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Anne in NY: „Die Industriestaaten haben ihre Glaubwürdigkeit verloren“
Als ich am Samstag aus dem Flugzeug steige, weht vor mir eine LKW-große Amerikaflagge. An der Passkontrolle schaut Barack Obama streng aus einem Foto auf die Neuankömmlinge, als wolle er sagen: „Wagt es nicht, mein Land zu schädigen.“ Wie sollte man denn? Mein Gepäck wird penibelst kontrolliert. Mehrmals muss ich die Kamera aus der Tasche nehmen, Objektiv abschrauben, alte Bilder durchzappen. Fingerabdrücke nehmen, Portraitfoto machen, ab durch den Zoll und „Welcome to America“. Wow. Als ich in den Shuttlebus Richtung Manhattan steige, trällert Frank Sinatra in meinem Kopf: „I want to wake up in that city that never sleeps... New Yoooork“. Im Hotel lasse ich meine Sachen fallen und mache mich sofort auf in die Stadt. Ich habe nur diesen Nachmittag und den nächsten Tag für Sightseeing eingeplant, die restliche Zeit verbringe ich bei den Vereinten Nationen.
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Gutglaube oder Milleniumsziel? Ein Plakat mit der Aufschrift „We can end poverty. 2015“ prangert am Eingangstor zum UN-Gebäude. Der Times Square überfordert meine Sinne: Menschenschlangen schieben sich durch die Straßen, von allen Seiten blinkt und blitzt es, Neonreklame flimmert über Bildschirme, die so groß sind wie Einfamilienhäuser. Im Madison Square Garden, inmitten des Lärms von Rasenmähern, vorbeifahrenden Autos und heulenden Sirenen, sitzen junge Leute im Kreis und meditieren. In den Schächten der U-Bahn herrscht drückende Hitze. Zwei alternde Soulladies röhren voller Hingabe Motownklassiker. Frenetischer Applaus. Ein alter Herr mit weißem Haar wackelt auf seinen Stock gestützt mit seinem Hinterteil und ruft ein „Yeah“ in die Menge. Der Puls dieser Stadt wummert an jeder Ecke anders. Die Dimensionen überwältigen mich: laut, hoch, schnell, bunt, schrill. In New York reiht sich Superlativ and Superlativ.
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Die Soulladies im U-Bahn Schacht. Später gehe ich zum UN-Gebäude, um meinen Presseausweis abzuholen. Ein großer roter Banner mit der Aufschrift „We can end poverty. 2015“ prangert an dem Eingangstor. End poverty? In fünf Jahren Armut abschaffen, die seit vielen Jahren die Welt dominiert? Das klingt nach amerikanischem Gutglaube. Ich werde zwei Mal durchleuchtet und plötzlich stehe ich im Hauptgebäude der UN. Ehrfurcht überrollt mich. Der Ort, an dem Weltpolitik gemacht wird, wirkt an diesem Samstagnachmittag wie ausgestorben. Bauarbeiter richten ein Gerüst her, sonst ist niemand zu sehen in dieser riesigen, prunkvollen Halle. Im Pressezelt wird mein Reisepass gescannt und die Verantwortliche überschüttet mich mit Informationen: „Tickets für die einzelnen Reden musst du Montag um neun abholen, lieber eine Stunde eher kommen ... Wenn Obama spricht, wird es voll ... Die Journalistenkabine ist vorne links, frontal zu den Sitzen der Delegierten ...“ Gedanklich hetze ich ihren Sätzen hinterher, verliere dabei aber einige. Dann halte ich meinen Presseausweis in der Hand: wie eine EC-Karte, UN-hellblau und mit meinem Foto drauf. Meine Eintrittskarte in die UN. Unglaublich. Am Ende des Tages tut mir alles weh. Nach 16 Stunden Sightseeing merke ich, wie alles Erlebte in meinem Kopf verschwimmt. Wo war ich heute überall? Was habe ich gesehen? Ich habe das Gefühl, dass nichts wirklich ankommt in meinem Kopf. Meine Füße tun weh, mein Schädel brummt, in meinen Ohren rauscht der Stadtlärm nach. Ich falle ins Bett und schlafe sofort ein. „Welcome to America“. *** Am nächsten Tag liegt der Josie Robertson Platz am Broadway noch im Schatten, als ich morgens Lysa John treffe. Die zierliche junge Inderin hat bisher die Stand ups against poverty-Events in ihrer Heimat koordiniert. Nun kümmert sie sich um die New Yorker Version der Veranstaltung. Eine Bühne steht schon, ein paar junge Leute bauen Stände von Oxfam, Amnesty International und Save the children auf. Lysa erzählt mir, dass es nicht akzeptabel ist, dass jeden Tag 1000 Kinder allein an den Folgen verschmutzten Wassers sterben. „Und das, wo wir doch die Ressourcen haben, so was zu verhindern“ sagt sie fast ein bisschen ungläubig. Sie ist überzeugt, dass ein Event wie dieses hier und heute viel erreichen kann. Letztes Jahr hat eine ihrer Veranstaltungen erreicht, dass die Staatsausgaben für Bildung in einer indischen Region aufgestockt wurden. „Die Macht der Zivilbevölkerung sollte man nicht unterschätzen“, sagt sie zum Abschied.
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
"Make noise against poverty" - Verschiedene Bands spielen am Tag vor dem UN-Gipfel gegen Armut an. Als um zwölf Uhr die Sonne den Platz erhitzt hat und eine Band anfängt zu spielen, zieht es die ersten Leute auf den Platz. Neugierige, Musikliebhaber, Touristen. Aber nur Wenige, die wirklich der Botschaft wegen kommen. An den Ständen der NGOs laufen lebhafte Diskussionen, Experten halten auf der Bühne kurze Vorträge über den Entwicklungsstand einzelner Länder. Ich komme mit einigen Leuten ins Gespräch. Am Ende drücken mir meine Gesprächspartner ihre Visitenkarten in die Hand und fragen: „Könnte ich ihre Karte haben?“ Visitenkarten, das muss ich unverblümt zugeben, gehören nicht zu meiner Ausrüstung. Habe ich nie besessen und bis heute nicht gebraucht. Ich lächle etwas verkrampft und sage, dummerweise hätte ich meine Karten heute zu hause liegen gelassen.
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Priscilla Busingy ist Frauenärztin in Uganda. Auf der Suche nach einer kleinen Verschnaufpause finde ich ein schattiges Plätzchen mit Blick auf die Bühne. Die schwarze Nonne neben mir nehme ich gar nicht war, bis sie sagt: „Es ist ein ganz schön heißer Tag, nicht wahr?“ Lächelnd reicht sie mir die Hand: „Priscilla Busingy“. Sie ist Frauenärztin in Uganda und wird morgen vor der UN sprechen. Sie wird den Regierungschefs erzählen, dass die froh ist, dass es die Milleniumserklärung gibt, dass die Entwicklungshilfe aber in den großen Städten hängen bleibt. „Wir auf dem Land gehen leer aus. Welcher Arzt will schon in einem Krankenhaus arbeiten, in dem es kein Licht und keine Klimaanlage gibt.“ Wöchentlich verliert sie Mütter und Kinder bei der Geburt. „Das muss nicht sein“, sagt Priscilla mit bebender Stimme. Dass ihr der Mutterschutz am Herzen liegt, ist nicht zu übersehen. *** „Die Industriestaaten haben ihre Glaubwürdigkeit verloren“ Am Ende des Tages treffe ich Charles Abugre im Bürogebäude einiger UN Unterorganisationen. Schweißperlen glitzern auf seiner schwarzen Stirn. Seit zwei Tagen hetze er von Meeting zu Meeting, entschuldigt er sein Zuspätkommen. Der Ghanaer ist Leiter der UN Milleniumkampagne in Afrika. Wenn jemand weiß, wie es in Afrika um die acht Entwicklungsziele bestellt ist, dann er.
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
jetzt.de: Was kommt von der Milleniumsdeklaration und den acht Entwicklungszielen der UN bisher in Afrika an? Charles Abugre: Afrika ist in seiner heutigen Form ein sehr junger Kontinent. Wenn man sich ansieht, wo wir vor 50 Jahren gestartet sind, und wo wir heute stehen, dann ist der Fortschritt sehr groß. Wenn man aber, so wie es in der Milleniumsdeklaration steht, sich auf den Stand von 1990 bezieht, wirken die Fortschritte eher gering. Die Wirtschaftskrise hat Afrika hart getroffen. Dazu kam eine Lebensmittelkrise, die Preise sind explodiert. Das hat Afrika in vielen Bereichen weit zurück geworfen. Und trotzdem: Die Entwicklungsarbeit trägt Früchte. So viele Kinder wie nie zuvor gehen zur Schule, die Zahl der Armen sinkt stetig. Wo wurden bisher die größten Fortschritte gemacht? Jedes der acht Ziele hat seine Erfolgsgeschichten. Das beste Beispiel für mich ist die Reduzierung des Hungers vor allem in Malawi, Burkina Faso und Ghana. Dort haben mehrere Faktoren dazu beigetragen, dass heute deutlich weniger Menschen hungern als noch vor ein paar Jahren. Wie konkret wurde das erreicht? Es wurden Straßen gebaut, durch die der Transport von Lebensmitteln erleichtert wird, Bauern bekommen staatliche Unterstützung, wachsende Bildung ermöglicht verbesserte Landwirtschaft und neue Telekommunikationsmittel erleichtern die Koordination des Handels. Ganz langsam stabilisieren sich dadurch die Binnenmärkte. Um welches Entwicklungsziel machen sie sich besondere Sorgen? Am schwierigsten zu erreichen wird der Mutterschutz sein. Die hohe Sterblichkeitsrate von Frauen ist ein Resultat von all den anderen Dingen, die schief laufen: mangelnde Gleichberechtigung und die Machtlosigkeit vieler Frauen, schlechte Gesundheitsversorgung, Krankheiten, mangelnde Bildung und schlechte Infrastruktur. Wenn es keine Straßen, kein Strom und kein sauberes Wasser gibt, erreicht kein Arzt die Gebärenden. Weil hier alles zusammenspielt, ist die Muttersterblichkeit ein guter Indikator für die gesamte Situation Afrikas. Wenn sie sinkt, dann geht es mit Afrika bergauf. Was erwarten sie von dem Gipfel? Von den Industriestaaten erhoffe ich mir, dass sie sich an ihre Versprechen halten. Bisher sind die westlichen Staaten eine Enttäuschung. Wieder und wieder haben sie Großes versprochen und doch nicht erfüllt. Nun müssen sie ihre Glaubwürdigkeit wieder herstellen, indem sie ihre Versprechen, zum Beispiel die zugesicherte Entwicklungshilfe, einhalten. Die Milleniumsziele beziehen aber beide, Industrie- und Entwicklungsstaaten, ein. Welche Verantwortung kommt Afrika zu? Die afrikanischen Staatschefs müssen das Essentielle im Blick behalten. Wirtschaftswachstum und Produktivitätssteigerung sind nutzlos, wenn die Menschen krank sind, wenn sie sterben, und wenn sie schlecht oder nicht ausgebildet sind. Es geht hier schließlich um universelle Menschenrechte. Die Regierungen müssen aktiv gegen Armut vorgehen, die Demokratisierung vorantreiben und Korruption bekämpfen. Wir erwarten, dass jeder Cent der Entwicklungshilfe effizient und transparent eingesetzt wird. Reichen die bisherigen Entwicklungsziele aus? Nein. Sie sind lediglich ein kleiner Teil der Entwicklung. Die Maßstäbe, die angesetzt wurden sind nicht angemessen. Im ersten Entwicklungsziel, der Halbierung der absoluten Armut, wurde festgelegt, dass Menschen, die am Tag weniger als 1,25 US Dollar zur Verfügung haben, arm sind. Aber niemand kann von 1,25 US Dollar am Tag leben. Und abgesehen davon dreht sich das erste Entwicklungsziel auch darum, die Zahl der Armen zu halbieren. Aber was ist dann mit der verbleibenden Hälfte der Armen? Generell sind die konkreten Zahlen ein Problem. Bei dem Ziel, die Grundschulbildung zu fördern, geht es nur darum, mehr Kinder einzuschulen. Die Qualität der Bildung wird überhaupt nicht näher bestimmt. Außerdem fehlt ein Ziel zur Beseitigung von Arbeitslosigkeit. Jobs zu schaffen gehört genauso zu Entwicklungspolitik wie die Beseitigung von Hunger. Aber bei all der Kritik sind die Entwicklungsziele ein Anfang, auf den wir später aufbauen sollten. *** In einer Seitenstraße des Josie Robertson Platzes liegt nach dem Stand up ein hagerer Mann auf dem Fußweg. Seine Klamotten sind versifft, eine Wolke von Schweiß und Urin umgibt ihn. Zusammengekrümmt liegt er auf einem Schlafsack und redet laut, aber unverständlich mit sich selbst. Passanten mustern ihn abschätzig. Armut hat viele Gesichter. Auch in New York City.