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Männer, die auf Schuhe starren

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Shoegazing ist – was die Wortwahl angeht – vielleicht das schönste aller musikalischen Genres. Im Gegensatz zu seinen Kollegen Psychedelic-Rock, Dream Pop oder Weird-Folk verdankt Shoegazing seinen Namen nicht den musikalischen Inhaltsstoffen, sondern einer Verhaltensweise seiner Vertreter. Jeder von uns hat schon mal shoe-gegazed – in Gedanken verloren die eigenen Treter betrachtet. Im Falle von musikalischem Shoegaze geht es um das Starren der Gitarristen auf die eigenen Schuhe, die in den englischen 90ern häufig Chucks oder Stiefel gewesen sein dürften. Der Gitarrist betrachtet aber mitnichten seinen Schuh, sondern hat sich wahlweise in Gedanken über die eigene Musik verloren oder kontempliert die Reihenfolge der als nächstes zu benutzenden Effektpedale. Der Sound der Shoegazer besteht nämlich in maximalverzerrten Gitarrenflächen, die sich zu einer wabernden Klangmauer aufbauen, die nur von Drums und kaum erkennbaren Vocals durchbrochen wird. "Wir haben versucht unsere Gitarren wie alles mögliche klingen zu lassen, nur nicht wie Gitarren", sagt Mark Clifford von Seefeel in einer Shoegaze-Dokumentation. Zusätzlich zu diesem Schuhfetisch waren Shoegazer generell wortkarg. Sie sprachen bei Auftritten nicht mit dem Publikum, sondern im besten Falle mit sich selbst. Shoegazer waren musikalische Nerds.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Historische Aufnahme aus den frühen 90er Jahren von einem Shoegazer in Aktion.

Aus verschiedenen Gründen schaffte Shoegaze trotz des besten aller Genre-Namen den Durchbruch nicht. Besonders die Ankunft von Grunge und Britpop auf der musikalischen Bühne machte den Schuhstarrern zu schaffen. Vereinfacht lässt sich sagen: Die Shoegazer waren der Masse an musikkaufenden Kids nicht cool genug. Kurz vor dem vorläufigen Ende der Bewegung veröffentlichte die irisch-englische Band My Bloody Valentine dann noch mal eben schnell ein Wahnsinnsalbum. "Loveless" findet sich auf den allermeisten Jahrzehntbestenlisten von Zeitschriften und berühmten Rockmusikern und sorgte so dafür, dass jede Generation von Musikinteressierten irgendwann einmal über die Shoegazer stolpert. Dabei sind die Kerntugenden des Shoegazing weit davon entfernt, in Vergessenheit geraten zu sein. 

2007 wurde von Musikjournalisten eine Shoegaze-Revival-Welle ausgerufen, sie nannten sie "Nu-Gaze". Interessant ist vor allem die Bandbreite der Bands, denen das neue Label angeheftet wurde: Toro y Moi, Washed out, Deerhunter, Beach House, Blonde Redhead, M83, Neon Indian. Den Musikern gemeinsam ist eine gewisse psychedelische Note, verschwommene Lyrics, die in einer Klangwelle untergehen, und wenig egozentrische Live-Performances. Doch der Sound der meisten Bands hatte mit 90er-Shoegaze wenig gemeinsam. Shoegazing war also schon 2007 weniger ein Klang, denn eine Haltung.  

Shoegazing 2013 ist Screenstaring. Die Faszination für Wall-of-Sound-artige Klangkathedralen ist immer noch stark, nur braucht der Gazer von heute dafür kein Pedalarsenal mehr. Jeder Schlafzimmer-Produzent mit einem Musikprogramm hat heute die Mittel, zwanzig experimentelle Tonspuren übereinander zu türmen. Es könnte dieses Jahr dennoch zu einem kleinen Revival kommen, wenn der teilweise Crowd-finanzierte Dokumentarfilm "Beautiful Noise" in den Kinos zu sehen ist. Darin beteiligen sich dutzende berühmte Musiker, wie Trent Reznor (Nine Inch Nails), Wayne Coyne (Flaming Lips) und Billy Corgan (Smashing Pumpkins) an der endgültigen Mystifizierung von Shoegazing. My Bloody Valentine wird das nicht stören. So wird ihr größtenteils durchschnittliches neues Album trotzdem Teil einer großen Erzählung.

"Wir hatten eine Band, weil wir Musik machen wollten, nicht um berühmt zu werden", sagt MBV-Bassistin Debbie Googe in dem Trailer zu "Beautiful Noise". Das unterscheidet sie vielleicht von kommerziellen Genres wie Pop, Rap oder Rock, etwas besonderes ist die Liebe zum reinen Ton im Jahr 2013 aber nicht mehr.  

Nerdtum im Jahr 1990 war mutig. Jungs und Mädels, die sich für Asteroidengürtel und Algorithmen interessierten, hatten wirkliche soziale Ächtung zu befürchten. Nachdem das Jahr 2012 zum Jahr des "Codens" ausgerufen wurde und in den vergangenen fünf Jahren reihenweise bebrillte Nerds zu Multimillionären aufstiegen, ist der Nerd zum Helden geworden. 2013 ist My Bloody Valentine deshalb weder musikalisch noch gesellschaftlich notwendig. Gazer und Geeks gibt es genug. Alles was uns zu interessieren braucht, ist, ob das neue Album hält, was "Loveless" 1991 versprach. Und diese Antwort ist leicht zu geben: eher nicht.

Text: max-muth - Foto: dequare / photocase.com

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