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Drüben, das schöne Grau
Seit acht Jahren blicke ich aus dem Fenster meines Wohnzimmers auf ein graues Haus. Es gehört zur Humboldt-Universität, was zum Teil den Zustand erklärt: Es ist kein Geld für eine grundlegende Sanierung da. Der Putz blättert von vielen Stellen ab und man kann hier und da Einschusslöcher erkennen, die noch von den Häuserkämpfen am Ende des 2. Weltkriegs stammen. Ungefilterte Emissionen aus den Zeiten des Kommunismus in Form von DDR Zweitaktern und Kohleöfen hinterließen ihre Spuren. Der ach so saubere Schmutz aus den hochtechnisierten Autos von heute rundet das dreckige grau ab. Grau ist die ehrlichste Farbe der Welt: denn das Leben ist niemals schwarz oder weiß, sondern eine Abstufung von Grautönen. Mal heller, mal dunkler. Mal aus Auspuffrohren, mal aus verblassenden Erinnerungen. Grau ist weder „Yes“ noch „No“ – sondern einfach nur konsequent „Maybe“. Dafür liebe ich es.
Im November schickte mir eine Freundin das Bild von einem tropischen Strand auf den Philippinen. Sie machte dort gerade Urlaub. Es war der Blick aus ihrer Strandhütte. Palmen, blaues Meer und weißer Sand – ein Tropentraum. Ich schickte ihr per Mail ein Foto von meinem grauen Haus zurück, mit der Bemerkung "sie solle bitte nicht neidisch sein". Es war sogar ein bisschen ernst gemeint. Denn im Grunde mag ich diesen hässlichen Anblick. Dieses Haus erinnert mich daran, wie es hier aussah, als ich Mitte der 90er Jahre in Berlin-Mitte ankam. Ost-Berlin war nicht nur die Hauptstadt der DDR, sondern auch die Kapitale der Nichtfarben. Die Lackierungen der Trabbis und Wartburgs hörten auf so schöne Namen wie "Depressiv-Grün" oder "Lethargisch-blau" und die meisten Häuser sahen so aus, wie meins heute noch: kaputt, verlebt und vor allem verdammt grau. Viele Bewohner hatten sich aus Solidarität über die Jahre die gleiche Gesichtsfarbe zugelegt. Sie schlichen ohne Ziel über die Straße und hatten vergessen, dass es exotische Gemütsbewegungen wie Lachen gibt. Es zogen sich tiefe Sorgenfalten über ihre Gesichter, die kein SUV überwunden hätte.
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Die Hauswand.
Für mich war es das Paradies. Ich kam aus München. Ein wunderschöne Stadt, in der alles geregelt war. Alles seinen Platz hatte. Freiheit ist jedoch viel mehr als das, was man darf. Diese Freiheit fand ich Berlin. Eine Stadt, die damals noch arm und unsexy war. Nicht unbedingt die Grundlage für eine dauerhafte Ko-Existenz. Doch manchmal sind eben nicht Diamanten die besten Freunde des Menschen, sondern Briketts für Kohleöfen. Besonders in bitterkalten Wintern. Außerdem empfand ich es in einer Welt der künstlichen Photoshop-Schönheit als angenehm, mich in einem Meer aus urbaner Hässlichkeit zu suhlen. In Ost-Berlin gab es in den 90ern kaum Verbote, dafür unglaublich viele Möglichkeiten. Hinter den immer wieder anders grauen Wänden, in dunklen Kellern spielte sich ein buntes Leben ab. Ohne Beschränkungen wie Polizeistunden oder den allgemein gültigen Grenzen des guten Geschmacks. Es war eine neue Form des Erlebens für mich, weil alles so unfertig war. Alles schien nur für den Moment gemacht. Aber viele Augenblicke hintereinander ergeben eben auch so etwas wie eine Ära.
Natürlich glaubt man, dass es immer so weiter geht. Aber dann verschwand das Grau immer mehr aus dem Straßenbild. Ganz langsam, aber auf Dauer merklicher. Investoren zogen neue Häuser hoch oder sanierten die vorhandenen. Frische Farben verkündeten einen Aufbruch, aber keiner wusste genau wohin. Die Straßen rochen nach den neusten Plastiksorten aus den Schuhgeschäften. Diverse Baulücken wurden nach und nach geschlossen. Das Gefühl von Weite – das man nur so in Berlins Zentrum finden konnte – wich dem einer Enge. Optisch wie real. Die Straßen wurden bunter und bunter. Logos von Modelabels leuchteten in den jeweiligen Trendfarben auf. Als Leuchttürme einer neuen Zeit tauchten sie die Straßenzüge in rot, blau oder grün. Hauptsache auffällig. Die alten grauen Menschen wichen dem lauten Farbspektakel und machten jungen optimistischen Leuten Platz. Menschen, die ihr Leben als Projektmanagement verstehen. Sie können sich oft keine Gefühle leisten – dafür ein iPhone. Plötzlich, nach vielen Jahren, war Ost-Berlin eine andere Stadt geworden. Aus dem hässlichen Entlein wurde ein wunderschöner Schwan, der gerade jetzt zum internationalen Image-Höhenflug ansetzt. Aber während um das Haus gegenüber herum alles so schön bunt, neu und modern wurde, blieb es das, was es immer war: grau.
Dieses Haus erinnert mich jeden Tag daran, wie schön hässliches Grau sein kann. Ich nutze die Wand als Projektionsfläche, um mir mein Leben in neongrauen Farben auszumalen. Überall entstehen gerade Utopien aus Beton, Glas und Investmentfonds. Meistens vorgefertigt in Franchise-Baukästen. Sie bieten keinen Raum für Entfaltung oder Individualität. Außer vielleicht für die Art von Individualität, wie sie uns Marketingabteilungen internationaler Konzerne suggerieren. Diese Einmaligkeit ist meistens das Gegenteil davon. Besonders ist heute das schmutzige Grau. Meine Wand ist ein gallisches Dorf gegen den Wandel der Dinge in Berlin: Hier gibt es keine Gentrifizierung, kein Clubsterben und keine Touristeninvasionen. Hier gibt es nur ein Märchenwunderland in grau. Manchmal habe ich Angst, diese Wand könnte sogar ein Spiegel sein. Was ich da sehe, bin im Grunde ich selbst. Ein müdes, unbewegliches Früher-war-alles-besser-Wesen. Bin ich das? Das Haus gegenüber schaut mich nur schweigend und ausdruckslos an. Keine Erkenntnis ist auch eine.
Text: alf-frommer - Foto: Autor