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Was junge Briten vom Wahlergebnis in Großbritannien halten
Großbritannien hat gewählt. Theresa May und ihre Tories sind zwar weiterhin die stärkste Kraft, haben aber die absolute Mehrheit (und das ursprüngliche Ziel, diese auszubauen) klar verfehlt. Die Labour-Partei konnte überraschend deutlich hinzugewinnen – ihr Kandidat Jeremy Corbyn konnte vor allem bei jungen Wählern punkten.
Wir haben junge Briten gefragt, was das Wahlergebnis für sie persönlich und ihr Land bedeutet:
Lynton, 25, Ingenieur aus Oxford, hat Labour gewählt:
"Labour hat unter jungen Wählern unglaublich viel erreicht: Viele haben vorher nicht gewählt, weil sie dachten, dass ihre Stimme keinen Unterschied macht. Bei der letzten Wahl habe ich mich enthalten, weil ich von keinem Parteiprogramm wirklich überzeugt war. Und plötzlich taucht ein Underdog wie „Jezza“ auf und spricht von den Dingen, die uns wichtig sind. Corbyn ist die Stimme der jungen Briten und unserer Zukunft. Das zeigt sich auch im Wahlergebnis.
Wir haben keine Mehrheitsregierung, die Verhandlungen zur Regierungsbildung beginnen jetzt erst, es wird also noch mal richtig spannend. Aber ich bin sehr zufrieden mit dem Ergebnis – alle, die ich kenne, sind Anti-Tories, wir sind natürlich sehr glücklich, sie so scheitern zu sehen. Ihr Plan ist komplett nach hinten losgegangen, sie haben ihre Mehrheit verloren. Die Unterstützung für Labour war riesig! Alle Zweifler und Kritiker von Corbyn müssen endlich verstummen. Jetzt ist nur die Frage, wie es weitergeht. Wird Labour eine Regierung bilden können? Das hoffe ich auf jeden Fall.
Wir wollen May so schnell wie möglich loswerden. Sie macht Großbritannien zu einem hoffnungslosen Ort für uns alle. Gäbe es noch mal ein Brexit-Referendum, wäre das Ergebnis sicher ein anderes. Ich denke aber, wir Briten haben mittlerweile akzeptiert, dass der Brexit Realität wird. Ich glaube, dass Corbyn unsere Interessen in den Verhandlungen am besten vertreten wird – und darum ging es bei dieser Wahl letztendlich. Ich hoffe, dass wir gerade den Beginn einer jungen Welle der EU-Politik erleben. Es geht um unsere Zukunft – sie sollte auf keinen Fall in den Händen der Alten liegen. Diese Wahl hat bewiesen, dass eine Revolution möglich ist. Wir können und gegen das Establishment wehren und den Status Quo bekämpfen!"
Emma, 25, Journalistin aus London, hat die Tories gewählt:
"Es passiert schon genug in unserem Land. Ich habe für die Konservativen gewählt, weil ich eine wirtschaftsorientierte Regierung und vor allem Stabilität wollte – tja. Aber das Wahlprogramm der konservativen Partei war offen gesagt scheiße – es erstaunt mich nicht, dass sie ihre Mehrheit verloren hat. Es haben bei dieser Wahl auch viel mehr junge Menschen gewählt, die hauptsächlich Labour unterstützen. Für viele der Remain-Wähler aus der Brexit-Abstimmung war das auch eine Form von Protest.
Ich bin vielleicht eine Ausnahme: Ich habe beim Referendum Remain gewählt, aber jetzt May. Das liegt auch daran, dass ich den sehr guten konservativen Abgeordneten in meinem Wahlkreis unterstützen wollte. Er war gegen den Brexit. Wäre das nicht der Fall gewesen, hätte ich nicht für ihn gewählt. Ich kann niemandem meine Stimme geben, der gegen meine Überzeugung ankämpft.
Das Ergebnis jetzt ist ein Desaster für alle Seiten. Die Situation ist verwirrend. Es gibt noch mehr Unsicherheit darüber, wer die Regierung formen wird. Wenn sie keine Einigung erzielen, gibt es vielleicht noch eine Wahl im Oktober. Das will keiner. Das Pfund ist abgesackt und auch nach außen hin liefern wir ein schlechtes Bild ab. Wir sind ein geteiltes Land. Niemand weiß, wie es weitergeht. Aber irgendwie müssen wir versuchen, es zu schaffen. Für den Brexit könnte das Ergebnis jedoch gut sein. Er wird nun vielleicht nicht so hart, wie angekündigt. Remain-Wähler wie ich werden mehr gehört und haben etwas mitzureden."
Isabella, 20, Absolventin der London School of Economics, hat Labour gewählt:
"Ich bin einfach erleichtert über das Ergebnis – so richtig freuen kann ich mich darüber aber nicht. Nach dem Brexit-Votum wird diese Wahl die Unsicherheit in Großbritannien nur noch verstärken. Trotzdem: Dieses Ergebnis ist für mich zumindest ein kleiner Sieg.
Ich bin froh, dass Theresa May abgestraft wurde – sie hat einen lustlosen, uninspirierten Wahlkampf gemacht. Sie war sich einfach zu sicher, dass sie gewinnen würde. Jeremy Corbyn dagegen hat sich sehr engagiert und war auch in Diskussionen überzeugend. Ich bin erleichtert, dass das Land, in dem ich lebe, nicht mehrheitlich für eine Partei abgestimmt hat, mit der ich gar nicht übereinstimme. Aber dieses Wahlergebnis bedeutet auch mehr Unsicherheit für Großbritannien, vor allem in den Brexit-Verhandlungen.
Ich habe damals gegen den Brexit gestimmt. Ich fühle mich als Europäerin und war immer stolz, Teil dieser großen Gemeinschaft zu sein. Nun, da der Brexit beschlossene Sache ist, hoffe ich, dass wir einen guten Deal mit der EU machen können. Das steht allerdings nach dieser Wahl noch mehr in Frage. Wichtig ist mir vor allem, dass wir die Gesetzgebung und die Freizügigkeit bewahren können. Ich habe Glück: Für mich selber hat der Brexit wahrscheinlich keine dramatischen Konsequenzen. Mit meiner guten Ausbildung und meinen Job-Aussichten werde ich weiter viele Möglichkeiten haben. Ich möchte Beamtin werden und werde ab Herbst eine Ausbildung beim Auswärtigen Amt beginnen.
Sorgen mache ich mir um meine internationalen Freunde: Viele von ihnen haben mit mir studiert und wollen gerne in Großbritannien bleiben. Werden sie die Möglichkeit haben, hier weiterhin zu studieren oder sogar zu arbeiten? Im Moment weiß das noch niemand. Außerdem werden die Brexit-Verhandlungen andere wichtige Themen überschatten: Dinge wie die Bildungspolitik und der Ausbau der Infrastruktur bleiben dann vielleicht auf der Strecke.
In meinem Umfeld sind alle sehr politisch involviert, jeder meiner Freunde hat auch schon vor dem Brexit gewählt. Ich lebe natürlich in einer Blase: Ich studiere, habe viele internationale Freunde und war schon immer politisch engagiert. Den Brexit empfinde ich immer noch als Betrug der älteren Generation an uns jungen Leuten. Aber dieses Mal war die Wahlbeteiligung in meiner Altersstufe anscheinend viel höher! Ich habe von 72 Prozent Wahlbeteiligung bei den 18- bis 24-Jährigen gelesen – das wäre großartig. In den sozialen Medien wurden wir von allen Seiten aufgerufen, zur Wahl zu gehen, vielleicht hat das wirklich funktioniert."
Matthew, 26, Unternehmer aus London hat Labour gewählt, obwohl er eigentlich immer Anhänger der Konservativen war:
"Eigentlich bin ich überzeugter Tories-Wähler, aber seit Theresa May ist die Partei zu etwas geworden, mit dem ich mich nicht mehr identifizieren kann. Ich war gegen den Brexit und bin immer noch sauer, dass die Konservativen Großbritannien aus der EU gezerrt haben.
Eine Premierministerin zu haben, die für „Kein Deal ist besser als ein schlechter Deal“ wirbt, während sie „stark und stabil“ unseren Austritt vorbereiten will, hat mich einfach nur wütend gemacht.
Ich denke, dass die wachsende Ungleichheit in der Gesellschaft eines der größten Probleme unserer Zeit ist. Corbyn steht für eine Vision einer Gemeinschaft, die sich für alle einsetzt und anerkennt, dass es etwas Wichtigeres gibt als den einzelnen.
Als gestern die ersten Ergebnisse veröffentlicht wurden, war ich mit Freunden zusammen, die alle unterschiedlich gewählt haben – wir waren uns alle sicher, dass die Konservativen die Mehrheit bekommen und waren geschockt. Die, die für Labour gestimmt hatten, waren zwar euphorisch, aber auch skeptisch, ob die Ergebnisse überhaupt stimmen können. Niemand dachte, dass Labour so gut abschneiden würde. Die ganze Wahl ist für die Tories wirklich unglaublich schlecht gelaufen. Ich finde es aufregend, dass sich politisch jetzt etwas ändern könnte, aber die zusätzliche Unsicherheit, die ein Wahlergebnis ohne Mehrheit in einer ohnehin unsicheren Zeit bringt, bereitet mir Sorgen.
Dieses ganze politische Kapitel, das mit dem Brexit begann, war unnötig und geschah nicht im Sinne der meisten jungen Menschen. Es passiert gerade viel Schlechtes in der Welt, aber das führt auch zu einer wachsenden liberalen Gegenbewegung, die daran glaubt, dass eine bessere Welt möglich ist. Das war schon in den USA mit Bernie Sanders und in Frankreich mit Macron erkennbar. Ich bin also optimistisch."