Süddeutsche Zeitung

Unsere Kernprodukte

Im Fokus

Partnerangebote

Möchten Sie in unseren Produkten und Services Anzeigen inserieren oder verwalten?

Anzeige inserieren

Möchten Sie unsere Texte nach­drucken, ver­vielfältigen oder öffent­lich zugänglich machen?

Nutzungsrechte erwerben
Aus der ehemaligen jetzt-Community: Du liest einen Nutzertext aus unserem Archiv.

Als Frau in Indien

Text: Zoe_Vogel
St. Aloysius College 

Es ist Mittwoch Morgen, kurz von 10. Die ständige und allgegenwärtige Angst ist zurückgekehrt, wir könnten eines jähen Hungertodes sterben und wir schlingen unser Frühstück in einer rekordverdächtigen Geschwindigkeit herunter und hasten nach unten. Dort warten bereits zwei Studentinnen auf uns, die uns zum College bringen. Angekommen treffen wir unsere Mentorin Shalini. Heute findet ein College interner Wettbewerb statt, bei dem die Studenten und Studentinnen in verschiedenen Disziplinen gegeneinander antreten. Von „Blumenmandala“ bis „Kochen ohne Strom“ ist alles dabei und die Studenten/innen überzeugen mit größter Kreativität. Dennoch fesselt uns das „Facepainting“ am meisten. Hier können die Studenten/innen ein freies Thema wählen, suchen sich ein Modell und verwirklichen ihre Vorstellungen. Als deutsche/r Durchschnittsgebildete/r hat man von der Diskriminierung von Frauen in Indien gehört. Man hat sich aufgeregt, vielleicht ein wenig Mitleid verspürt und die nächste Seite der Zeitung aufgeschlagen. Hat man sich ein bisschen mehr damit beschäftigt stellt man fest, dass in der Darstellung der Medien, bis auf kleine Ausnahmen, ein Großteil der indischen Bevölkerung eher wenig Interesse zeigt. So wird es zumindest dargestellt. Was hat das mit dem College und unserem Freiwilligendienst überhaupt zu tun? Eine Aufgabe unseres Freiwilligendiensts ist „brückenbauen“. Wir hatten nur eine vage Vorstellung was das überhaupt bedeuten würde und jetzt haben wir es herausgefunden, zumindest teilweise. Für uns ist ein Bestandteil des Brückenbauens das Auslöschen von falschen Vorurteilen. Dass sich die indische Bevölkerung nicht um die Vergewaltigungen und die Rolle der Frau schert ist falsch. Was wir im College gesehen haben hat uns aufgerüttelt und emotional extrem berührt. Die Studentinnen haben die Rolle als junge Frau in Indien wahrgenommen. Was bedeutet es eine Frau in Indien zu sein? Viele beschreiben es mit dem Wort „unerwünscht“- aber ist die Frau in der Indischen Gesellschaft unerwünscht? Die jungen StudentInnen haben eine klare Meinung dazu, NEIN, keine Frau ist in Indien unerwünscht. Was sie heute beim „Facepainting“ zeigen, ist ein Protest. „The Voice“ heißt eins ihrer Werke und das Model hatte die Idee, sich über Gesicht und Hals einen riesigen Mund malen zu lassen. Gespickt von weißen Zähnen ist es im Inneren dieses Mundes schwarz. Ihre Aussage: Ein Fötus hat keine Stimme. Der Fötus will leben, er hat das Recht zu leben. Wir müssen auf diese noch unhörbare Stimme hören und sie schützen. Gleich ist es bei weiblichen Babys nach der Geburt, auch sie haben noch keine Stimme. Aber das Schlimme in der indischen Gesellschaft ist, dass auch Mädchen, später Frauen, immernoch keine Stimme bekommen. Sie sprechen, ja, aber eine Stimme, der zugehört wird, oft nein. Frauen werden unter dem Druck der Familie gezwungen abzutreiben, dürfen ihr geliebtes Kind nicht behalten, weil es sonst irgendwann zu teuer wird. Es gibt ein indisches Sprichwort „Having a girl is like planting a seed in another persons garden“ und genau bei diesem Punkt widerspricht die Studentin. Ein Mädchen ist nicht mehr ein Objekt, welches mit Mitgift verkauft und dann von der neuen Familie misshandelt werden kann. Ein Mädchen ist ein Individuum, welches eine eigene Meinung, eine Stimme hat, der zugehört werden muss. Von Anfang an. 

 

Doch mit der Abtreibung, dem „Foeticide“, der Mitgiftmorde und der Misshandlung in der Ehe ist es nicht genug. Ein weiteres Werk heißt „Stop Harassment On Women“. „Make us feel safe“. Das ist wohl die entscheidende Aussage dahinter. Indische Frauen wollen sich nicht mehr unsicher fühlen müssen, wenn sie unterwegs sind. Es muss aufgehört werden, dass der Fehler bei der Frau gesucht wird, die ihr Haus verlässt, sondern beim Täter, der ihr auflauert. Sich zurückzuziehen kann nicht die Antwort sein! 

 

Es geht weiter zur „Cultural Show“. Es werden kleine Sketche und Theaterstücke aufgeführt. Wieder wird das Thema der Rolle der Frau aufgegriffen und dieses Mal noch drastischer. Das Theaterstück handelt von einer Umkehrung der Rollen. Hier muss der Mann gehorchen, darf nicht zu dunkel für die Tochter sein und die Familie des Mannes muss um die Hand der Tochter betteln. Männer werden auf der Straße begrabscht und belästigt. Männer müssen sich prostituieren, kochen, putzen, der Sklave der Frau sein. Das Publikum lacht, ist aber auch verstört. Bei einer gespielten Fernsehdebatte, bei der ein „Männeraktivist“ mit der MinisterIN für „Gender equality“ spricht, deren grundsätzliche Aussage es ist, die Männer sollten doch einfach zuhause bleiben, wird dem Publikum die ganze Absurdität bewusst. Als Abschluss des Theaterstücks fragt die Moderatorin, wie viele sich unwohl gefühlt haben, diese Vorstellung zu sehen und im Publikum heben einige die Hand. Daraufhin fragt sie, warum man sich nicht jeden Tag unwohl fühlt, wenn genau das Gleiche Frauen angetan wird? Warum Belästigung und Demütigung so sehr in den Alltag übergegangen ist, dass man sich noch nicht einmal unwohl fühlt, geschweige denn die Stimme erhebt. Abgeschlossen wird mit dem Aufruf sich unwohl zu fühlen, es ernst zu nehmen und einzuschreiten. 

In Indien wächst eine neue Generation heran, die diese Themen ernst nimmt. Die versteht, dass Diskriminierung und Unterdrückung nicht Teil der Kultur sind, sondern eine falsche Entwicklung. Und obwohl es in den indischen Alltag verwoben ist, muss es nicht als Kultur fälschlich beschützt werden, es muss bekämpft werden und genau das wird in den nächsten Jahren passieren. Mit einer so engagierten, bewussten und sozialen Jugend wird sich in Indien einiges ändern, wenn es um „Gender equality“, „Save girl child“ aber auch „Go green“ geht. 

Hier möchten wir die deutsche Berichterstattung korrigieren: In der Gesellschaft tut sich viel, in dieser sogenannten indischen Gesellschaft. Diese Gesellschaft, die zwischen Tradition und High-Tech steht und mit ihren Werten, ihrer Kultur und ihrer Mentalität aus allen Nähten platzt. Aber es wurde fast überall erkannt, dass bestimmte Themen nirgendwo mehr Platz finden dürfen und heraus fliegen müssen. Sofort. 

Mehr lesen — Aktuelles aus der jetzt-Redaktion: