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"Ihr seid Schlampen"

Foto: landymax / photocase.de

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Schon am Gleis merke ich, dass uns ein Mann anstarrt. Mitte 50 vielleicht, er trägt eine schmutzige Cordhose, einen abgetragenen Anorak und Schiebermütze. Wir, das sind meine Schwester und ich, zwei Frauen Anfang 20, in Jeans und Mantel. Mitten in München. Als die U-Bahn am Ostbahnhof ankommt, schiebt sich der Mann direkt hinter meiner Schwester durch die Tür. Wir setzen uns zu zwei Männern, einer der beiden hört Musik.

Der Mann vom Gleis stellt sich neben mich. Als an der nächsten Station der Platz gegenüber meiner Schwester frei wird, schwankt er kurz, dann quetscht er sich auf den Sitz und sagt etwas zu uns, das ich nicht verstehe. Er riecht nach Alkohol und er wirkt ein bisschen verwirrt. Wir schauen ihn an, dann auf unsere Hände. Stille. Worüber hatten wir gerade nochmal gesprochen? Ich fühle mich beobachtet.

Dann schaut mir der Mann direkt in die Augen und sagt: „Schlampe“. Und dann noch mal: „Ihr seid Schlampen.“ Er sagt das nicht laut oder aggressiv, sondern ganz beiläufig. „Komm, wir setzen uns woanders hin“, sagt meine Schwester. Der Mann beugt sich leicht nach vorne. Ich habe Angst, dass er uns nachläuft, wenn wir aufstehen. Außerdem will ich mich nicht so anstellen. Andere könnten sagen: „Er fasst euch  ja nicht mal an.“ 

Aber warum denke ich überhaupt so? Würde er uns wirklich berühren oder aggressiv bedrohen, dann wäre ich wahrscheinlich laut. Empört. Dann wäre eine klare, gesellschaftlich anerkannte Grenze überschritten worden. Aber ist sie das nicht auch jetzt schon? Man kann Menschen anzeigen, die einen als Schlampe beschimpfen. Nur tut das kaum jemand. Verbale Gewalt erniedigt ihre Opfer. Sie ist, wie jede andere Art von Gewalt auch, absolut nicht in Ordnung. Trotzdem scheue ich mich, einen Aufstand zu machen. Etwas in mir sagt: „Meine Güte, sei nicht so zimperlich.“ Verhalte ich mich richtig? Oder sollte ich anders, früher, lauter, leiser, deutlicher oder gar nicht reagieren? 

"Unsichtbar zu werden ist der erste Fehler"

Ein Experte wird mir später sagen, dass ich alles falsch gemacht habe. Ralf Bongartz war 20 Jahre lang bei der Kriminalpolizei. Heute arbeitet er als Trainer für Prävention und Zivilcourage. „'Unsichtbar' zu werden und so zu tun, als hätte man mit der Situation nichts zu tun, ist der erste Fehler. Das bedeutet Flucht und ist genauso sinnlos wie provozierendes Anstarren“, sagt er.

Doch als ich in der U-Bahn sitze, weiß ich das noch nicht. Noch nie kamen mir drei Stationen Fahrt so lange vor. Ich schaue auf die Hände des Manns, manche Finger sind ein bisschen gelb. Und er sagt wieder: „Ihr seid Schlampen.“ „Halt die Klappe“, entgegne ich. Aber er macht weiter. Warum beschimpft uns ein wildfremder Mann einfach so? Sehen wir so aus, als ob wir uns nicht wehren könnten? Sind wir also leichte Opfer?

Bongartz bestätigt mein Gefühl. Wenn man sich klein mache, rutsche man in „ohnmächtige Kindhaltung“. Stattdessen solle man laut sein. „Dadurch werden andere aufmerksam und die ganze Situation wird auch für den Täter ungemütlich.“ Das klingt leicht und selbstverständlich – dabei ist es eben genau das nicht. Laut zu sein, das sei für die meisten schwer, sagt Bongartz. Wir seien nämlich nicht zum wütend-und-aggressiv-werden erzogen. Deshalb rät Bongartz auch, sich mit anderen zusammenschließen und zu zeigen, dass sich der Täter so nicht verhalten kann. 

Ich überlege, wann ich sonst akzeptieren würde, dass mich jemand Schlampe nennt. Mir fällt nichts ein. Weil ich es eben nie akzeptieren würde! Eigentlich. Aber in diesem Moment, zwischen Max-Weber-Platz und Lehel, tue ich nichts dagegen. Wirkt das so, als ob der Mann Recht hat? Wir sitzen auf einem Präsentierteller, öffentlich beleidigt von einem Typen in der U-Bahn, ohne uns richtig zu wehren. Mir fällt der Mann ein, der meiner Schwester und mir in der U-Bahn vor zwei Jahren seinen Penis gezeigt hat, durch ein großes Loch in seiner Hose. Damals konnte ich nur geschockt aufspringen und weggehen. Ich denke an die vielen Male, die ich schon beobachtet habe, dass jemand Opfer von mündlichen Attacken geworden ist.

Beschimpfungen sind Alltag, tauchen in der Kriminalstatistik aber nicht auf

Dass Frauen verbal belästigt werden, passiert jeden Tag unzählige Male. Trotzdem sind diese Delikte nicht in der Kriminalstatistik aufgeführt. „Ich weiß genau, was Sie meinen. Aber dazu haben wir keine Zahlen“, sagt mir ein Sprecher der Münchner Polizei. 

In der U-Bahn sitzt mir gegenüber ein Mann, der Musik hört. Er schaut in die Luft, tut so, als ob alles normal wäre. Ist es aber nicht. Bin ich in so einer Situation angewiesen auf einen „Beschützer", der irgendwie autoritärer und stärker ist als ich? Auf jemanden, dessen Stimme nicht zittrig wird, wenn er aufgeregt ist? So klein, hilflos und wütend fühle ich mich sonst eigentlich nie. 

Erst als wir am Odeonsplatz – der dritten Station – sind, sagt ein Mann aus dem Vierer neben uns: „Jetzt lassen Sie die beiden jungen Damen doch mal in Ruhe.“ Freundlich und sachlich. Der angetrunkene Mann steht sofort auf und versucht, einen Schritt nach vorne zu machen. Was dann noch passiert, weiß ich nicht. Wir müssen hier raus. „Danke“, sage ich zu unserem Helfer, dann steigen wir unter den Blicken der anderen aus. Der Mann mit den Kopfhörern bleibt sitzen. Meine Gedanken drehen sich. Was bleibt, ist das schale Gefühl, eine überschrittene Grenze akzeptiert zu haben. 

"Für viele Täter ist das ein Statusspiel"

Bongartz wird mir sagen, dass der Mann, der uns geholfen hat, noch viel zu höflich war. „Wenn man bestimmt auftritt, hören die meisten schon in der Provokationsphase auf. Für viele Täter ist das ein Statusspiel und sie rechnen nicht mit einem hohen Status des Gegenübers.“ 

Der Pöbler in der U-Bahn ist in meinen persönlichen Schutzraum eingedrungen. Jetzt weiß ich: Dann soll man laut werden und sich bestimmt wehren. Was aber, wenn ein Randalierer in die U-Bahn kommt und erstmal niemand bestimmten angreift? „Wenn der Täter weiter entfernt ist, also noch nicht in den eigenen Kreis eingedrungen ist, sollte man ihn souverän ignorieren. Das bedeutet aber nicht, hinter seiner Zeitung zu versinken und unsichtbar zu werden“, sagt Bongartz. Besser solle man dem Täter einmal fest in die Augen schauen und dann souverän seitlich wegsehen. „Auf keinen Fall darf man kleiner werden, sondern sollte immer präsent bleiben. Solche Täter haben in der Regel sehr gute Sensoren. Sie merken genau, wenn man sie im Blick behält, aber auch, wenn man sich kleiner macht“, erklärt der Experte. Genausowenig solle man aber auch zurück starrten. „Das Ziel sollte immer sein: Nicht andocken!“

Und wenn man alleine von mehreren Tätern umzingelt wird, wie es in der Kölner Silvesternacht passiert ist?  Bongartz rät: Das Alphamännchen ignorieren und sich auf die schwächeren Gruppenmitglieder konzentrieren. „Sagen Sie etwa: ‚Du hast doch bestimmt eine Schwester, ich könnte deine Schwester sein. Hilf mir. Lass das nicht zu. Denk an deine Familie, die würdest du doch auch beschützen. Jetzt beschütz mich!‘ und versuchen Sie, Blickkontakt aufzubauen.“ Je mehr man aggressiv-verbal oder auch körperlich mit dem Alphamännchen kämpfe, desto höher sei die Bereitschaft der Gruppe, dem Anführer beizustehen und diesem zu glauben, dass das Opfer es „verdient habe“, sagt der Experte.

Alle Täter hoffen, dass das Opfer nicht schlagfertig und mutig genug ist, sondern so leise wie ich. Ich war nach den Worten von Bongartz eine „Tankstelle für den Täter“. Der Mann aus der U-Bahn hat sich aus meiner Schwäche Energie gezapft, um seine eigene innere Leere zu füllen. Das ist ein mieses Gefühl. Nie wieder Tankstelle für solche Typen sein, das nehme ich mir jetzt fest vor. Und außerdem: Gleich laut werden, wenn ich so etwas beobachte.

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