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Zwei Bücher, Folge 2: Wiedergeburt

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Katharina Hartwell, 1984 in Köln geboren, hat Anglistik und Amerikanistik studiert. Seit 2010 macht sie ihren Master am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig. Im selben Jahr erschien ihr literarisches Debüt, der Erzählungsband „Im Eisluftballon“. Katharina Hartwell war u.a. Gewinnerin des MDR-Literaturpreises 2009 sowie Stipendiatin der Jürgen-Ponto-Stiftung und des Landes Hessen. 2013 ist sie Sylter Inselschreiberin und Stipendiatin am Literarischen Colloquium Berlin. Vergangenen Juli erschien ihr vielgelobter erster Roman „Das Fremde Meer“ im Berlin Verlag.

Teil 1: Die Neuerscheinung

Kate Atkinson: Die Unvollendete

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert



jetzt.de: Ich sag es gleich vorneweg: Mit hat der Roman nicht gefallen. Und dir?
Katharina Hartwell: Mir hat er gut gefallen, ich mag die Autorin sehr. Ich habe auch ihre bisherigen Bücher gelesen und fand alle gut.

Warst du also voreingenommen?
Nein, aber wenn man schon zehn Bücher einer Autorin gelesen hat, mag man den Tonfall meistens. Und auch in diesem Roman gibt es bestimmte Aspekte ihres Schreibens, die mir bekannt waren und die mir gefallen.

Welche Aspekte sind das?
Atkinsons Schreiben hat oft einen Humor und einen Detailreichtum, den ich gerne mag. Und an „Die Unvollendete“ mochte ich vor allem die anachronologische Art zu erzählen.

Dann lass uns doch an dieser Stelle kurz zusammenfassen, was überhaupt in „Die Unvollendete“ erzählt wird.
Es wird die Lebensgeschichte einer Frau erzählt, die an verschiedenen Punkten ihres Lebens stirbt. Jedes Mal, wenn ihr Tod eintritt, springt das Buch zurück und fängt wieder bei ihrer Geburt an. Dann wird weiter erzählt, wie ihr Leben verlaufen wäre, wenn sie nicht gestorben wäre. Dazu gibt es auch kleine Änderungen ihres Lebenslaufes, die unabhängig von ihrem Sterben stattfinden. Erzählt werden also unterschiedliche Versionen eines Lebens einer Frau.

Diese Frau, Ursula, wird 1910 in England geboren und ihr Leben wird bis zum Jahr 1967 erzählt. Die Darstellung des viktorianischen England und auch des England während des zweiten Weltkriegs erschienen mir wie schlechter Karneval.
Ich hätte den zweiten Weltkrieg nicht gebraucht, das war mir auch zu viel Krieg. Aber die Zeit davor war gut beschrieben. Außerdem mag ich dieses sehr englische, detailverliebte Schwelgen in der Vergangenheit.

Aber da passiert doch auf 250 Seiten gar nichts.
Das stört mich überhaupt nicht. Das war alles sehr atmosphärisch, ich brauche dann keine großen Ereignisse.

Ich auch nicht, aber noch viel weniger brauche ich viktorianisches Teetantengeplapper auf über 200 Seiten.
Aber man erfährt sehr viel über die Familie, das ist sehr interessant.

Was gefällt dir denn daran, das musst du mir wirklich erklären.
Ich habe oft ein Problem mit deutschsprachiger Literatur. Mir ist die Sprache meistens viel zu kalt, zu glatt, zu nüchtern. Und das geht mir bei Atkinson nicht so. Hier habe ich eine Sprache, die sehr warm ist, in die ich mich sehr gut einfühlen kann. Ich habe vor allem auch das Gefühl, dass die Autorin ihre eigenen Figuren sehr gerne mag, das habe ich bei Deutschen Autoren sehr selten. Das ist ein Grund für mich, ein Buch wegzulegen. Atkinsons Figuren, die teilweise auch schrecklich sind, mag man irgendwie doch. Das ist für mich das Wichtigste an einem Buch.   

Es gibt eine Passage, in der Ursula gegen ihren Willen zunächst geküsst, später vergewaltigt und davon schwanger wird. Das ist die Ausgangskatastrophe für eine Version ihres Lebens, an deren Ende sie von ihrem gewalttätigen Ehemann erschlagen wird. Das ist klischeebeladen und fatalistisch. Burnside, über den wir gleich sprechen werden, sagt: Fehler geschehen nicht in einem einzigen, entscheidenden Moment, sie entwickeln sich langsam während eines ganzen Lebens.
Ja, wenn nur diese eine Geschichte erzählt worden wäre, hätte mich das auch gestört. Aber das ganze Erzählprojekt dieses Romans hätte nicht funktioniert, wenn die unterschiedlichen Punkte ihres Lebens keinen Effekt gehabt hätten.

Das stimmt. Nur normalerweise hätte ich das Buch nach diesem Teil weggelegt.
Ich nicht. 

Kate Atkinson, Die Unvollendete. Aus dem Englischen von Anette Grube, Droemer Verlag, München 2013, 592 Seiten, 19,99 Euro.

Auf der nächsten Seite: Katharina erzählt, was sie im dystopischen Roman "Glister" fasziniert.


Teil 2: Das Lieblingsbuch

John Burnside: Glister

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert



In „Glister“ wird die Jugend von Leonard erzählt. Die Geschichte spielt an einem dystopischen Ort, der sich in Innertown und Outertown aufteilt. Dieser Ort ist sehr eng mit der Geschichte aller Protagonisten des Romans verknüpft, er wirkt sehr stark auf sie.
Genau, alles ist irgendwie aus der Zeit gefallen. In der Innertown steht eine alte Chemiefabrik, die katastrophale Auswirkungen auf die Bewohner hat. Die meisten leiden an gruseligen und unerklärlichen Krankheiten oder Mutationen, die Umwelt stirbt, die Tiere mutieren. Alles ist in einem Zustand des Zerfalls. Und dann verschwinden auch noch die Jungen von Innertown. So wird die Geschichte eröffnet.

Und der zuständige Polizist verschweigt die Leichenfunde der verschwundenen Jungen.
Ja, in Innertown herrschen auch noch sehr korrupte Strukturen und der Geschäftsmann Mr. Smith hält alle Fäden in seinen Händen.

Mir gefällt an diesem Szenario unglaublich gut, wie Burnside es schafft, mit relativ einfachen Mitteln eine Welt zu kreieren, die alle Funktionsmechanismen unserer Gesellschaft aufweist und plastisch macht.
Das mag ich auch sehr. Es hat gleichzeitig auch etwas sehr Vergangenes, was wiederum mit diesem dystopischen Szenario kollidiert, das ja von uns aus gesehen in einer Zukunft spielt. Ich fand gut, dass dann aber keine Roboter da rumlaufen, sondern man ganz im Gegenteil das Gefühlt hat, diese Art von Gesellschaft könnte es grad irgendwo geben oder gegeben haben.   

Und dazu gibt es dann Anleihen eines Kriminalromans, die sehr gut eingegliedert sind und den Plot sehr spannend machen.
Ja, am besten ist die Geschichte des mythologischer „Glister“, die mit dem Verschwinden der Jungen verwoben und Teil des Endes ist. Das mag ich am liebsten!

Da taucht dann eine Figur namens „Mottenmann“ auf. Ist das eigentlich ein Heilsbringer oder ein Rächer?
Das kann man gar nicht sagen, deshalb ist es auch so gut. Man erfährt nur, dass diese verschwundenen Jungen vom Mottenmann dem „Glister“ überantwortet werden. Ob das nun ein ganz großer Horror oder eine Art von Erlösung ist, bleibt offen, es ist irgendwie beides. Es hat einen starken Eindruck auf mich gemacht, dass man nicht versteht, was da passiert und es eben trotzdem versteht.

Jetzt haben wir über zwei Bücher von angelsächsischen Autoren gesprochen. Du hast Anglistik studiert. Hast du eine besondere Vorliebe für diese Literatur?
Ja, das ist die Literatur mit der ich aufgewachsen bin, mein Vater ist Engländer. Die Art zu erzählen und der Tonfall sind mir sehr nah.

Beim Lesen von Burnside meinte ich öfter Parallelen zu deinem Schreiben zu erkennen. Hat er dich beeinflusst?
Ja, ich habe mich furchtbar erschrocken, als ich das Buch jetzt noch mal gelesen habe. Es gibt eine Szene am Schluss von „Glister“, die ich komplett vergessen und ausgeblendet hatte, die aber sehr ähnlich auch in meinem Roman zu finden ist. Eigentlich habe ich beim ersten Lesen nicht gedacht „du musst dir das merken“ und „so musst du schreiben“. Aber anscheinend sickert Begeisterung für einen Stil sehr tief und kommt dann wieder hoch.

Wie war es denn überhaupt, das Buch zum zweiten Mal zu lesen?
Es war sehr anders, als ich es in Erinnerung hatte. Was mir nicht gefallen hat, hatte ich vollkommen ausgeblendet. Ich hatte mich ganz an dem Schluss und dem mythologischen „Glister“ aufgehangen, die mir so gut gefallen hatten. Aber jetzt war mir vieles doch zu derb. Die Kinder, die ein ganz schreckliches Leben führen und einen Lynchmord begehen, die Brutalität, die Überschneidung von Sex und Gewalt. Ich dachte: „Oh Gott, und das hast du deiner Mutter und all deinen Freunden angepriesen?“     

John Burnside, Glister. Aus dem Englischen von Bernhard Robben, Albrecht Knaus Verlag, München 2009, 288 Seiten, 19,95 Euro.

Text: dorian-steinhoff - Fotos: Lisa Rank, oh

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