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Das erste letzte Geleit

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert


Am Telefon ist meine Mutter. Weinend teilt sie mir mit, dass mein Patenonkel gestorben ist. Beim Wandern plötzlich mit einem Herzanfall zusammen gebrochen. Einfach so. Eine zufällig anwesende Ärztin versuchte ihn noch wiederzubeleben. Vergebens. Ich bin geschockt. Wenige Tage später setze ich mich ins Auto und fahre von Berlin aus einmal quer durch Deutschland in ein kleines Eifel-Dorf. Dort wird die Beisetzung stattfinden. Es ist mein erstes Begräbnis und ich habe Angst davor. Vor meinen Emotionen und den Gefühlen der anderen. Vor der Begegnung mit etwas, was in unserer Gesellschaft an den Rand gedrängt wird: den Tod.  

Es ist eine Fahrt in die Vergangenheit. Mein Patenonkel war so etwas wie das personifizierte West-Deutschland. Ein Land, das es nicht mehr gibt. Es bestand von heute aus betrachtet aus lauter Gewissheiten und klaren Abgrenzungen. Grenzen die höher waren, als die Mauer. Hier die Guten, drüben die Bösen. Immer wenn man als junger Mensch etwas sagte, was nicht ins Weltbild der Erwachsenen passte meinten die nur: „Wenn es dir hier nicht gefällt, dann geh doch nach drüben.“ Drüben war die DDR. Das machte vieles unkomplizierter. Wenn man einen Beruf hatte, dann übte man ihn oft bis zur Rente in einem Unternehmen aus. Wahnsinn. Helmut Kohl war im Grunde immer Bundeskanzler und verbreitete eine sehr rheinländische Zuversicht auf die Dinge. Es gab drei Fernsehprogramme und Samstagabend schaute die ganze Familie Sendungen wie „Am laufenden Band“. Und zwar am laufenden Band. 

 Mein Patenonkel war Handwerker und hatte riesengroße Pranken. Wenn ich ihm als Kind die Hand gab, dann verschwand die einfach darin. Wie weggezaubert. Es faszinierte mich. Aber gleichzeitig machte es mir auch Angst. Ich kam mir noch kleiner vor, als ich mich in meiner Kindheit sowieso fühlte. Zwischen seinen dicken Arbeiterfingern qualmte oft eine Zigarette vor sich hin. Onkel Werner rauchte die vielleicht westdeutscheste Zigaretten-Marke, die es jemals gab: HB. Die warben immer mit einem illustrierten HB-Männchen und dem Slogan: „Wer wird denn gleich in die Luft gehen.“ Stattdessen sollte man sich lieber eine HB anstecken und erst mal tief durchatmen. Heute raucht gefühlt keiner mehr und das HB-Männchen wartet darauf, dass ihm die Arbeitsagentur einen neuen Job besorgt. Aussichten: eher düster.

Werner fuhr den coolsten Wagen, den die 70er-Jahre bereitstellen konnten: einen gold-gelben Opel Manta. Den mit den runden Rücklichtern. Zwar hieß es damals schon: „Jeder Popel fährt nen Opel“, aber der allererste Manta war einfach ein tolles Auto. Opel und der Manta sind mit der Wiedervereinigung auch untergegangen. Es reichte noch für ein paar Schmonzetten-Filme mit Til Schweiger, aber spätestens Anfang der 90er war der Manta am Ende. Wie der Trabbi. Unvergessen ist auch die Frisette meines Patenonkels: Er trug einen Minipli ­– bis zu seinem Ende. Heute findet man diese Haarpracht nur noch in Fußballzeitschriften, wenn die sich über Fußballer-Frisuren aus früheren Tagen lustig machen. Aber ich warte nur, bis die ersten Hipster in Berlin-Neukölln mit diesem Wischmob-Schnitt rumlaufen. Letztens habe ich schon Frauen mit Plateau-Buffalos aus den 90ern gesehen. Es scheint also alles möglich zu sein, wenn die Diktatur der Individualität fester im Sattel sitzt, als Kim Jong-Un in Nordkorea.  

Während meiner Fahrt durch Deutschland fiel mir auf, wie wenig ich von meinem Patenonkel wusste. Eigentlich nichts. Das liegt auch daran, dass ich immer wieder umgezogen bin und nie in der Eifel lebte, aus der die Familie meiner Mutter stammt. Schließlich kam ich nach vielen Stunden in einem Dorf mit vielleicht 200 bis 300 Einwohnern an. Es lag in einem Nebental des Mittelgebirges. Fast die gesamte Gemeinde hatte sich zur Trauerfeier in und um eine kleine Kapelle versammelt. Die Eifel ist erzkatholisch. Und der alte Pfarrer war wieder einmal ein Grund, warum so viele Menschen sich von der Kirche abwenden. Er nannte einen falschen Namen (Heiner Werner statt Hans Werner), wusste nicht, dass mein Patenonkel noch kein Großvater war und sprach von Mitarbeitern, die es nicht gab. Onkel Werner war Rentner. Religion ist ein Jenseits-Glaube, die dem Menschen das Diesseits erleichtern soll. Keiner von uns will, dass der Tod das Ende bedeutet. Uns diesen Glauben des Weiterlebens zu geben, darum geht es im Grunde bei Christen, Moslems und allen anderen großen Glaubensgemeinschaften. Wir alle haben Angst zu sterben. Vor allem in den Erinnerungen der weiter Lebenden. 

In seiner schlimmen Trauerrede sagte der Pfarrer einen Satz, der mir haften blieb: „Liebe ist stärker als der Tod.“ Zunächst fand ich diese Aussage sehr tröstend. Der Gedanke ist so schön: Wir leben in den Erinnerungen der Menschen weiter. Dann jedoch verflog die Euphorie. Denn irgendwann werden auch die Menschen sterben, die einen lieben oder die sich an einen erinnern. Plötzlich merkte ich, wie viel Angst ich hatte vergessen zu sein. So als wäre ich nie dagewesen. Ein Nichts. Ein vorrübergehender Aggregatzustand des Seins. In Menschform, aber ohne Inhalt für die Generationen nach mir. Es wird so kommen. Irgendwann wird niemand mehr an mich denken oder etwas mit mir verbinden. Doch bis es soweit ist, fahre ich einfach mit Onkel Werner in seinem Opel Manta der Sonne entgegen. Der Fahrtwind lässt seine Locken tanzen. Dabei rauchen wir HB und gehen in die Luft. Ganz weit oben. Immer weiter. Bis in den Himmel.   

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