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Woher der Hass? Mathe
Wer schon einmal montagsmorgens um acht Uhr in einer Schule war (also die allermeisten), der weiß, was für ein hasserfüllter Ort das sein kann: Der Hass rieselt durch den Klassenraum, in den Staubwolken der Tafelkreide, er hockt hinter den Getränkepäckchen, die der Hausmeister auf dem Pausenhof aus seinem Kiosk verkauft, und er ist eingebrannt in den stinkenden Boden der Turnhalle. Die Holzstühle kommen einem um diese Zeit noch härter vor als sonst und wenn man Schüler ist, dann kann einem schon mal die Angst das Bein hochkrabbeln, dass das Leben mindestens genauso hart werden könnte. Die Schule, an so einem Montagmorgen scheint sie nur einen Zweck zu haben: die jungen Menschen schon einmal darauf einzustimmen, dass das Leben wenig zu bieten hat. Hauptsache man funktioniert, ist nützlich und hält durch, bis man irgendwann alt und dement wird und wenigstens nichts mehr merkt von allem.
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Das klingt jetzt pubertär, klar. Aber das lässt sich so auch nur leicht sagen, wenn man kein Pubertierender mehr ist und nicht mehr zur Schule muss. Und nicht gleich auch noch Doppelstunde Mathe hat, das große Epizentrum des Schulhasses: Polynomdivision bei Frau Schlingen, mit ihren unangekündigten Tests und den hässlichen Blusen und blöden Witzen.
Während der andere Pubertätshass irgendwann vergessen, verdrängt oder wenigstens geleugnet wird, bleibt eines aus der Schule fürs ganze Leben: der Hass auf Mathe. Es gibt wohl kein Bekenntnis zur Unfähigkeit, für das man so viel Applaus, Konfettiparaden und Bundesverdienstkreuze einheimsen kann wie für den Satz „In Mathe, also da kann ich wirklich gar nichts.“ Und nicht nur das: Man finde es, fahren die Leute fort, sogar widerlich und abstoßend und müsse schreien, wenn einem zufällig irgendwo eine Formel über den Weg laufe. Den meisten Erwachsenen passiert das nur noch in Albträumen, nachdem sie zu viel schlechten Weißwein getrunken haben: Da müssen sie dann die Mathearbeit aus der 10. Klasse noch einmal schreiben und sterben tausend Tode. Der wichtigste Satz beim Mathe-Hassen ist aber dieser: „Ich habe das nie wieder gebraucht!“ Schnaubend-enttäuscht vorgetragen. Als habe man die Höllenqualen damals in der Schule nur überstehen können, weil einem versprochen wurde, dass man später im Leben hin und wieder eine Textaufgabe lösen muss, um weiterzukommen.
Das Problem ist natürlich schon länger bekannt. Inzwischen hat sich von Intellektuellen wie Hans Magnus Enzensberger bis zu den Vorsitzenden der örtlichen Handelskammern schon jeder dazu zu Wort gemeldet und den Missstand beklagt. Der Wirtschaftsstandort Deutschland sei gefährdet, rufen die einen, wenn nicht endlich dieser Mathe-Hass aufhöre! An den Hochschulen könnten die Erstsemester nicht einmal ihr Alter an den Fingern abzählen, rufen die anderen, und bald werden unsere Autos bei Nieselregen sofort explodieren, weil gute Ingenieure fehlen!
Also, wer hat daran Schuld? Woher der Hass auf Mathematik? Für den großen Mathematik-Liebhaber Enzensberger sind die Schulen dafür verantwortlich: Die öden Routinen, die man zu Beginn der Schulzeit lerne, sie verderben einem den Spaß: „Es ist so, als würde man Menschen in die Musik einführen, indem man sie jahrelang Tonleitern üben lässt. Das Resultat wäre vermutlich lebenslänglicher Hass auf diese Kunst.“
Das klingt plausibel, aber vielleicht spielt noch eine andere Sache eine Rolle. Warum bloß rufen die Mathehasser so gern ihren Schlachtruf „Ich habe das nie wieder gebraucht“? Oder, wie es ein beliebtes Internet-Mem formuliert: „Well, another day has passed . . . and I still haven’t used Algebra.“
Der Hass auf Mathe ist auch der Hass auf ein gebrochenes Versprechen – das Versprechen, das in Lehrer-Sätzen wie „Mathe steckt in allem“ und „Ohne Mathematik würde deine Playstation nicht funktionieren“ enthalten ist. Natürlich stimmt beides und niemand wird ernsthaft bestreiten, wie nützlich Mathematik ist – aber eben nicht für jeden auf eine so direkte Weise, wie einem ständig eingeredet wird. Ein aktuelles Mathe-Buch für die 10. Klasse hat eine Achterbahn auf dem Cover. Klar, zu Achterbahnen kann man sicher irgendwas Langweiliges berechnen – aber was hat das mit dem Spaß am Achterbahnfahren zu tun?
Vielleicht muss man ja radikal umdenken. Vielleicht macht genau das Mathe erst recht langweilig, für Pubertierende und Erwachsene: dass es nur noch eine Sache mehr ist, die man braucht, um in den Alltagsmühlen zu bestehen und auf harten Holzstühlen auszuharren. Noch etwas, das helfen soll, zu funktionieren – na toll, danke auch. Vielleicht sollte man die Mathematik dann besser in ihrer abstrakten Nutzlosigkeit feiern. „Ich habe nie etwas gemacht, was ,nützlich‘ gewesen wäre“, hat der Mathematiker Godfrey Harold Hardy einmal geschrieben. „Für das Wohlbefinden der Welt hatte keine meiner Entdeckungen – ob im Guten oder Schlechten – je die geringste Bedeutung, und daran wird sich auch vermutlich nichts ändern.“ Das klingt nach einer Herangehensweise für montagmorgens, acht Uhr in der Schule.
Text: lars-weisbrod - Illustration: daniela-rudolf