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Lob auf den ersten Tag nach dem Oktoberfest
In diesem Jahr habe ich die Wiesn verpasst, weil ich nicht in München bin. Das ist einerseits okay, weil ich nicht so sehr an der Wiesn hänge. Ich war nicht traurig, dass ich nicht in ein Festzelt gehen und mir da einen antrinken konnte, und auch nicht, dass ich das halbe Hendl, die dritte, nicht ausgetrunkene Maß, die anschließende Autoscooter-Fahrt, die gebrannten Mandeln für den Heimweg und die blauen Flecken am nächsten Tag verpasst habe. Andererseits ist es überhaupt nicht okay, denn heute ist mein liebster München-Tag: der erste Tag nach der Wiesn und der Tag der verkaterten Touristen! Und ich bin sehr traurig, den zu verpassen.
Im letzten Jahr zum Beispiel, da war es der 5. Oktober und ich hatte frei und es war dieses Wetter, das nur München im Oktober kann: Der Himmel war ganz hellblau, ohne eine Wolke, die Luft ganz klar, und es ging ein ganz leichter Wind. In der Sonne hat man noch ein Kleines bisschen schwitzen müssen, wenn man länger als zehn Minuten drinsaß, aber im Schatten musste man auch schon ein bisschen frieren, und alles roch nach Herbst, ohne, dass es nach Herbst aussah. Alle Blätter noch da, alles noch grün, aber schon dieses Gefühl da, dass etwas vorbeigeht. War ja auch gerade etwas vorbeigegangen, die Wiesn.
Ich ging durch die Stadt an diesem Tag und ich fuhr mit der U-Bahn, und es war ganz ungewohnt, wie still es auf einmal war und wie leer. Vorher saßen jeden Tag Menschen mit diesem „Ich geh jetzt saufen und tanze auf den Bänken!“-Blick in der U-Bahn Richtung Festwiese, oder mit dem „Mir ist nicht so gut, ich glaub ich muss vielleicht…oder doch nicht…oder doch…???“-Blick in der U-Bahn von der Festwiese weg. Oder bevölkerten den Bahnhof oder den McDonald’s am Stachus oder die Bars. Und jeden Tag wurde es ein bisschen schlimmer. Denn während der zwei Wiesn-Wochen wird die Stadt selbst immer betrunkener, sie heizt sich auf, sie kriegt echt gute Laune, sie schwitzt, dann fängt sie an zu torkeln und zu lallen, und es geht langsam abwärts, und sie merkt, dass es jetzt aber bald auch mal vorbei sein muss, mit der Sauferei – und dann wacht sie am Tag danach auf und ist glücklich, weil sie eine gute Zeit hatte. Aber sie hat auch einen tierischen Kater und muss sich erstmal erholen.
Ich bin auch durch den Hofgarten gelaufen, an diesem Tag. Erst schien alles so zu sein wie immer an schönen Tagen. Menschen spazierten und Menschen ruhten sich aus, auf Bänken und auf dem Rasen. Aber dann fiel mir auf, dass die sich ausruhenden Menschen verschiedene Sprachen sprachen. Und dass vor allem die auf dem Rasen nicht so aussahen, als hätten sie sich gemütlich ins Gras gesetzt, sondern eher so, als hätten sie sich fallengelassen. Sie lagen auf dem Rücken, den Arm schützend über das Gesicht gelegt, saßen nach vorne geneigt mit der Stirn in den Händen, waren heiser und wirkten insgesamt eher erschöpft.
Die verkaterten Touristen passen in die verkaterte Stadt. Sie dünsten Bierdunst aus, wie die U4 und die U5
Da wurde mir klar: Das sind verkaterte Touristen! Das sind die Menschen, die sich wahrscheinlich gesagt haben: „Nach dem Oktoberfest häng ich noch ein, zwei Tage Münchenurlaub dran – wenn man schon mal da ist, muss man sich ja auch was angucken!“ Und dann sind sie ein Mal über den Marienplatz gegangen und durch die Theatinerstraße und als sie den Hofgarten gesehen haben, haben sie sich da ins Gras fallen lassen, weil sie einfach nicht mehr konnten. War ja doch lang, gestern, der letzte Wiesn-Abend, und die letzte Maß war eventuell doch eine zu viel (oder die letzten zwei oder drei).
Das klingt jetzt so, als würde ich mich über die verkaterten Touristen lustig machen oder sagen wollen: „Zur Hölle, schaut euch die Stadt an oder verschwindet, aber schwitzt euren Kater bitte nicht im Hofgarten aus!“ Aber das stimmt nicht. Ich liebe die verkaterten Touristen. Sie passen in die verkaterte Stadt. Sie dünsten noch ein wenig Bierdunst aus, wie die U4 und die U5. Sie sind leergefegt wie die Wiesn-Zelte. Aber sie sind eben auch noch da, wie die ganze Festwiese, die noch längst nicht abgebaut ist. Sie sorgen dafür, dass man richtig spüren kann, wie München am Tag nach einer großen WG-Party auf dem Sofa im Wohnzimmer aufwacht, auf dem Couchtisch stehen leere Flaschen und ein Plastikbecher voller Zigarettenkippen, und irgendjemand hat die Flips-Tüte auf dem Teppich ausgeschüttet – und dann macht sie die Augen erst noch mal zu, um sich ein bisschen auszuruhen, bevor sie aufräumt.
Heute wäre ich gerne in München. Wegen der Oktoberluft und wegen des Katers. Wegen dieses wunderschönen Der-Tag-nach-der-Party-Gefühls, ausgebreitet auf die Fläche einer ganzen Stadt. Wenn ihr in München seid: Genießt es! Geht spazieren oder fahrt mit der U-Bahn rum und atmet mal tief durch. Heute ist Schontag. Und morgen ist alles wieder normal.