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Paris, New York, Glauchau
Neulich habe ich meinen Kleiderschrank ausgeräumt. Eigentlich wollte ich Kleidung aussortieren, für den Flohmarkt. Dabei stieß ich auf Sachen, die ich länger nicht mehr angezogen hatte, unter anderem auf ein T-Shirt der deutschen Fußballnationalmannschaft zur WM 1978, mit dem Konterfei des Ersatztorwarts Rudi Kargus. Rudi trägt darauf einen Vokuhila, der, ironisch getragen, in die besten Clubs Berlins gehört. In mein altes Party-Shirt, das ich auch fand, passte ich leider nicht mehr rein. Oder nur noch so, dass die Nähte bedrohlich knarzten, als ich mich reinzwängte. Selbstverständlich nur wegen meiner neu antrainierten Muskeln im Oberkörperbereich. Und etwas weiter hinten, zwischen 70er Jahre Trevira, 80er Jahre Tennis-Dessins und der üblichen Unentschlossenheit der 00er Jahre, fand ich einen Anzug, der mich viele Lebensabschnitte lang begleitet hatte. Ich freute mich, ihn wieder zu sehen wie einen alten Freund:
"Hallo Kumpel, wie erging es dir in der Verbannung?"
Und der Anzug antwortete:
"An die meiste Zeit im Schrank kann ich mich nur dunkel erinnern." So war er. Immer einen Spruch auf den Lippen. Woher hatte er das nur?
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Seit etwa 15 Jahren besitze ich diesen hellgrauen Anzug mit dünnen schwarzen Streifen, der 1969 zum 20. Jubiläum der DDR vom "VEB Textilwerke Palla" in Glauchau hergestellt wurde. Er hört auf den wunderschönen Markennamen "Präsent". Als ich ihn damals mit in die Umkleide nahm, sagte die junge Bedienung im Humana: "Endlich mal einer, der diesen Anzug anprobiert." Mir war nicht klar, ob das als Kompliment gemeint war. Auch der Anzug zuckte mit den Schultern. Wir verstanden uns von Anfang an. Das Kleidungsstück war aus einem Plastikstoff gewirkt, der auf den schönen Namen Wolpryla hörte. Ich finde sowieso, dass Baumwolle langweilig klingt und Plastikgarne wie Dederon oder Miramid ein wenig Captain Future-Touch in Second Hand Kleidung bringen. Kurzentschlossen nahm ich den Anzug mit nach Hause – und aus einem One-Night-Stand in einem Berliner Club wurde eine feste Beziehung.
Von da an begleitete er mich zu vielen wichtigen Ereignissen meines Lebens, zu diversen Hochzeitsfeiern oder zum 60. Geburtstag meiner Mutter. Ich trug diesen Anzug auch, als meine erste große Liebe mit mir Schluss machte (Schnüff). In dem Anzug habe ich außerdem meine heutige Frau kennen gelernt. Ich trug ihn in unzähligen Meetings und auf Partys, denn er war einfach praktisch: Man konnte ihn dank Wolpryla bei 30 Grad in der Waschmaschine waschen. Ich kann mit Fug und Recht sagen: Dieser Anzug ist das Gegenteil schnelldrehender textiler Konsumgüter, wie man sie in den einschlägigen Modeketten heutzutage erwerben kann. Heute gekauft, ein paar Mal angezogen und dann vergessen. Das ist schneller, fast anonymer Sex (und das noch bekleidet!). Das ist paradox. Alle sehnen sich nach einer Beziehung mit Dauer und dann rennt man doch gleich dem nächstbesten Trend hinterher. Aber ist die ständige Suche nach dem NEU! nicht auch ein Grund dafür, dass viele Menschen quasi nackt dastehen? Sie werden zu einem sehr gut angezogenen, pseudo-individuellen Baustein der Single-Gesellschaft.
Bei mir und meinem Anzug dagegen war es Liebe auf den ersten Blick. Mit allen Höhen und Tiefen. Natürlich tat uns die Vertrautheit nach einiger Zeit gut. Ich wusste, was ich von ihm erwarten durfte und er von mir. Doch dann erwischte uns der Alltag. Er konnte über meine immer gleichen Witze nicht mehr lachen und ich hatte ihn auch über („Du könntest auch wieder mehr aus dir machen.“). Da landete er in der Vorhölle des Kleiderschranks.
Aber jetzt hatte ich ihn wiedergefunden. Ich zog ihn gleich an und zu meiner Überraschung passte ich auch noch rein. Er war wie neu, abgesehen von dem typischen Altkleidergeruch sich zersetzender Schweißmoleküle. Sanft strichen meine Hände über das Wolpryla. Ein Stoff, der neben Kakerlaken und Ratten jeden Atomschlag überleben dürfte. Herrlich! Als Erstes bin ich mit ihm einen Kaffee trinken gegangen. Ich schaute aus dem Café raus auf die Straße. Draußen hetzten Hipster im Vintage-Look zu den Shows der Fashionweek. Menschen die immer in der fünften Jahreszeit leben: Sale. Mein Anzug war noch gefühltes Secondhand. Secondhand ist eine Einstellung. Vintage Mode. Während also Menschen mit dem richtigen Geschmack an mir vorbeirannten, hörte ich meinem Anzug geduldig zu. Er hatte mir viel zu erzählen, denn wir hatten uns lange nicht gesehen.