich Unangenehmes verwickeln (man erkennt das an fast absurd verrenkten, weggedrehten Schultern). Das ist ungefähr so cool, wie die Bierbank vor dem Hinsetzen mit einem Taschentuch abzuwischen.

Es verlangt ja keiner, dass man jeden fremden Menschen mit zwei Bussis auf die Wange begrüßt. Anonymität kann wirklich manchmal ein Geschenk sein. Aber wenn diese Anonymität als Ausrede dient für die Unfähigkeit, ein höfliches Zusammenleben zu ermöglichen, dann ist das doch eine irre Schieflage.

In Deutschland bist du automatisch der Depp, wenn du „zu freundlich“ bist

Dass in Deutschland automatisch derjenige der Depp ist, der irgendwie als „zu freundlich“ auffällt, spüre ich an mir selbst. Meine Kolleg*innen müssen immer über mich lachen, weil ich mich ständig für Kleinigkeiten entschuldige. Natürlich bin ich auch oft wütend und schlecht gelaunt, und ja, ich lasse das natürlich auch an anderen Leuten aus, logisch. Aber es ist doch nicht zu viel verlangt, darauf zu achten, dass hauptsächlich die Menschen deine schlechte Laune abkriegen, die es aushalten. Das sind Freund*innen, Familie und Bekannte. Und keine Fremden, die sich danach total miserabel oder genervt fühlen, weil sie das Pech hatten, zufällig ein öffentlicher Katalysator deiner Frustration zu werden.

Dabei bin ich nicht die einzige Person auf der Welt, der auffällt, dass wir in Sachen Freundlichkeit und Wertschätzung ziemlich versagen. Ich wage mal zu sagen, dass ziemlich viele Menschen von dieser konsequenten Grummeligkeit ehrlich frustriert sind. Vor zwei Jahren hat sogar eine Krankenkasse begriffen, dass im zwischenmenschlichen Umgang etwas nicht stimmt und wirbt in einer PR-Kampagne mit riesigen Plakaten für ein freundlicheres Zusammenleben. Im Ernst? Ist die Gesellschaft heute so selbstzentriert, dass sie für ein menschliches, freundliches Verhalten eine Plakat-Kampagne braucht?

Das Wort „Anstand“ wird heute ungern gebraucht, es klingt so konservativ gefärbt nach Knigge oder Biedermeier. Der englische Begriff „Common Decency“ lässt sich zwar mit dem „gebotenen Anstand“ übersetzen. Aber er trifft den Kern der Sache viel besser, denn man kann die Übersetzung dehnen bis hin zu „Rücksicht“ und „Liebenswürdigkeit“.

Es ist längst Zeit, sich wieder etwas mehr an einer „Common Decency“ zu orientieren. Sich bei Fremden bedanken, ihnen einen schönen Tag wünschen. Nicht, weil es anständig wäre. Sondern weil es einer „allgemeinen Liebenswürdigkeit“ entspricht, mit der zu leben, ich verspreche es, so viel schöner ist.

Dieser Text erschien erstmals am 01.02.2019 und wurde am 07.04.2021 nochmals als Best-of-Text veröffentlicht.

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