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Die Wahl-Kolumne, Folge 2: Ein Herz für Pfadfinder
Wenn früher im Sportunterricht die Teams zusammengestellt wurden, konnte man sein Pausenbrot verwetten, dass als erster nicht der beste Spieler gewählt wurde, sondern der beliebteste Mitschüler. Meist zeichnete der sich vor allem dadurch aus, dass er die coolsten Partys schmiss oder der einzige mit einem eigenen Auto war. Erst dann kamen die Cracks und schließlich die merkwürdigen Eigenbrötler.
Ähnlich funktionieren Polit-Talkshows, egal ob ein solide anmutendes Format wie "Hart aber fair" oder eine eher hippe Sendung wie "Absolute Mehrheit". Mein Bauchgefühl sagt: Wenn ich auf meiner politischen Bildungsmission etwas richtig schnell kapiere, dann wahrscheinlich beim Privatfernsehen. Die erklären mir sicher alles mit Äpfeln und Birnen, schließlich wollen sie ja, dass ich auch während der Werbepause nicht umschalte.
So hatte ich vor zwei Wochen also ein Date mit Stefan Raab. Bei ihm kann der überzeugendste Gast per Telefonabstimmung 300.000 Euro gewinnen. Das gleiche Prinzip wie bei DSDS, inklusive Starbesuch, diesmal von Sido.
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Irgendwo muss Michèle ihr Kreuz ja machen - aber wo?
Raab sitzt auf einem braunen Rundsofa, ich auf meinem eigenen. Ich habe mir fest vorgenommen, genau aufzupassen und nicht auf meinem Smartphone rumzudaddeln. Eingeladen sind folgende Gäste: Heinz Buschkowsky von der SPD, Jens Spahn von der CDU, Caren Lay von der Linken, Boris Palmer von den Grünen und die bereits erwähnte Krawallschachtel aus Berlin. Erster Eindruck der Runde: Alle etwas aufgeregt, nur Sido fläzt desinteressiert in seinem Kissen. Ich höre innerlich, wie der Sendeleiter sich ins Fäustchen lacht, genau so hat er sich das vorgestellt, das macht sicher Quote.
Nach einer lahmen Diskussion übers Kiffen muss ich mich schon ermahnen: Aufpassen, nicht den Faden verlieren. Dabei sollte man meinen, dass so ein Thema für Interesse sorgt. Aber ich höre nur Worthülsen und Ablenkungsmanöver, bisher hat keiner seinen Standpunkt klar gemacht. Dann geht's um das Wahlrecht ab 16. Fast alle finden das okay, Herr Buschkowsky wirft ein paar Zahlen in Sachen Teenager ein, klingt alles völlig logisch. Aber genau da liegt das Problem: Woher kann ich wissen, ob diese Zahlen stimmen? Soll ich das jetzt googeln? Geht natürlich nicht, sonst verlier ich ja den Anschluss. Damit rechnet Buschkoswky garantiert. In solchen Sendungen klingt immer alles einleuchtend, gefühlt haben am Ende immer alle recht, weil sie so ziemlich jedes Thema nachvollziehbar verargumentieren. Was sie dabei weglassen, würde den Unterschied machen, aber wie zur Hölle soll ich als Normalbürgerin das herausfinden?
Jetzt hat Herr Spahn von der CDU eine prima Idee: Er findet, dass man Familien mit Kindern ein mehr gewichtetes Stimmrecht geben sollte, dann würde auch die Familienpolitik in Deutschland voran kommen. Finde ich super, denn dass hier kinderunfreundliche Verhältnisse herrschen, sehe ich selbst jeden Tag. Aber wieder ein Problem: Ich finde Herrn Spahn nicht super. Wie er da so neunmalklug sitzt und abfällige Blicke verteilt - wie ein übereifriger Pfadfinder.
Wäre er mir sympathisch, würde ich wahrscheinlich gar nicht daran denken, dass seine Forderung kaum umsetzbar ist. Unser Wahlsystem ist schon kompliziert genug und zeichnet sich ja vor allem dadurch aus, dass jeder die gleiche Stimme hat, es gibt keine Bevorzugungen. Und, ach ja, was hat das überhaupt mit dem Wahlrecht ab 16 zu tun? Nix, es ist nur ein Ablenkungsmanöver, denn Familienpolitik ist ein Thema, das schön menschelt.
Am Ende gewinnt Sido das Geld, der sich vor allem dadurch hervorgetan hat, dass er andere unterbricht oder einfach gar nicht zuhört. Also nicht wegen seiner politischen Ideen, sondern weil er beim Publikum beliebt ist. Genau wie damals im Sportunterricht.
Und ich? Bleibe ratlos zurück und frage mich, ob ich ungerecht bin. Mal rein hypothetisch: Vielleicht hat die CDU ja gar keine so schlechten Inhalte, vielleicht sollten wir ja wirklich mal mehr die Familien unterstützen. Vielleicht hab ich dieser Partei von vornherein keine Chance gegeben, weil ich ihre Repräsentanten größtenteils unsympathisch finde. Aber ganz ehrlich: So groß mein Herz für Pfadfinder auch ist - ich wähle doch keine Turnbeutelvergesser in mein Team.
Text: michele-loetzner - Illustration: Katharina Bitzl