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Die Spinnenfrau
Ein spannendes Märchen über eine unheimliche Frau im Wendland erzählt von Echtanon.
Die Spinnenfrau.
Vor vielen, vielen Jahren lebte südöstlich der Stadt des Salzes im Wendischen Land eine alte Frau, deren seltsames Gehabe seinerzeit manchen Zeitgenossen entsetzte. Während sich im Rundling die Leute üblicherweise eng zusammenschlossen und ihren althergebrachten, der slawischen Tradition verhafteten, Sitten und Gebräuche lebten, sowie einen für verirrte Reisende unverständlichen Zungenschlag pflegten, sprach die alte Dame ihre wenigen Sätze in Hannoveraner Hochdeutsch. "Sie", so sagten die Leute, "stolpert über einen spitzen Stein." Und dabei überbetonten die bäurischen Weibsbilder das scharf ausgesprochenen "s", während sie ihre Hände auf die Hüften stützten, um sich ihrem Gelächter besser hingeben zu können. Normalerweise bedienten sie sich jedoch ihrer behäbigen, platten Mundart, die niemandem sonst vertraut war, was die Einheimischen gern zu ihrem Vorteil nutzten, wenn ahnungslose Reisende sich in ihr Gebiet verloren.
Die alte Frau wohnte abseits des Rundlings am Rande eines üblen Sumpfloches in einem Turm aus schwarzem, glänzendem Basalt. Hierher lieferten die Bauern und der Krämer ihre Waren. Sie mussten die gefüllten Körbe Punkt sechs Uhr abends am Fuße des Turms niederlegen. Am darauffolgenden Morgen fanden sie diese geleert wieder vor. Doch die tüchtigen Händler murrten ob dieser merkwürdigen Vorschriften nicht, denn ihr Lohn war jedesmal reichlich. Am Grunde eines jeden Korbes fand sich letztendlich ein blinkendes Goldstück, das die tüchtigen Leute, nachdem sie alle vier Himmelsrichtungen misstrauisch beäugt hatten, im tiefen Säckel ihrer Hosen verschwinden ließen. Im Hause angekommen, pflegten sie den Schatz in einen alten Strumpf zu stecken und denselben unter der Matratze ihrer Ruhestätte zu verbergen. So mehrten sie ihren Besitz und warenʼs zufrieden.
Einmal im Jahr, am Tage nach Johannis, tauchte die Alte auf dem Marktplatz auf. Hier stand, von den Giebeln der ehrwürdigen Häuser bewacht, der Brunnen des Dorfes. Dieser war jedoch zum Bedauern eines jeden Dörflers seit Urzeiten versiegt und spendete nur noch einen Eimer des lebenserhaltenden Nasses am Tage. Doch niemand mochte davon Gebrauch machen, denn das Wasser hatte sich als überaus schädlich für die Viehzucht erwiesen. Jedwedes Tier, das diese Tränke genoss, starb unter den entsetzlichsten Qualen nach wenigen Stunden. Doch unter Schaudern berichteten die betroffenen Landleute, dass die Kadaver der Tiere wenige Sekunden nach deren letzten Todeszuckungen eine graue Färbung angenommen hätten. Kurz darauf wären sie als armseliger Aschenhaufen der Arbeit des Stallbesens anheim gefallen. Doch die seltsame Alte schienen diese Reden keinesfalls zu stören. Sie schöpfte geduldig einen Eimer des tödlichen Trankes und trug ihn mit kurzen, schlurfenden Trippelschritt zu dem schwarzen Turm am Rande des verrufenen Sumpfes. Die Leute, die sich gewöhnlicherweise auf dem Platz des Rundlings aufhielten, blickten an diesem Tag der Alten nach, steckten die Köpfe zusammen und berichteten einander von diesem unerhörten Erlebnis. Doch niemand griff die Alte je mit Worten oder Taten an, denn alle scheuten eine Begegnung, und die Alte schien keinen Wert auf eine Bekanntschaft zu legen. Selbst der Pastor schlug schweigsam ein Kreuz hinter dem Rücken der Alten und begab sich eilends in den Schutz seines Gotteshauses, denn auch er fürchtete die seltsame Alte wie den leibhaftigen Satan.
Manchmal verschlug es einen Dorfschlingel im jugendlichem Übermute zu den schwarzen Mauern des Turmes. Es galt als herausragende Mutprobe, an seinem basaltenen Sockel zu kratzen oder gar einen Splitter zum Beweise abzuschlagen. Doch diese Forderung war nur eine leere Redensart, denn man wusste von niemandem zu berichten, dem es je gelungen wäre, solch seltenes Kleinod zu erlangen. Überhaupt war der Turm allen Bauern, Bürgern und Handwerkern des Kreises ein unerklärliches Rätsel. Nirgendwo waren die fleißigen Bauersleute bei ihren tagtäglichen Mühen auf ihren steinigen Äckern auf solchen schwarzen Fels gestoßen, obwohl die Gletscher der vergangenen Eiszeit manchen schweren Brocken aus dem fernen Norwegen auf den Grundmuränen zurückgelassen hatten. Derart hatten die germanischen Vorfahren aus den allergrößten Findlingen riesige Gräber ihrer Stammesfürsten hinterlassen. Doch niemand hatte je solches schwarzes Urgestein gefunden, wie es am geheimnisvollen Turm als Baumaterial gedient hatte. So war es kein Wunder, daß sich um den schwarzen Turm manche diskrete Geschichte rankte, die zur Winterzeit mit heimlichen Schaudern in abendlicher Runde auf der Tenne weitergegeben wurde. Gar manches tüchtige Mädchen gewann derart das Herz eines fleißigen Burschens, wenn es seinen bebenden Busen beim schönsten Gruseln eng an dessen Seite drückte.
Es hieß überall im Dorfe, dass der Teufel selbst im Turm seine Bleibe genommen hätte und am Abend nach Johannis sich am giftigen Brunnentrunk der Alten laben würde. Denn alle Welt fragte sich, wozu das unselige Wasser sonst taugen solle, wenn nicht den Teufel selbst zu tränken! Und dieser schwarze Bube war bekannter Maßen unsterblich! Vielleicht wäre es gar der Trank, der ihm Unsterblichkeit verlieh! So sprachen die armen Bauersleute und steckten an den Tischen des Eichenwirtes beim Bier die Köpfe zusammen.
Eines schönen Morgens nach Johanni, als die Alte - wie gewöhnlich - ihren giftigen Trunk schöpfte, verwunderten sich die Umstehenden sehr. Denn, anstatt - wie gewöhnlich - nach ihrem unverständlichen Tun augenblicklich mit schlurfendem Trippelschritt den Heimweg anzutreten, wandte die Alte sich der Eingangstür des dörflichen Krämers zu. Im Laden angekommen, verlangte sie mit krächzender, aber klar verständlicher Stimme nach der neuesten Ausgabe des Kreisboten. Die Anwesenden traten scheu zur Seite, als die Alte grußlos an den Tresen trat, um das verlangte Blatt aus den Händen des Krämers zu reißen. Ohne jeden Dank und ohne weitere Worte zu verlieren blätterte sie hastig in der Zeitung. Auf der dritten Seite hielt sie inne. Sie schien eine Annonce zu studieren. Umständlich fuhr sie mit ihrem rechten Zeigefinger die Zeilen entlang und bewegte tonlos ihre farblosen Lippen dabei. Plötzlich ließ sie die Blätter achtlos zu Boden fallen und verließ kichernd das Lokal.
Ein beherzter Bauernbursche griff sich die losen Blätter und fügte sie wieder zusammen. Dann las er ungeübt und stockend den aufmerksam lauschenden Nachbarn folgenden Text laut vor:
Alte Dame von herrschaftlicher Herkunft sucht gut gezogenes junges Mädchen zwecks Hilfe in Haus und Hof.
Kost und Logis sowie eine reiche Aussteuer bei Heirat werden bei anstelliger Führung und ziemlichem Fleiß gestellt.
Entsprechende Weibspersonen melden sich gefälligerweise beim Eichenwirt hierselbst und erfragen den ständigen Aufenthalt derer ʽHagzissa vom Turmʼ. An dieser Stelle setzte ein aufgeregtes Gemurmel ein, das sich alsbald zu einem heftigen Disput steigerte. Ungestüm gestikulierend versuchten die Dorfbewohner die aufregende Neuigkeit zu verarbeiten. Endlich verließen die anwesenden ehrbaren Ehefrauen das Ladenlokal, um ihren angetrauten Mannsbildern diese Sensation am Mittagstisch brandheiß servieren zu können. Diese brauchten sich um einen deftigen Gesprächsstoff beim abendlichen Schoppen am Stammtisch nun wahrlich keine Sorgen mehr zumachen. Sie bekamen reichlich davon. Zur Mittagszeit, als jeder Bewohner des Rundlings zu Tische saß, gab es nur ein Gesprächsthema: Die herrschaftliche Alte und ihr zu erwartendes Dienstmädchen.
Am vierten Tag nach dieser allgemeinen Aufregung klopfte es zur frühen Abendstunde Punkt sieben Uhr an die Tür des Eichenwirtes. Als der dickliche, behäbige Mann vor seine Türe trat, erblickte er ein etwa achtzehnjähriges blondes Mädchen in ärmlicher Kleidung, das einen Weidenkorb in seiner Linken trug. Auf seine Frage nach ihrem Begehr antwortete das Mädchen mit schüchterner Stimme, daß die gute Muhme sie zum Dienst gesandt habe, da zu Hause Schmalhans Küchenmeister geworden war und vergangene Woche die letzte Maus das Weite gesucht habe. So solle sie der fremden Dame Antwort geben, hätte die gute Muhme ihr anbefohlen. Der Eichenwirt sah in das verschmutzte, aber liebe Gesicht des Mädchens und bat es freundlich, in seine Schankstube einzutreten. Er empfahl ihr sich erst einmal das Gesichtchen zu säubern, und dann werde man bei einem Stück Brot und einem Becher Milch weitersehen. Das junge Ding trat nach dieser freundlichen Einladung in den Schankraum, stellte seinen Korb auf einem der Tische ab und folgte der weisenden Hand des Wirtes. Dieser hob, nachdem das Mädchen in der Waschküche verschwunden war, neugierig das grobe Tuch hoch, das ihm den Inhalt des Korbes vorenthielt. Er erblickte ein Paar schwarze Halbschuhe aus feinem Leder, einen Apfel zur Wegzehrung und einen verbeulten Becher aus billigem Zinnblech mit der Jahreszahl 1872, wohl das Geburtsjahr des Mädchens. In der Tiefe des Korbes fand sich noch ein kleines Geldstück, das in den Falten einer Küchenschürze verborgen war. Diese paar Dinge schienen den gesamten Besitzstand des Mädchens auszumachen. Jedenfalls förderte eine Fortsetzung der unziemlichen Suche des Wirtes nicht von Bedeutung zu Tage.
Der Eichenwirt bedeckte den Korb wieder mit dem Tuch, als er den leichten Schritt des jungen Gastes vernahm. Er wandte sich dem Mädchen zu und blickte ihr gerade ins Gesicht. Zwei blaue Augen leuchteten ihm offenen Blicks entgegen, und das feine Gesicht wies keine groben bäuerischen Züge auf. Der Wirt gedachte seiner Frau und seiner kleinen Tochter, die der Tod beide im Kindbett dahingerafft hatte. Er befragte das Mädchen nach seinem Woher und Wohin und erfuhr von ihrer bitteren Armut und ihrem Wusch, der Muhme das Leben durch ihr Fortgehen zu erleichtern. So wäre ihr jene Annonce der herrschaftlichen alten Dame vom Turm gerade recht gekommen, die sie beim Apotheker gelesen hatte, als sie die teure Medizin für die Muhme bestellte. Diese hätte ihr in stillen Stunden die Kunst des Lesens gelehrt, damit sie nicht vollends ungebildet durchs Leben wandern müsste. Die Muhme hatte vor Jahren im Dienst des Herrn Pfarrers vom Nachbardorf gestanden. Dieser habe sie in Ermangelung eines fälligen Lohnes, er war arm wie die sprichwörtliche Kirchenmaus, des Lesens kundig gemacht. Doch nach dem Tod des Herrn hatte die Muhme eine neue Stellung als einfache Magd nehmen müssen, da sie dem neuen Herrn Pfarrer für gewisse Verrichtungen nicht mehr jung genug erschienen war. Und ihre Eltern waren beim Heumachen während eines heftigen Sommergewitters durch einen Blitzschlag auf dem Feld ums Leben gekommen. Dabei hätten sie doch unter einer Buche Schutz gesucht und nicht unter einer Eiche, denn jedermann wisse doch um den weisen Spruch der Alten. Jetzt sei die Muhme der Armenhilfe zur Last gefallen, und deshalb wolle sie um den annoncierten Dienst bei der alten Dame anhalten.
Der Eichenwirt räusperte sich das ein um das andere Mal und meinte schließlich, ob sie nicht den Dienst bei ihm antreten wolle, und, wenn sie sich anstellig zeige, solle sie wohl ihr Glück in seinem Hause machen. Er räusperte sich wiederum und erzählte ihr von dem Unglück, das ihm am Kindbett seiner Frau getroffen hatte. So sei er Witwer und kinderlos zur selben Stunde geworden. Doch habe ihm nie wieder ein Weibsbild der Umgebung so zugesagt, dass er es zum Traualtar hätte führen wollen. Nach dieser langen Rede schwieg er eine Weile lang. Dann bat er das Mädchen sich sein Angebot wohl zu überlegen und wohlwollend in Erwägung zu ziehen. Er sei zwar nicht von ihrer Jugend, aber er stände gut im Saft. Zum Beweis entblößte er seinen rechten Unterarm und zum Spiel seiner kräftigen Muskeln lachte das Mädchen zum ersten Mal. Durch die Heiterkeit des Mädchens schien dem Wirt seit langer Zeit wieder der helle Sonnenschein ins Haus zukommen, und er legte ihr seine Angelegenheit nochmals dringend ans Herz. Obendrein meinte er, sie vor der Alten vom Turm warnen zu müssen und erzählte ihr alle Geschichten, die man im Dorfe über das seltsame Wasserholen der Alten am Tage nach Johanni kannte. Ganz besonders wies er das Mädchen auf das beklagenswerte Schicksal des Viehs hin, welches das Wasser zu sich genommen. Doch sie dankte dem Wirt artig und meinte, dass sie zuerst der Annonce der alten Dame folgen wolle und anschließend, wenn Gott wolle, werde man weitersehen. Das Mädchen brach das Brot des Wirtes, dankte Gott und verspeiste es heißhungrig. Überdies trank es einen Becher Milch, den der Wirt dazu gestellt hatte. Danach bedankte es sich artig, nahm seinen Weidenkorb, grüßte den Wirt und verließ dessen Haus. Der Eichenwirt stand noch lange in der Tür und schaute dem Mädchen nach. Dann sagte er alle Segenswünsche auf, die er kannte und zog sich wieder in sein Haus zurück. Dort verbrachte er den Abend bei seiner gewöhnlichen Arbeit, bis die Bauern zum Kartenspiel eintrafen, und ihr Lärmen die Stille des Raumes erfüllte. Doch seine Seele schaute das Lächeln des Mädchens, und er konnte sich von diesem Bild nicht mehr lösen.
Die Bauern befragten ihn nach dem Verbleib des Mädchens, das ihre Weiber sein Haus hätten betreten sehen, und er gab ihnen bereitwillig Auskunft. Die Bauern fragten den Wirt, warum er das junge Ding denn nicht vor der seltsamen Alten gewarnt habe, denn diese sei womöglich gefährlicher als man wisse. Und sie fragten weiter, wie denn der Name jenes Menschenkindes wäre. Doch der Wirt schwieg dazu und meinte nur, dass in dieser Welt sich jedermann um seine eigenen Angelegenheiten zu kümmern habe.
Inzwischen hatte das Mädchen den Schutz des Rundlings verlassen und war über das freie Feld zum unheildrohenden Sumpf gewandert. Als es diesen schwarz und still vor sich liegen sah, wurde ihm doch ein wenig bang ums Herz. Aber es empfahl seine Seele Gott, dem Herrn, und wanderte nach diesem Trost über schlüpfrige, schmale Pfade dem düsteren Turm zu. Von weitem schon hatte sie jenes seltsame Heim ihrer neuen Herrschaft erblickt, das vielleicht auch ihres werden sollte. Die Sonne stand tiefrot am Horizont, und die Kühle der nahenden Nacht ließ feine, weiße Nebelschleier aus unergründlichen Wasserlöchern steigen. Das Mädchen eilte dem Turme zu, denn die Dunkelheit würde bald Weg und Steg verschlingen, dann würde sie im tiefen Sumpf ihr junges Leben lassen müssen. Doch Seltsames geschah: mit jedem Schritt schien der Turm ihr ferner denn je, und bald drohte sie Verzweiflung zu übermannen. Der Nebel zog sich zusammen, und dichte, weiße Bänke versperrten ihr den Weg. Außerdem deuchte ihr, daß aus dem Nebel leises Kichern klang, gar, als spotte jemand ihrer Angst. Doch nach einem lauten Herrgott hilf!, stand sie urplötzlich vor dem hoch aufragenden Turm aus schwarzem Basalt. Sie erschrak heftig, denn sie wähnte sich Hunderte von Metern entfernt, doch sie stand nur drei Schritte vor der glatten, dunklen Wand. Langsam umschritt sie das Gebilde und suchte nach Tür oder Tor, doch sie konnte keinen Einlass erblicken. Aufmerksam musterte sie das Gemäuer und bemerkte, dass seine Farbe nicht eigentlich schwarz war, sondern aus der Nähe betrachtet in vielen bläulichen Tönen spielte. Die Farben liefen auseinander und ineinander und bildeten seltsame, nie geschaute Muster. Plötzlich schrie das Mädchen zu Tode erschrocken auf. Aus dem bläulichen Farbenspiel blickten ihr aus furchterfüllten Augen ungezählte Mädchengesichter entgegen. Leise wisperten ihre Münder: "Hilf uns! Erlöse uns! Hilf uns! Erlöse uns!" Und endlos wiederholte sich ihr Wimmern und Jammern: "Hilf uns! Erlöse uns! Hilf uns! Erlöse uns!" Von Erschöpfung und Schrecken übermannt, sank das Mädchen wie leblos zu Boden.
Als das Mädchen erwachte und seine Augen aufschlug, sah es das farblose, fast weiße Gesicht eines uralten Weibes vor sich, das sie aufmerksam aus dunklen Augenhöhlen beobachtete. "Na, Kindchen, bist wieder unter den Lebenden, mir zu dienen?! Du willst mir doch dienen, mein Liebchen, meine unschuldige Jugend? Du willst oder du musst in den Sumpf zurück! Doch das täte mir um deine Tugend leid! Manches Gesindel treibt sich in der Dunkelheit herum! Weißt du, was ein Zeitwanderer ist? Nein, du weißt es nicht! Es hätte mich auch gewundert! - Aber ich weiß etwas, etwas, was nur wir beide wissen und sonst niemand mehr auf dieser Welt: Du heißt Verginia! - Weiß der Teufel, was die alte Muhme geritten hat, mir diesen Schabernack zu treiben! - Verginia! Ha, als wenn einer der dörflichen Trampel die Bedeutung dieses Wortes je wird ermessen können! Innocentia, Verginia! Das kommt vom Pfaffendienst, der verdirbt die simplen Gemüter nur! - Ha, Verginia!" Das Mädchen war bei der Nennung seines Namens zusammengezuckt, und seine bebende Stimme fragte: "Wer sind Sie? Woher kennen Sie meinen geheimen Namen? Niemand außer mir und der alten Muhme weiß diesen Namen!" "Nun, nun!", kreischte das alte Weib, "Kenne ich deinen Namen, oder kenne ich ihn nicht?! - Ich kenne deinen Namen, und ich sage dir, wir beide und nicht die Muhme werden ihn nennen!" "Nicht die Muhme?", fragte Verginia mit erlöschender Stimme, und wiederholte flüsternd: "Nicht die Muhme...?" "Nein!", tönte hart die Stimme der Alten, "sie wird deinen Namen nicht mehr rufen, denn aus dem Grabe ruft sichs schlecht!" "Aus dem Grab?", schrie verzweifelt Verginia, "aus dem Grab?!" "Nun denn", sprach die Alte im ruhigen Ton weiter, "das Kraut, das dem Apotheker ich gab, taugte ihr zur Heilung nicht, aber es erleichterte ihr den Übergang ins Reich der Schatten." "So hast du sie getötet, mit giftiger Gabe gar feige gemordet?!" "Nein, die alte Feindin war des Lebens und des Kampfes müde. Ich half ihr, den letzten Weg zu gehen..." Unvermittelt kicherte sie und sprach die unverständlichen Worte: "Liebchen, du musst die Nebel genauer schaun... du musst genauer schaun! Du wirst es lernen. - Doch nun zu dir und deinem Dienst bei mir. Ich will dir deine Aufgaben wohl weisen." "Und wenn dieser Dienst mein Begehr nicht länger ist...?", trotzte das Mädchen. "Nun", so vollendete ihre neue Herrin, "so diene ich dir die Herrschaft des Sumpfes an... Und nun wähle!"
Beide schwiegen nun. Die Augen der Alten wichen nicht vom Gesicht des Mädchens. Nach geraumer Zeit brach das Mädchen Verginia das lastende Schweigen: "Da bleibt mir der Wahl nicht viel, der nächtliche Sumpf oder der blauschwarze Turm... So wähle ich den Dienst im Turm." "Gut, gut, Liebchen! Gut gewählt, wird dein Schade nicht sein, der Dienst bei mir im Turm..., der Dienst im Turm ist leicht, ist leicht..." Die entsetzliche Alte fing an zu kichern, sie konnte sich nicht beruhigen und ihr Kichern und Kreischen, "...ist leicht, ist leicht!", hallte durch die Stille des Turms. Furchterfüllt beobachtete das Mädchen eine gar schreckliche Veränderung der Gestalt der Alten. Während diese sich kichernd krümmte, wuchsen ihr zwei Klauenhände aus der Körpermitte zur Seite hin. Ihr Leib wurde dicker und auf ihrem Rücken wurde ein weißes Kreuz sichtbar. - Doch urplötzlich richtete sich die furchterregende Gestalt kerzengrade auf, wandte sich Verginia zu und sagte mit ruhigem Ton: "Schluss jetzt mit den Albernheiten! Ich will dir dein Zimmer weisen. Du wirst von der langen Reise müde sein. Folge mir!" Sie führte das Mädchen durch den Turm. Jedes Stockwerk bestand aus einem Raum mit runden Wänden. Die Alte zeigte Verginia die wohlgefüllte Vorratskammer in der Tiefe des Bauwerks, sowie den Wirtschaftsraum in dem Verginia aus ihrer Ohnmacht erwacht war. Dieser war zum gewöhnlichen Aufenthaltsort bestimmt. "Im dritten Stock wirst du wohnen und schlafen, im ersten wohne ich, darüber sind die Kokonmädchen", erklärte die Alte, während sie und Verginia eine steile Wendeltreppe emporstiegen. "Kokonmädchen...?", fragte Verginia. "Ach, Papperlapapp! Es sind nur Puppen, ich sammle Mädchenpuppen... Es ist eine alte Leidenschaft..., eine alte Leidenschaft." Als beide das erste Stockwerk erreichten, blieb die Alte stehen und sagte: "Nun zu deinem Dienst. Du hast nur zwei Aufgaben: Erstens, du musst den Turm sauberhalten. Zweitens, du musst für deine Nahrung selber sorgen. Und du hast nur drei Verbote zu beachten: Erstens, du darfst den Turm nicht verlassen. Zweitens, du darfst niemanden sprechen außer mir und drittens, du darfst das zweite Stockwerk nicht betreten, du könntest meine kostbaren Puppen beschädigen. Ich kümmere mich selbst um sie, allein! - Hörst du, niemand darf meine kostbaren Puppen sehen, nur ich, ich allein!" Ihr Zeigefinger wies nach oben. Mit einer unerwarteten Bewegung wandte sie sich Verginia zu: "Doch nun zu deinem Lohn: Du darfst von der Spitze des Turms ins Land schauen, des Tags und in der Nacht. Du wirst in deinem Zimmer hinter deinem Bett eine geheime Treppe finden. Du wirst Dinge schauen dürfen, die sonst den Sterblichen verborgen bleiben. - Doch mehr noch sollst du erhalten: Nach drei Jahren gebe ich dir den Deckel eines alten Buches, nach sieben Jahren die papiernen Blätter dazu, nach fünfzehn Jahren die Schrift darauf und dazu einen runden Leib Brot aus reinem Gold. Doch wertvoller als alles Gold dieser Welt wird das Buch dir sein. - Bedenk dich nun, doch antworte mir erst, nachdem dein Zimmer ich dir gezeigt. Komm nun!" Sie wandte sich von ihr ab und beide kletterten die steile Stiege weiter hinauf.
Im dritten Stock klopfte die Alte mit hartem Knöchel gegen das schwarze Holz einer abseitigen Tür, die alsbald aufsprang. Die Alte schob mit der linken Hand das Mädchen durch die dunkle Öffnung. Verginia schaute sich um. Sie befand sich in einem großen, runden Raum, der die gesamte Grundfläche des Turmes einzunehmen schien. An den Wänden leuchteten zahlreiche Kerzen, die das Zimmer in ein angenehm weiches Licht tauchten. In der Mitte des Zimmers stand ein Himmelbett von ungeheuren Ausmaßen. Staunend trat das Mädchen näher heran. Es umschritt das Bett dreimal und jedes Mal zählte es zwanzig seiner Schritte. "Es ist unglaublich!", murmelte Verginia, "es misst in jeder Himmelsrichtung an die siebzehn Fuß!" Das Bett war aus grauem, glänzenden Holz gefertigt und mit ungezählten Schnitzereien kunstfertig verziert. Auf der Liegestatt fanden sich Dutzende weißer Kissen und rosa Decken. Den Himmel des Bettes bildeten Wolken weißen Tülls. An der linken Seite des riesigen Bettes fand sich noch ein zierliches Tischchen aus feinstem rotbraunen Holz und ein gepolstertes Stühlchen stand davor. An der rechten Seite befand sich ein deckenhoher Schrank aus dem selben Holz. Vor dem Bett stand noch ein grünes Schemelchen. Dieses schien die ganze Einrichtung des Raumes zu sein. Das Mädchen wandte sich der Alten zu und sagte mit Erstaunen in der Stimme: "Das ist für mich? Ich bin ein einfaches Mädchen, aufgezogen von einer armen Muhme, und ich bedarf solch schöner Sachen nicht. Es könnte meinen Gedanken verderben!" "Nun", erwiderte die Alte, "der Dienst im Turm ist hart, wenig Abwechslung hat unsereiner, da ist ein bißchen Luxus nicht zu verachten. Nimm es, wie es da steht. - Doch ich darf dir den geheimen Ausgang nicht verwehren." Die Alte betrat nun ebenfalls das Zimmer und begab sich zum Kopfende des Bettes. "Hier", sagte sie, indem sie auf eine Erhebung in der geschnitzten Umrandung wies, "dieses Bild drehe dem Monde zu, daß es ihn erblicken kann, wenn er am Himmel steht, des Tags und in der Nacht, und du wirst die geheime Tür gewahren."
Neugierig trat Verginia näher, um das Bild im Schnitzwerk zu betrachten. Verwundert bemerkte sie Kopf und Leib einer handtellergroßen grauen Kreuzspinne, der geradezu aus dem Holz des Bettes zu wachsen schien. Das Flackerlicht der Kerzen verlieh dem Bild eine seltsam schreckliche Lebendigkeit. Die fünf Augen des Spinnenkopfes schienen zu leuchten und jede ihrer Handbewegungen zu beobachten. Als Verginia erschrocken zurückfuhr, folgten ihr ihre langen, blonden Haaren nicht. Sie hingen in grauen, klebrigen Fäden fest. Sie war mit dem Kopf in ein mächtiges, verborgenes Spinnennetz geraten. Verginias verzweifelte Befreiungsversuche blieben erfolglos, bis die Alte näher trat und die Fäden mit ihren Zähnen durchtrennte. Die herabgefallenen Fäden spulte die Alte sorgfältig auf eine Garnrolle, die sie aus den Falten ihres dunklen Gewandes zog.
Danach zeigte sie auf die Garnrolle: "Das wird deine Hauptaufgabe sein. Du musst die Spinnenweben, die hier überall zu finden sind, sorgfältig ablösen und auf Garnrollen wickeln. Neue Rollen stehen jeden Morgen auf dem Tisch im Erdgeschoss, des Abends stellst du die gefüllten an denselben Ort." "Das scheint mir so schwierig nicht zu sein, jedoch frag ich mich, wovon ich leben soll, was soll meine Nahrung sein, da ich den Turm nicht verlassen darf?" "Nun, nun, Liebchen! Du hast die Vorratskammer gesehen. Bedien dich ihrer nach Herzenslust. Ich bedarf des Inhalts nicht. - Und wenn du Wünsche hast, so lege eine Nachricht in den Korb, den du abends Punkt sechs Uhr an einem Seil den Turm hinablässt. Die Bauern und Krämer sinds gewöhnt. Sie werden gut entlohnt und stellen keine dummen Fragen. Glaub mir, es wird dir an nichts mangeln! - Doch nun komm und lass uns den Pakt besiegeln."
Die Alte winkte Verginia ihr zu folgen und stieg mit ihren kurzen, schlurfenden Trippelschritt ins Erdgeschoss hinab. Im Hauptraum des Turms angekommen, zog die Alte ein gelbliches Fragment aus der obersten Schublade eines braunen Schränkchens. Sie strich es mit ihren weißen, knorrigen Händen glatt und kicherte dabei: "Feines Papier, gutes Papier, wie... Menschenhaut!" Dann spitze sie einen Federkiel und winkte Verginia an einen großen, runden Tisch aus schwarzem Holz. "Hier, unterschreib' das Dokument, unseren Pakt auf fünfzehn Jahre!" "Womit?", verwunderte sich das Mädchen und suchte nach der Tinte. Sie bemerkte nicht, dass die Alte sie lauernd umkreiste. "Hiermit!", kreischte die grausige Frau und stach den spitzigen Kiel blitzschnell in Verginias linke Unterarm. Diese schrie vor Schmerz und Schrecken auf, doch die Alte drückte ihr den vom roten Blut gefüllten Kiel in die rechte Hand und schrie mit furchtbarer Stimme: "Hier unterschreib' mit deinem neuen Namen Verginia vom Turm." Mit zitternder Hand kam Verginia der Forderung der grausamen Alten nach und schrieb am unteren rechten Rand des Fragmentes ihren neuen Namen:
Verginia vom Turm.
Die folgenden Jahre waren eine leichte Zeit für das Mädchen Verginia vom Turm. Alles geschah, wie die Alte es gesagt hatte. Die wenige Arbeit war schnell getan, und alle ihre Wünsche, seien es die ausgefallensten Speisen oder die feinsten Seidenkleider, wie sie die feinen Damen in der Stadt trugen, wurden in wenigen Tagen erfüllt. So machte Verginia sich einen Spaß daraus, für sich die ausgefallenste neue Garderobe auszudenken und bei den heimischen Schneidern fertigen zu lassen. Zu ihrer Unterhaltung malte sie sich die Gesichter der verzweifelten Gesellen aus, wie der Meister sie zur ungewohnten Arbeit trieb. Ein weiteres Vergnügen fand sie im Ausblick von der Turmspitze. Jedesmal, wenn der Mond des Tags oder in der Nacht am Himmel stand, drehte sie den Kopf und Leib des Spinnenbildes am Kopfteil ihres Bettes in Richtung des Himmelskörpers. Alsbald tat sich die Wand des Turmes dahinter auf und gab ein schmales Treppchen frei. In wenigen Augenblicken sprang sie dann die Stufen zur Turmspitze hinauf. Hier von der gesamten kreisrunden Fläche des Turms hatte Verginia die unvergleichlichste Aussicht über Feld und Flur. Wunderbarerweise reichte ihr Blick weit über alle Grenzen des Landes, und sie konnte den Gesprächen der Menschen draußen lauschen. Diese Unterhaltung wurde einmal im Jahr von seltenen Besuchen unterbrochen. Seltsamerweise geschahen diese immer wenige Tage nach Johannis. Stets meldeten sich junge Mädchen zum Dienst bei der alten Frau. Bei diesem Ereignis wies die Alte Verginia jedesmal auf ihr Zimmer, aber diese schlich sich nach einigen Minuten wieder auf die Treppe hinaus und lauschte nach unten. Doch außer leisem Stimmgemurmel, das nach einiger Zeit verstummte, erfuhr sie nichts.
Am Abend des Tages an dem sie drei Jahre der Alten vom Turm treu und aufmerksam gedient hatte, rief diese Verginia zu sich. Sie sah ihr eine Weile stumm, aber aufmerksam ins Gesicht und sagte dann endlich: "Ich habe dir nach drei Jahren Dienst bei mir eine Belohnung versprochen und wahrlich, so ich dich ausgesaugt hätte, wenn du mich enttäuscht hättest, sage ich nun, du hast deinen Dienst untadelig verrichtet. Also nimm hier deinen versprochenen Lohn, auch wenn es mein Untergang sein sollte!" Während dieser unverständlichen Rede zog die seltsame Alte einen verstaubten, abgenutzten Buchdeckel unter ihrer Schürze, die sie gewöhnlicherweise im Wirtschaftsraum trug, hervor und reichte ihn Verginia. Dann fuhr sie in ihrer Rede fort: "Ich sagte dir seinerzeit: Nach drei Jahren gebe ich dir den Deckel eines alten Buches, nach sieben Jahren die papiernen Blätter dazu, nach fünfzehn Jahren die Schrift darauf und dazu einen runden Leib Brot aus reinem Gold. Doch wertvoller als alles Gold dieser Welt wird das Buch dir sein. - So bewahre denn den Deckel deines Lebens gut..."
Verginia nahm den Deckel enttäuscht entgegen. Nichts als dieser schäbige Deckel vom traurigen Anblick soll mein ganzer Lohn mir sein...? Nun, ich habe nicht Berge von Gold noch Tragkörbe an Geschmeide erwartet, aber dies allein... Die Alte schien Verginias Gedanken erraten zu haben, denn sie sprach weiter: "... dieser schäbige Deckel vom traurigen Anblick soll dein ganzer Lohn nicht sein! In vier Jahren erhältst du die papiernen Blätter dazu und in zwölf Jahren die Schrift dazu und obendrein einen runden Leib Gold!" Die Alte bemerkte Verginias Enttäuschung wohl und fuhr fort: "Bedenke, bevor du allzu vorschnell dein Urteil fällst, dieser alte Deckel enthält dein Leben!"
Danach wandte sich die Alte von Verginia ab und ging ihrer gewöhnlichen Beschäftigung einen Tag nach Johannis nach. Sie füllte eine bläulich glitzernde Flüssigkeit aus einem kleinen Wassereimer in winzige Fläschchen ab, wobei sie eine Berührung mit dem geheimnisvollen Wasser auf das sorgfältigste vermied.
Auf ihrem Zimmer betrachtete Verginia ihr Geschenk. Es erschien ihr arg schäbig und ihrer Dienste unwürdig zu sein. Trotz der mahnenden Worte der Alten legte sie den Deckel achtlos beiseite, da sie auf ihm nur die verwaschenen Buchstaben einer fremdartigen Schrift entdecken konnte. Die Buchstaben oder Zeichen schienen vor Zeiten aus Blattgold aufgetragen worden zu sein, aber sie hatten im Laufe der Zeit an Glanz und Material eingebüßt. Außerdem schien ihre Reihenfolge durcheinander geraten zu sein: Die dglnnVwraeu dre nnpSei. Bei scharfem Hinsehen konnte man auf der Rückseite des Deckels das Symbol einer Kreuzspinne, die auf einer Windrose sitzend, nach Osten blickte, entdecken. Da Verginia mit diesem seltsamen Geschenk nichts anzufangen wusste, legte sie es achtlos unter das Kopfkissen ihres Bettes. Sie beschloss, die absonderliche Schrift später genauer zu erforschen und vergaß bald darauf das Geschenk als Lohn der Alten.
A.D. 1893, im vierten Jahr ihres Aufenthaltes bei der Alten, saß Verginia fünf Tage nach Johannis auf der Plattform des Turms bei ihrer Lieblingsbeschäftigung, der Turmschau. Es war eine schöne, milde Nacht, und der Vollmond schien so hell, dass man unschwer den Kreisboten ohne Kerzenlicht hätte lesen können, als Verginia eine schlanke Gestalt über den Sumpf kommen sah. Diese bewegte sich zwar vorsichtig, doch zügig dem Turme zu. Es musste sich um eine junge Person handeln, da die Fortbewegung derselben bei aller Vorsicht eine anmutige Eleganz aufwies. Dieselbe hüpfte und tanzte von einem festen Halt auf dem schlüpfrigen Pfad zum nächsten. Verginia beobachtete mit wachsendem Erstaunen das bezaubernde Spiel der jungen Glieder. Als die Person einmal das Gesicht dem vollen Mond zuwandte, entfuhr der stillen Beobachterin auf der Spitze des Turms ein leiser Laut des Entzückens. Die Gestalt zeigte sich als ein junges Mädchen mit langem schwarzen Haar und Verginia stellte sich sogleich vor, dass diese auch dunkle Augen und eine samtbraune Haut im hellen Sonnenschein vorzeigen konnte. Augenblicklich entstand in ihr der Wunsch nach einer Freundin, die sie so lange hatte entbehren müssen. Mit ihr würde sie die ungute Stille des Turms mit lustigem Geschwätz füllen können. Verginia versank in Träumereien. Als sie wieder über den Sumpf blickte, war das dunkle Mädchen verschwunden. Erschrocken fuhr sie von ihrem Sitz empor und blickte über den Rand des Turmes hinab. Dort lag das Mädchen am Fuße der blauschwarzen Turmmauer im nebelnassem Gras, und neben ihr stand die seltsame Alte, ihre Herrin. Leises Gemurmel der Alten drang bis zur Lauscherin in der Turmspitze vor, doch so sehr Verginia auch ihre Ohren anstrengte, so wenig vermochte sie ein Laut der Alten zu verstehen. Plötzlich verstummten die leisen Laute, die Alte hob das wie tot daliegende Mädchen empor und trat - unwillkürlich entfuhr Verginia ein kleiner Laut des Schreckens - mit ihrer leichten Last direkt durch die basaltschwarze steinerne Wand des rätselhaften Turms. Dabei beobachtete sie bläuliche Entladungserscheinungen, ähnlich dem Elmsfeuer an den Mastspitzen der Seeschiffe oder den Irrlichtern, die des Nachts im August über den Sumpf tanzten. Nach wenigen Augenblicken der Besinnung eilte Verginia von ihrem Beobachtungsplatz die verborgene Treppe zu ihrem Zimmer hinab. Dort drehte sie die furchteinflößende Spinnengestalt am Kopfende ihres Bettes rechtsherum, um den versteckten Aufgang wieder zu verschließen. In der Aufregung spürte sie den geringen Widerstand des Anschlags nicht und drehte das Spinnenrelief über seine normale senkrechte Stellung hinaus, bis der grausige Spinnenkörper gänzlich nach Osten wies, während der volle Mond sich noch im hoch im Westen zeigte. In diesem Augenblick fuhr ein Zittern durch das riesige Bett und unter Ächzen und Knarren bewegte es sich auf Verginia zu. Diese schrie erschrocken auf, denn sie meinte, das ungeheure Möbel habe nichts anderes im Sinn, als sie an die Mauer zu drücken und umzubringen. Doch etwa drei Fuß vor der schreckensbleichen Verginia blieb das Bett knirschend stehen und gab den Blick auf den Fußboden frei. Neugierig umging Verginia das Bett, trat einige Schritte vor und blieb erstaunt stehen. Vor ihr lag eine Wendeltreppe aus reinem blauen Licht, die in die Tiefe führte und so intensive Strahlen aussandte, daß das Mädchen die Augen eine Zeitlang schließen musste. Als sie diese wieder öffnete, konnte sie außer der Lichttreppe nichts erblicken, was ihrer weiteren Aufmerksamkeit gelohnt hätte. Zögernd trat sie noch zwei, drei Schritte vor und berührte endlich mit der rechten Fußspitze die Treppe aus reinem blauen Licht. Doch nichts geschah. Weder erschlossen sich ihrem forschenden Blick neue Eindrücke, noch änderte sich ihre Umgebung. Verginia verlagerte das ganze Gewicht ihres Körpers auf den rechten Fuß und betrat, als die Lichttreppe sich als fest und sicher erwies, diese ganz. Da fuhr ein leichtes Zerren und Ziehen durch alle Glieder, und im selben Augenblick befand sie sich in einer hohen runden Halle. Suchend schaute das Mädchen sich um, gleichwohl konnte sie die blaue Treppe nicht mehr entdecken. Zögernd trat sie einige Schritte vor. Das schwachblaue Licht, das die Halle bisher erhellt hatte, verstärkte sich daraufhin soweit, dass Verginia die Halle erkunden konnte. Allem Anschein nach hielt sie sich genau im Mittelpunkt der kreisförmigen Grundfläche des Turmes auf. Erst jetzt, nach mehr als drei Jahren Aufenthalt im Turm, bemerkte sie die riesigen Ausmaße des Bauwerks. Fast zwanzig Schritte benötigte Verginia bis sie die kalte Außenwand des Turmes berührte. Als ihre tastende Hand die Mauer entlang fuhr, spürte sie unzählige klebrige Fäden, wie sie diese stets im Turm bei ihrer gewöhnlichen Arbeit zu entfernen hatte. Doch diese Fäden sollten allem Anschein nach etwas verbergen. Unter deren klebrigen Festigkeit spürten ihre Fingerspitzen einen menschlichen Körper, der hinter dem Gespinst gefangen war. Verginia dünkte, als höre sie ein ewiges Seufzen und Klagen, und ihr schien, als hätte sie dieses Seufzen und Klagen schon einmal gehört. Plötzlich hörte sie ein scharrendes Geräusch vom gegenüberliegenden Punkt der Halle. Eng drückte sie sich an die kühle Wand, da sie kein Versteck erblicken konnte. Ihr gegenüber öffnete sich die Wand, und die Alte vom Turm betrat den riesigen runden Raum. Das bläuliche Licht verstärkte sich weiter, und Verginia erblickte zu ihrem Schrecken, daß die Alte einen widerstandslosen Mädchenkörper mit sich trug. Sie legte ihre willenlose Last an der Wand ab, dabei schien ihr das blaue Licht zu folgen. Im Schein dieses Lichtes beobachtete das Mädchen Verginia eine genauso geheime wie grausige Zeremonie. Die Alte holte eines von den geheimnisvollen Fläschchen aus den Falten ihres Gewandes und besprengte die hilflose Gestalt damit. Dann tanzte sie im wiegenden Auf und Ab in einem fremden, unruhigen Takt. Langsam verformte sich dabei der Körper der Alten. Er verdickte sich und rundete sich, schnürte sich in der Mitte ein und beharrte sich mit dunklen Borsten. Aus der Seite wuchsen zwei weitere Gliedmaßenpaare mit Greifklauen an den Enden, der Kopf zog sich in die Brust zurück, und auf dem Rücken erschien ein verwaschenes weißes Kreuz. Nach wenigen Augenblicken war die Verwandlung abgeschlossen, und eine riesige Kreuzspinne wiegte sich auf ihren vier Beinpaaren, von blauem Licht umspült, vor der hilflosen Gestalt. Die Spinne krümmte ihren runden Leib vor dem fremden Mädchen und stieß ungeheure Mengen an Spinnseide aus ihren Afterdrüsen. Sie hob den Körper des Mädchens mit den mittleren Beinpaaren empor und begann mit Hilfe der Hinterbeine, das Mädchen unter raschen Drehungen mit klebrigen Fäden zu umwickeln, bis aus dem Mädchen ein grauweißer Kokon geworden war. Diesen klebte der furchterregende Spinnenspuk in halber Höhe an die blaufelsige Wand. - Bevor das blaue Licht schwächer wurde und der entsetzliche Schrecken sie endgültig übermannte, sah Verginia zu ihrem tiefen Entsetzen, daß die runde Wand des Turmes mit dicken Spinnweben bedeckt war, in denen zahllosen grauweiße Kokons hingen. Und wieder vermeinte sie das ewige Jammern und Klagen zu hören. Dann nahm eine tiefe Ohnmacht sie gnädig auf.
Als Verginia wieder zu sich kam, war ihr kalt, und ihr Körper wurde wie von Fieberschauern geschüttelt. Sie erhob sich mühsam und versuchte sich zu orientieren. Das Mädchen blickte sich um und stellte fest, dass sie sich noch immer in der schaurigen Zeremonienhalle der Spinnenfrau befand. Verginia überlegte: Dieses musste das ihr verbotene zweite Stockwerk sein. Also besaß der Turm den Vorratskeller, der ihren leiblichen Bedürfnissen diente, den Wirtschaftstrakt im Erdgeschoss, den ersten Stock mit dem Zimmer der Alten, den dritten Stock mit ihrem Zimmer und die Aussichtsplattform an der Spitze. Dazwischen, also unter dem Fußboden ihres Raumes, musste die Zeremonienhalle, die den grausigen Bedürfnissen der Alten diente, liegen. - Aber wie sollte sie dieser Halle wieder entkommen? Sie begab sich im schwachen Schein des blauen Lichtes zurück in den Mittelpunkt der Halle. Hier blickte Verginia sich um. Auf dem Boden der Halle bemerkte sie das gleiche Spinnensymbol in Form eines Mosaiks aus braunen Steinen wie in ihrem Zimmer. Sie berührte das Abbild und bemerkte, daß die einzelnen Steine des Spinnenbildes beweglich waren. Das Spinnenbild zeigte nach Osten. Verginia legte die Steine so um, dass das Spinnenbild nach Westen zeigte. Als sie das letzte Steinchen einfügte, fiel ein blauer Strahl von der Decke herab auf das Spinnenbild und formte die blaue Leiter aus Licht. Das Mädchen betrat die Leiter erneut, spürte wieder jenes seltsame Zerren und Ziehen in ihren Gliedern und fand sich im selben Augenblick am Kopfende ihres Bettes wieder.
In diesem Augenblick beschloss Verginia, das fremde junge Mädchen, wenn sie noch lebte, zu befreien oder sie, falls die Alte sie getötet hatte, zu rächen und die Spinnenfrau zu bestrafen. Da sie nun den geheimen Zugang zur Zeremonienhalle kannte, dachte Verginia, daß sie schon Mittel und Wege finden würde, die Spinnenfrau zu überlisten. Doch zuerst musste sie auf den nächsten Vollmond nach Johannis warten. Denn nur zu Johannis ging die Alte über den Sumpf ins unferne Dorf, um sich mit jenem, für jedes Lebewesen tödliche Wasser zu versorgen. Der nächste Tag verlief ruhig, Verginia ging ihrer gewöhnlichen Tätigkeit im Turme nach, sammelte Spinnweben, bestellte Waren bei den Dörflern mit Hilfe des herabgelassenen Körbchens und wartete auf den Aufgang des Mondes. Als die Alte im Turm nirgends zu hören oder zu erblicken war, schlich sich das Mädchen in ihr Zimmer und drehte hastig den Leib des Spinnenreliefs dem Mondbild entgegengesetzt nach Osten. Wieder baute sich die Treppe aus blauem Licht auf, und mit deren Hilfe gelangte Verginia in den verbotenen zweiten Stock, in welchem sich die Zeremonienhalle der Spinnenfrau befand. Dieses Mal bewegte sich sofort zu den Wänden aus blauem Urgestein. Auch hier kam ihr das blaue Licht zu Hilfe. Es verstärkte sich, sobald sich Verginia bewegte und folgte ihr nach. Als sie nach etwa zwanzig kurzen Schritten die harte Wand erreichte, erblickte sie zu ihrem Kummer einen Kokon dicht neben den anderen. Das bedeutete, eingedenk der Tatsache, daß die Spinnenfrau den Turm nur einmal im Jahr verließ, daß die Alte ihr Unwesen schon seit Jahrhunderten betreiben mußte. Wahrscheinlich war es unbemerkt geblieben, weil sie weit entfernt wohnende Mädchen zum Dienst anzulocken wusste und sich neuerdings sogar des Kreisboten und des Annoncengeschäfts bediente. Außerdem hielt die Furcht vor der geheimnisvollen Alten und ihre eigene Geldgier die umliegenden Dörfler im Zaum. Langsam schritt Verginia die runde Wand des Turmes ab. Hinter den grauweißen Kokons hörte sie Jammern und Klagen, Seufzen und Ächzen: "Erlöse uns! Erlöse uns!" So meinte das Mädchen die Stimmen zu hören. Suchend passierte sie Kokon um Kokon, und leise zählte sie mit: "Einhundertelf, einhundertzwölf..., einhundertneunundneunzig..." Da stutzte Verginia plötzlich. Der Kokon vor ihr schimmerte heller als die anderen, das blaue Licht glänzte auf den starken Spinnfäden. Könnte dieser Kokon frisch gesponnen sein? So müsste hinter diesen weißen Fäden ihre neue Freundin gefangen sein! - Doch wie sie erkennen, wie sie retten? Vorsichtig berührte sie die schimmernden Fäden, sie klebten kaum noch. Hinter den Fäden konnte Verginia im blauen Licht eine schwache Bewegung wahrnehmen. Wer bist du? Was ist mit mir geschehen? Wo bin ich? - Hilf, oh, hilf mir! So hilf mir doch, erklang die flehendliche Bitte eines Wesens aus dem Kokon in Verginias Gedanken. Es war der zweihundertste Kokon. Also trieb diese Spinnenfrau seit nun zweihundert Jahren ihr Unwesen in diesem Turm. Furcht und Wut, Entsetzen und Zorn durchtobten Verginias Sinne, drohten ihr die klare Überlegung zu rauben und machten den Wunsch nach Rache und Vergeltung übermächtig. Doch zuerst wollte sie das Wesen im Kokon trösten und beruhigen. Hier ist Verginia vom Turm... , begann Verginia ihre Geschichte zu erzählen. Als sie meinte, das Vertrauen des Kokonmädchens gewonnen zu haben, fragte sie das Mädchen nach den Umständen seines Lebens und erfuhr richtig, daß es das Mädchen vom gestrigen Abend gewesen war. Sie war Tänzerin in einem Wanderzirkus gewesen, aber das Brot hatte nicht für alle gereicht. Daher hatten ihre Eltern sie in einen vornehmen Dienst schicken wollen, und so war die jährliche Anzeige der Alten gerade recht gekommen. Es war eine traurige Lebensgeschichte, und beide Mädchen weinten. Da das fremde Mädchen, ihr Künstlername war Francesca, ihren Taufnamen hatte sie vergessen, keinen Hunger oder Durst nach der Zeremonie der Alten verspürt hatte, vereinbarten die beiden Mädchen, dass Verginia sich zuerst bei den anderen Mädchen nach deren Befinden und Schicksal erkunden sollte. Doch wie entsetzte sich Verginia, als sie von Kokon zu Kokon schritt. Jeden Abend kam die Spinnenfrau zu den Kokons, versprühte das geheimnisvolle Wasser über einen davon, schlug ihre Mandibeln in die hilflosen Körper und begann an ihren Lebenssäften zu saugen. Zwar spürten die Gequälten keinen Schmerz, aber die Kraft der einst so starken Körper verging von mal zu mal. So geschah zu Verginias großem Leid, daß einige Kokons stumm blieben. Und sie befürchtete, dass die bedauernswerten Geschöpfe der teuflischen Gier der Spinnenfrau zum Opfer gefallen waren.
Verginia kehrte zu ihrer neuen Freundin zurück und versprach, auf Abhilfe und Rettung zu sinnen. Bevor sie Abschied nahm, zerrte und riß sie an den starken Fäden der Spinnenfrau, aber das Gespinst war für ihre schwachen Kräfte zu dicht und mächtig gewebt. Das Mädchen konnte den Kokon nicht öffnen oder gar zerstören. So nahmen die beiden Mädchen weinend Abschied von einander. Verginia versprach ihrer neuen Freundin, sie nicht zu vergessen, sondern Tag und Nacht auf deren Rettung zu sinnen.
Als Verginia wieder auf ihrem Zimmer weilte, dachte sie an die zweihundert Kokons mit ihrem schrecklichen Inhalt und verstand ihr eigenes Schicksal nicht. Warum hänge ich nicht in einem Kokon an der Wand der Zeremonienhalle und vergehe von Tag zu Tag ein bisschen mehr? Warum diene ich nicht diesem Scheusal zur Speise? So dachte das Mädchen hin und her, aber es fand des Rätsels Lösung nicht. Was ist bei mir denn so anders, dass ich diesem grausamen Schicksal entging? Warum nannte die Spinnenfrau die alte, harmlose Muhme ihre Feindin? Warum verschonte die Spinnenfrau mich, warum gerade mich? So rätselte das Mädchen Verginia Tag um Tag. Des Nachts tröstete sie ihre Freundin im Kokon und alle anderen, die noch Antwort gaben. Doch es gab Tage, da verstummte die eine oder andere Stimme übers Jahr. Verginia fand heraus, das für ein Kokonmädchen vom Tag ihrer Gefangennahme bis zum Verstummen ihrer Stimme genau sieben Jahre lagen, sieben Jahre in diesem entsetzlichen Zustand ohne Hoffnung auf Befreiung von der Scham, nichts weiter als ein lebendiger Lebensmittelvorrat einer schaurigen Spinnenexistenz zu sein.
Es verging ein Jahr um das andere nach der Gefangennahme Francescas, und Verginia fand keine Lösung für den Kummer ihrer Freundin und deren Leidensgefährtinnen. Eines Tages erzählte ihr Francesca, daß die Spinnenfrau nun auch bei ihr gewesen war. Verginia erschrak auf das heftigste und versprach, sich nächste Nacht in der Nähe zu verbergen, um die Spinnenfrau bei ihrem grausamen Tun zu beobachten. In der kommenden Nacht begab sich Verginia schon früh in die Zeremonienhalle und verbarg sich so gut sie konnte zwischen den Kokons. Sie drückte sich eng an die kalte Mauer aus blauem Fels und wartete auf die Spinnenfrau. Diese machte sich durch eine Verstärkung des blauen Lichtes bemerkbar, schon bevor sie durch die Wand trat. Als sie auf den Kokon der Freundin zutrat, glaubte Verginia sterben zu müssen. Hass und Ekel auf dieses monströse Lebewesen drohten sie zu überwältigen. Ihre Gefühle geboten ihr, aus dem bergenden Versteck zustürzen, sich auf diese teuflische Kreatur zu werfen und sie mit bloßen Fäusten zu vernichten. Aber ihr Verstand siegte über ihr Gefühl und gebot ihr, kühl zu beobachten, ob sie nicht eine Schwäche an diesem Wesen entdecken könne. Wiederum besprühte die Spinnenfrau ihr Opfer mit dem Wasser aus dem Brunnen des Dorfplatzes, bevor sie sich endgültig ihrer Beute näherte. Dabei vermied sie sorgsam, von dem Wasser getroffen zu werden. Nach der Zeremonie verwandelte die Spinne sich wieder in die alte Frau und verließ den Raum auf die gleiche geheimnisvolle Weise. Verginia beschloss, nach dem verborgenen Wasser zu suchen und seine geheimen Eigenschaften zu entdecken. Nachdem sie ihre von Ekel halb wahnsinnige Freundin getröstet hatte, verließ sie die Zeremonienhalle und begab sich auf ihr Zimmer. Irgendwo lag die Lösung bereit, Verginia meinte, sie müsse sie nur vom Fußboden aufheben wie ein verlorenes Buch. Nun hatte Verginia zwar kein Buch, aber immerhin einen Deckel davon. Da erkannte das Mädchen einen Weg zur Lösung ihres Kummers. Sie suchte unter ihrem Kopfkissen nach dem Lohn des alten Weibes für drei Jahre Dienst und fand auch richtig den vergessenen Buchdeckel mit den seltsamen, durcheinander geratenen Schriftzeichen. Sie beschaute sich die Zeichen noch einmal:
Die dglnnVwraeu dre nnpSei. Was mochten sie bedeuten? Da entsann sie sich der alten Muhme, die durch die Armut ihres Herrn zu allerlei Wissen gekommen war. Sie hatte ihr Wissen an Verginia weiter gegeben und schelmisch dabei gesagt: "Es wird dich vor bösen Spinnen bewahren!", und dann hatte sie über ihre eigene Rede gelacht. Seltsamerweise sprach die alte Muhme trotz ihrer Armut mehrere Sprachen und viel fremdes Volk, daß die Pfarrei ihres ehemaligen Herrn passierte, hatte sich darüber sehr verwundert. Insbesondere, wenn die Muhme mit harten Worten unfreundliche Leute in deren eigenen Mund vom Hofe ihres Herrn gejagt hatte. "Was redest du da?", hatte ihr armer Herr sie oft gefragt, und die Muhme hatte lachend gesagt: "Aber lieber Herr Pfarrer, das habt ihr selbst mich doch gelehrt!" Doch der alte Pfarrer war kopfschüttelnd vom Hof der Pfarrei gegangen und hatte dabei gemurmelt: "Aber ich weiß doch gar keine slawischen Sprachen..., ich kann sie nicht einmal sprechen!" Erst heute kam das Benehmen der Muhme seltsam vor, früher hatte sie die Kenntnisse der Muhme immer als selbstverständlich hingenommen.
Als sie den Deckel hin und her drehte, fielen plötzlich leere mattgelb glänzende Blätter heraus, zweihundertsieben an der Zahl. Doch wie Verginia sie auch wendete, alle Blätter waren leer, kein Schriftzeichen war darauf zu erkennen. Es war der Lohn für sieben Jahre Dienst im Turm. Wieder und wieder betrachtete Verginia die Schriftzeichen. Da begannen diese sich plötzlich in ihrem Kopf zu ordnen. Ja, das könnte die Lösung sein. Auch die Alte war verflucht und hoffte auf Erlösung. Deshalb dieser seltsame Lohn in Form eines alten Deckels mit leeren Blättern darin. Die Buchstaben ergaben den Titel des Buches, das der Deckel und die leeren Seiten einst beinhaltet hatten.
Achtlos warf Verginia das Buch auf die Bettdecke und eilte umgehend die Treppe zum Keller hinab. Im Wirtschaftsraum erwartete sie die Alte. Mit herrischem Ton fragte sie: "Ei, ei, mein Liebchen! Wohin des Wegs so eilig? - Willst wohl Spinnennahrung suchen, wie?!" Dabei kicherte sie greulich. Ihr Körper wand sich beständig und Klauenhände wuchsen aus ihrer Seite. Die menschliche Form der Spinnenfrau drohte unstabil zu werden. "Nein, nein!", antwortete Verginia hastig, "ich habe vergessen, den Keller zu säubern! Und ich möchte Ihnen aufs beste und aufmerksamste dienen!" "So, so mein Liebchen, dienen willst du mir..., aufs beste dienen? Nun, da weiß ich eine gute Lösung! Am besten dienst du mir als Speise!" Dabei streckte sie ihre Klauenhände nach Verginia aus und kreischte in den höchsten Tönen aufs Grausigste.
Unbedacht stürzte Verginia die Kellertreppe hinunter, das Kreischen der Spinnenfrau verhallte hinter ihr. Im Vorratskeller angekommen, überlegte sie, was sie zur Abwehr dieses entsetzlichen Wesens und zur Rettung ihrer Freundin und der anderen Mädchen unternehmen könnte. Was aber könnte allen Rettung bringen?, so dachte Verginia verzweifelt. Was hatte vor Jahren der Wirt noch gesprochen? War da nicht eine Warnung vor der Alten vom Turm, und hatte er ihr nicht alle Geschichten erzählt, die man im Dorfe über das seltsame Wasserholen der Alten am Tage nach Johanni kannte? Ganz besonders hatte er Verginia auf das beklagenswerte Schicksal des Viehs hingewiesen, welches das Wasser zu sich genommen hatten und eines grausigen Todes gestorben waren? Und jedwedes Lebewesen, das diese Tränke genossen hatte, war unter den entsetzlichsten Qualen nach wenigen Stunden gestorben. Doch unter Schaudern hatten die betroffenen Landleute berichtetet, daß die Kadaver der Tiere wenige Sekunden nach deren letzten Todeszuckungen eine graue Färbung angenommen hatten. Kurz darauf wären sie als armseliger Aschenhaufen der Arbeit des Stallbesens anheim gefallen... Ja, so hatte der Wirt gesprochen... Das Wasser! Es musste das Wasser sein, das die Alte für ihr teuflisches Handwerk benötigte und gleichzeitig fürchtete! Geschwind sah sich Verginia im Kellergeschoss um. Sie hörte die Alte die Treppe hinabsteigen. Die Spinnenfrau schrie nicht mehr, aber ein seltsam fremdes Rauschen und Trippeln drang den Gang hinab an des Mädchens Ohren. Es war, als kämen nicht zwei Beine die Treppe herunter, sondern vier Beinpaare trügen die Alte näher und näher. Angsterfüllt durchforschten Verginias Blicke die zahlreichen Gestelle und Borde des Vorratsraumes. Plötzlich sah sie in einer verschwiegenen Abseite ein kleines, braunes Schränkchen mit einem seltsamen fünfblättrigen Rosette auf den Türen. Irgendwo hatte sie dieses Symbol schon einmal gesehen..., doch wo nur, wo? Eiskalt überkam Verginia die Angst vor einem Schicksal als Kokonmädchen der Alten. In ihrem Rücken spürte sie die riesige Gestalt der Spinnenfrau. Ihre Klauenhände griffen schon nach ihr, da sprang Verginia mit einem Riesensatz der Verzweiflung bis zu dem kleinen braunen Schränkchen und riß die Türen mit den fünfblättrigen Rosetten auf. Am Brunnen..., am Brunnen des Dorfes habe ich das Symbol gesehen!, schoss ein Gedanke noch durch ihren Kopf, als sie die richtig im Schränkchen vermuteten Fläschchen mit dem bläulich glitzernden Wasser griff. Sie zerschlug den Hals eines der Glasgefäße und warf den Rest mit der Flüssigkeit nach dem riesigen Ungeheuer, das sich vor ihr aufgestellt hatte. Eine monströse Kreuzspinne stand im Begriff ein frisch gesponnenes Netz mit den vorderen Beinpaaren über sie zu werfen, als das Wasser des Teufelbrunnens ihre Brustplatte traf. Ein Zittern fuhr durch das mit schwarzen Borsten bedeckte Geschöpf. Es rührte sich schier endlos dehnende Augenblicke nicht, dann wankte die furchterregende Gestalt, stürzte zu Boden und zerfiel zu einem Häuflein grauweißer Asche. Noch zitternd vor Angst und Schrecken kehrte Verginia die Asche zusammen und schüttete sie in das neben dem braunen Schränkchen stehende Eimerchen. Dann nahm sie ein weiteres Fläschchen aus dem Schränkchen und goß das bläuliche Wasser über die Reste der Spinnenfrau. Ein schauriger Schrei fuhr zum letzten Mal durch das stille Gewölbe, das Wasser wallte auf, und die Asche löste sich in Nichts auf. In der Luft schwebte das Gesicht einer uralten Frau, der Muhme ähnlich. Es lächelte und Verginia hörte die leisen Worte: "Danke! Dank für deinen Mut! Nimm den versprochenen Lohn, er liegt in deinem Zimmer bereit. Befreie die Mädchen mit dem Wasser, doch vergiss nicht das Spinnensymbol am Kopfende deines Bettes nach oben zu drehen!" Langsam wurde die Erscheinung blasser und verschwand wie ein dünner Nebel in der Wand des Turmes.
Verginia verharrte lange Zeit reglos und stumm an der selben Stelle. Ihr Blick blieb unbewegt an der blauschwarzen Turmwand haften. Des jungen Mädchens übererregten Sinne waren wie betäubt, und nur langsam kehrte ihr Geist aus diesem schlimmen Alptraum ins Leben zurück. Es mochte mehr als eine Stunde vergangen sein, bis Verginia sich zu regen begann. Sie raffte alle Fläschchen mit dem rätselhaften Wasser in ihre Schürze und verließ den Vorratskeller. Das Mädchen eilte umgehend in ihr Zimmer, denn all ihre Gedanken galten jetzt ihrer unglücklichen Freundin Francesca und den anderen einhundertneunundneunzig Kokonmädchen. Im Zimmer angekommen, suchte ihr Blick zuerst das Spinnensymbol am Kopfende ihres Bettes. Doch Verginia erschrak heftig, denn sie vermeinte, anstatt des Spinnenkopfes das Gesicht der Alten vom Turm zu erkennen. Sie überwand tapfer ihre erneut aufkommende Furcht, griff beherzt nach dem Relief und drehte das Spinnensymbol nach Osten zu. Doch nichts geschah. Erschrocken hielt sie inne. Heute, am Ende des Monats war Neumond. Erst in vierzehn Tagen, Mitte des Monats, würde der Vollmond am Sommerhimmel stehen. Entmutigt setzte Verginia sich auf das Bett. Auf der Decke lag noch immer das Buch mit den leeren Seiten. Doch wie erstaunte das Mädchen, als sie das Buch in die Hand nahm und goldglänzende Schriftzeichen sich zu sinnvoller Inschrift formten:
Die Verwandlung der Spinne.
Neugierig schlug sie den Deckel auf und fand die einst leeren Seiten des Buches nun beschrieben. Auf der zweiten Umschlagseite fand sie ihren Namen, Verginia vom Turm, und die Jahreszahl a.d. 1872, dem Jahr ihrer Geburt. Der erste Teil des Buches beschrieb ihr Leben von der Geburt bis zu ihrem Tod im Jahr 2079 durch die Hand eines jungen Mädchens mit dem Namen Verginia. Im zweiten Teil fand sie Beschreibungen seltene Pflanzen zur Heilung jedweden Übels der Seele und des Körpers. Der dritte Teil enthielt nur den Satz: "Gewidmet der zweihundertachten Verginia vom Turm, die nach dir und allen anderen kommt." Am Ende des Buches führte ein vierter und letzter Teil alle Lebensdaten von zweihundertundsechs Verginia vom Turm auf, beginnend vierzigtausendsiebenhundertundfünfundvierzig Jahre vor der Zeitrechnung.
"Nein, nein und abermals nein!", schrie da Verginia, "Es muß ein Ende haben! Es ist genug! Es ist genug, zweihundertsechs mal zweihundertundsieben Jahre genug! - Darum hat sie mich verschont! Ich bin die zweihundertsiebte Verginia vom Turm, und ich werde diesen Jammer für immer beenden!"
Verginia fastete vierzehn Tage lang. Danach nahm sie das blaue Wasser zur Hand, drehte das Spinnensymbol nach Osten und betrat die Treppe des blauen Lichts. In der Zeremonienhalle besprengte sie den Kokon Francescas ausgiebig mit dem blauen Wasser. Das Gefängnis aus Spinnenweben zerfiel und gab das gequälte Mädchen frei. Überglücklich umarmten sich die Freundinnen und schworen, sich nie wieder zu trennen. Dann besprengten sie nach und nach die anderen Kokons und befreiten die Mädchen. Doch zu ihrem großen Kummer waren siebenundsiebzig der Kokons leer, nur ein wenig weiße Asche fand sich unter ihnen. Hier hatte die Spinnenfrau gesiegt. Über die blaue Treppe führte Verginia die Mädchen in die reichbestückten Vorratskeller der Alten. Bei gutem Essen und Trinken waren bald alle wohlauf und probierten die neuen Kleider, die Verginia in den Jahren angesammelt hatte. Da hallte fröhliches Geschwätz und Lachen durch den diskreten Turm, und alles Unglück schien vergessen. Doch Verginia mahnte zur Eile, sie wollte den unheiligen Turm der Verdammten noch in derselben Stunde verlassen, da das Glück der Mädchen unfassbar schien.
Sie besprengte die Wand des Turmes mit dem Rest des Wassers, worauf diese sich öffnete und die Mädchen in die Freiheit entließ. Verginia aber eilte in ihr Zimmer und drehte das Spinnensymbol nicht nach oben, wie ihr das die letzte Erscheinung der Spinnenfrau geboten hatte, sondern senkrecht nach unten. Kaum war das Symbol in dieser Stellung eingerastet, ging ein Zittern durch das Bauwerk. Verginia eilte die steile Treppe hinunter und verließ den Turm durch den schmalen Spalt, den das blaue Wasser geschaffen hatte. Als sie die anderen Mädchen erreichte und sich umdrehte, sah sie, wie der Turm langsam im Sumpf versank. An seiner Stelle entsprang eine klare Quelle und füllte einen flachen See, den jedermann, der diese Gegend bereist, noch heute bewundern kann.
Verginia führte die Mädchen ins Dorf zurück. Doch wie verwunderte sie sich, als der Wirt aus seinem Hause trat und sie fragte, ob sie den Turm der Alten verfehlt habe, da sie vor kaum einer Stunde sein Haus verlassen habe. Doch Verginia war klug und antwortete, daß es im Sumpf keinen Turm gäbe, und sie sich sein Angebot habe wohl durch den Kopf gehen lassen. Es gefiele ihr sehr gut und übers Jahr werde man weitersehen. Der Wirt bat sie und die anderen Mädchen freudig in sein Haus und bewirtete sie mit allen Köstlichkeiten die Keller und Räucherkammer hergaben. Danach trennten die Mädchen sich, ein jedes wollte zu seinen Lieben zurück. Sie herzten und küßten sich zum Abschied und beschlossen, jedes Jahr bei Verginia ihre Wiedergeburt zu feiern. Doch nur Francesca kehrte Jahr um Jahr zu ihrer Freundin zurück und konnte so deren neues Glück an der Seite des Eichenwirtes miterleben.
Der unheilige Brunnen aber war versiegt, und jedermann mied den neuen See, solange, bis niemand mehr dessen Geschichte kannte.
Diese Märchen aus dem Wendland erzählte Echtanon
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Die Spinnenfrau.
Vor vielen, vielen Jahren lebte südöstlich der Stadt des Salzes im Wendischen Land eine alte Frau, deren seltsames Gehabe seinerzeit manchen Zeitgenossen entsetzte. Während sich im Rundling die Leute üblicherweise eng zusammenschlossen und ihren althergebrachten, der slawischen Tradition verhafteten, Sitten und Gebräuche lebten, sowie einen für verirrte Reisende unverständlichen Zungenschlag pflegten, sprach die alte Dame ihre wenigen Sätze in Hannoveraner Hochdeutsch. "Sie", so sagten die Leute, "stolpert über einen spitzen Stein." Und dabei überbetonten die bäurischen Weibsbilder das scharf ausgesprochenen "s", während sie ihre Hände auf die Hüften stützten, um sich ihrem Gelächter besser hingeben zu können. Normalerweise bedienten sie sich jedoch ihrer behäbigen, platten Mundart, die niemandem sonst vertraut war, was die Einheimischen gern zu ihrem Vorteil nutzten, wenn ahnungslose Reisende sich in ihr Gebiet verloren.
Die alte Frau wohnte abseits des Rundlings am Rande eines üblen Sumpfloches in einem Turm aus schwarzem, glänzendem Basalt. Hierher lieferten die Bauern und der Krämer ihre Waren. Sie mussten die gefüllten Körbe Punkt sechs Uhr abends am Fuße des Turms niederlegen. Am darauffolgenden Morgen fanden sie diese geleert wieder vor. Doch die tüchtigen Händler murrten ob dieser merkwürdigen Vorschriften nicht, denn ihr Lohn war jedesmal reichlich. Am Grunde eines jeden Korbes fand sich letztendlich ein blinkendes Goldstück, das die tüchtigen Leute, nachdem sie alle vier Himmelsrichtungen misstrauisch beäugt hatten, im tiefen Säckel ihrer Hosen verschwinden ließen. Im Hause angekommen, pflegten sie den Schatz in einen alten Strumpf zu stecken und denselben unter der Matratze ihrer Ruhestätte zu verbergen. So mehrten sie ihren Besitz und warenʼs zufrieden.
Einmal im Jahr, am Tage nach Johannis, tauchte die Alte auf dem Marktplatz auf. Hier stand, von den Giebeln der ehrwürdigen Häuser bewacht, der Brunnen des Dorfes. Dieser war jedoch zum Bedauern eines jeden Dörflers seit Urzeiten versiegt und spendete nur noch einen Eimer des lebenserhaltenden Nasses am Tage. Doch niemand mochte davon Gebrauch machen, denn das Wasser hatte sich als überaus schädlich für die Viehzucht erwiesen. Jedwedes Tier, das diese Tränke genoss, starb unter den entsetzlichsten Qualen nach wenigen Stunden. Doch unter Schaudern berichteten die betroffenen Landleute, dass die Kadaver der Tiere wenige Sekunden nach deren letzten Todeszuckungen eine graue Färbung angenommen hätten. Kurz darauf wären sie als armseliger Aschenhaufen der Arbeit des Stallbesens anheim gefallen. Doch die seltsame Alte schienen diese Reden keinesfalls zu stören. Sie schöpfte geduldig einen Eimer des tödlichen Trankes und trug ihn mit kurzen, schlurfenden Trippelschritt zu dem schwarzen Turm am Rande des verrufenen Sumpfes. Die Leute, die sich gewöhnlicherweise auf dem Platz des Rundlings aufhielten, blickten an diesem Tag der Alten nach, steckten die Köpfe zusammen und berichteten einander von diesem unerhörten Erlebnis. Doch niemand griff die Alte je mit Worten oder Taten an, denn alle scheuten eine Begegnung, und die Alte schien keinen Wert auf eine Bekanntschaft zu legen. Selbst der Pastor schlug schweigsam ein Kreuz hinter dem Rücken der Alten und begab sich eilends in den Schutz seines Gotteshauses, denn auch er fürchtete die seltsame Alte wie den leibhaftigen Satan.
Manchmal verschlug es einen Dorfschlingel im jugendlichem Übermute zu den schwarzen Mauern des Turmes. Es galt als herausragende Mutprobe, an seinem basaltenen Sockel zu kratzen oder gar einen Splitter zum Beweise abzuschlagen. Doch diese Forderung war nur eine leere Redensart, denn man wusste von niemandem zu berichten, dem es je gelungen wäre, solch seltenes Kleinod zu erlangen. Überhaupt war der Turm allen Bauern, Bürgern und Handwerkern des Kreises ein unerklärliches Rätsel. Nirgendwo waren die fleißigen Bauersleute bei ihren tagtäglichen Mühen auf ihren steinigen Äckern auf solchen schwarzen Fels gestoßen, obwohl die Gletscher der vergangenen Eiszeit manchen schweren Brocken aus dem fernen Norwegen auf den Grundmuränen zurückgelassen hatten. Derart hatten die germanischen Vorfahren aus den allergrößten Findlingen riesige Gräber ihrer Stammesfürsten hinterlassen. Doch niemand hatte je solches schwarzes Urgestein gefunden, wie es am geheimnisvollen Turm als Baumaterial gedient hatte. So war es kein Wunder, daß sich um den schwarzen Turm manche diskrete Geschichte rankte, die zur Winterzeit mit heimlichen Schaudern in abendlicher Runde auf der Tenne weitergegeben wurde. Gar manches tüchtige Mädchen gewann derart das Herz eines fleißigen Burschens, wenn es seinen bebenden Busen beim schönsten Gruseln eng an dessen Seite drückte.
Es hieß überall im Dorfe, dass der Teufel selbst im Turm seine Bleibe genommen hätte und am Abend nach Johannis sich am giftigen Brunnentrunk der Alten laben würde. Denn alle Welt fragte sich, wozu das unselige Wasser sonst taugen solle, wenn nicht den Teufel selbst zu tränken! Und dieser schwarze Bube war bekannter Maßen unsterblich! Vielleicht wäre es gar der Trank, der ihm Unsterblichkeit verlieh! So sprachen die armen Bauersleute und steckten an den Tischen des Eichenwirtes beim Bier die Köpfe zusammen.
Eines schönen Morgens nach Johanni, als die Alte - wie gewöhnlich - ihren giftigen Trunk schöpfte, verwunderten sich die Umstehenden sehr. Denn, anstatt - wie gewöhnlich - nach ihrem unverständlichen Tun augenblicklich mit schlurfendem Trippelschritt den Heimweg anzutreten, wandte die Alte sich der Eingangstür des dörflichen Krämers zu. Im Laden angekommen, verlangte sie mit krächzender, aber klar verständlicher Stimme nach der neuesten Ausgabe des Kreisboten. Die Anwesenden traten scheu zur Seite, als die Alte grußlos an den Tresen trat, um das verlangte Blatt aus den Händen des Krämers zu reißen. Ohne jeden Dank und ohne weitere Worte zu verlieren blätterte sie hastig in der Zeitung. Auf der dritten Seite hielt sie inne. Sie schien eine Annonce zu studieren. Umständlich fuhr sie mit ihrem rechten Zeigefinger die Zeilen entlang und bewegte tonlos ihre farblosen Lippen dabei. Plötzlich ließ sie die Blätter achtlos zu Boden fallen und verließ kichernd das Lokal.
Ein beherzter Bauernbursche griff sich die losen Blätter und fügte sie wieder zusammen. Dann las er ungeübt und stockend den aufmerksam lauschenden Nachbarn folgenden Text laut vor:
Alte Dame von herrschaftlicher Herkunft sucht gut gezogenes junges Mädchen zwecks Hilfe in Haus und Hof.
Kost und Logis sowie eine reiche Aussteuer bei Heirat werden bei anstelliger Führung und ziemlichem Fleiß gestellt.
Entsprechende Weibspersonen melden sich gefälligerweise beim Eichenwirt hierselbst und erfragen den ständigen Aufenthalt derer ʽHagzissa vom Turmʼ. An dieser Stelle setzte ein aufgeregtes Gemurmel ein, das sich alsbald zu einem heftigen Disput steigerte. Ungestüm gestikulierend versuchten die Dorfbewohner die aufregende Neuigkeit zu verarbeiten. Endlich verließen die anwesenden ehrbaren Ehefrauen das Ladenlokal, um ihren angetrauten Mannsbildern diese Sensation am Mittagstisch brandheiß servieren zu können. Diese brauchten sich um einen deftigen Gesprächsstoff beim abendlichen Schoppen am Stammtisch nun wahrlich keine Sorgen mehr zumachen. Sie bekamen reichlich davon. Zur Mittagszeit, als jeder Bewohner des Rundlings zu Tische saß, gab es nur ein Gesprächsthema: Die herrschaftliche Alte und ihr zu erwartendes Dienstmädchen.
Am vierten Tag nach dieser allgemeinen Aufregung klopfte es zur frühen Abendstunde Punkt sieben Uhr an die Tür des Eichenwirtes. Als der dickliche, behäbige Mann vor seine Türe trat, erblickte er ein etwa achtzehnjähriges blondes Mädchen in ärmlicher Kleidung, das einen Weidenkorb in seiner Linken trug. Auf seine Frage nach ihrem Begehr antwortete das Mädchen mit schüchterner Stimme, daß die gute Muhme sie zum Dienst gesandt habe, da zu Hause Schmalhans Küchenmeister geworden war und vergangene Woche die letzte Maus das Weite gesucht habe. So solle sie der fremden Dame Antwort geben, hätte die gute Muhme ihr anbefohlen. Der Eichenwirt sah in das verschmutzte, aber liebe Gesicht des Mädchens und bat es freundlich, in seine Schankstube einzutreten. Er empfahl ihr sich erst einmal das Gesichtchen zu säubern, und dann werde man bei einem Stück Brot und einem Becher Milch weitersehen. Das junge Ding trat nach dieser freundlichen Einladung in den Schankraum, stellte seinen Korb auf einem der Tische ab und folgte der weisenden Hand des Wirtes. Dieser hob, nachdem das Mädchen in der Waschküche verschwunden war, neugierig das grobe Tuch hoch, das ihm den Inhalt des Korbes vorenthielt. Er erblickte ein Paar schwarze Halbschuhe aus feinem Leder, einen Apfel zur Wegzehrung und einen verbeulten Becher aus billigem Zinnblech mit der Jahreszahl 1872, wohl das Geburtsjahr des Mädchens. In der Tiefe des Korbes fand sich noch ein kleines Geldstück, das in den Falten einer Küchenschürze verborgen war. Diese paar Dinge schienen den gesamten Besitzstand des Mädchens auszumachen. Jedenfalls förderte eine Fortsetzung der unziemlichen Suche des Wirtes nicht von Bedeutung zu Tage.
Der Eichenwirt bedeckte den Korb wieder mit dem Tuch, als er den leichten Schritt des jungen Gastes vernahm. Er wandte sich dem Mädchen zu und blickte ihr gerade ins Gesicht. Zwei blaue Augen leuchteten ihm offenen Blicks entgegen, und das feine Gesicht wies keine groben bäuerischen Züge auf. Der Wirt gedachte seiner Frau und seiner kleinen Tochter, die der Tod beide im Kindbett dahingerafft hatte. Er befragte das Mädchen nach seinem Woher und Wohin und erfuhr von ihrer bitteren Armut und ihrem Wusch, der Muhme das Leben durch ihr Fortgehen zu erleichtern. So wäre ihr jene Annonce der herrschaftlichen alten Dame vom Turm gerade recht gekommen, die sie beim Apotheker gelesen hatte, als sie die teure Medizin für die Muhme bestellte. Diese hätte ihr in stillen Stunden die Kunst des Lesens gelehrt, damit sie nicht vollends ungebildet durchs Leben wandern müsste. Die Muhme hatte vor Jahren im Dienst des Herrn Pfarrers vom Nachbardorf gestanden. Dieser habe sie in Ermangelung eines fälligen Lohnes, er war arm wie die sprichwörtliche Kirchenmaus, des Lesens kundig gemacht. Doch nach dem Tod des Herrn hatte die Muhme eine neue Stellung als einfache Magd nehmen müssen, da sie dem neuen Herrn Pfarrer für gewisse Verrichtungen nicht mehr jung genug erschienen war. Und ihre Eltern waren beim Heumachen während eines heftigen Sommergewitters durch einen Blitzschlag auf dem Feld ums Leben gekommen. Dabei hätten sie doch unter einer Buche Schutz gesucht und nicht unter einer Eiche, denn jedermann wisse doch um den weisen Spruch der Alten. Jetzt sei die Muhme der Armenhilfe zur Last gefallen, und deshalb wolle sie um den annoncierten Dienst bei der alten Dame anhalten.
Der Eichenwirt räusperte sich das ein um das andere Mal und meinte schließlich, ob sie nicht den Dienst bei ihm antreten wolle, und, wenn sie sich anstellig zeige, solle sie wohl ihr Glück in seinem Hause machen. Er räusperte sich wiederum und erzählte ihr von dem Unglück, das ihm am Kindbett seiner Frau getroffen hatte. So sei er Witwer und kinderlos zur selben Stunde geworden. Doch habe ihm nie wieder ein Weibsbild der Umgebung so zugesagt, dass er es zum Traualtar hätte führen wollen. Nach dieser langen Rede schwieg er eine Weile lang. Dann bat er das Mädchen sich sein Angebot wohl zu überlegen und wohlwollend in Erwägung zu ziehen. Er sei zwar nicht von ihrer Jugend, aber er stände gut im Saft. Zum Beweis entblößte er seinen rechten Unterarm und zum Spiel seiner kräftigen Muskeln lachte das Mädchen zum ersten Mal. Durch die Heiterkeit des Mädchens schien dem Wirt seit langer Zeit wieder der helle Sonnenschein ins Haus zukommen, und er legte ihr seine Angelegenheit nochmals dringend ans Herz. Obendrein meinte er, sie vor der Alten vom Turm warnen zu müssen und erzählte ihr alle Geschichten, die man im Dorfe über das seltsame Wasserholen der Alten am Tage nach Johanni kannte. Ganz besonders wies er das Mädchen auf das beklagenswerte Schicksal des Viehs hin, welches das Wasser zu sich genommen. Doch sie dankte dem Wirt artig und meinte, dass sie zuerst der Annonce der alten Dame folgen wolle und anschließend, wenn Gott wolle, werde man weitersehen. Das Mädchen brach das Brot des Wirtes, dankte Gott und verspeiste es heißhungrig. Überdies trank es einen Becher Milch, den der Wirt dazu gestellt hatte. Danach bedankte es sich artig, nahm seinen Weidenkorb, grüßte den Wirt und verließ dessen Haus. Der Eichenwirt stand noch lange in der Tür und schaute dem Mädchen nach. Dann sagte er alle Segenswünsche auf, die er kannte und zog sich wieder in sein Haus zurück. Dort verbrachte er den Abend bei seiner gewöhnlichen Arbeit, bis die Bauern zum Kartenspiel eintrafen, und ihr Lärmen die Stille des Raumes erfüllte. Doch seine Seele schaute das Lächeln des Mädchens, und er konnte sich von diesem Bild nicht mehr lösen.
Die Bauern befragten ihn nach dem Verbleib des Mädchens, das ihre Weiber sein Haus hätten betreten sehen, und er gab ihnen bereitwillig Auskunft. Die Bauern fragten den Wirt, warum er das junge Ding denn nicht vor der seltsamen Alten gewarnt habe, denn diese sei womöglich gefährlicher als man wisse. Und sie fragten weiter, wie denn der Name jenes Menschenkindes wäre. Doch der Wirt schwieg dazu und meinte nur, dass in dieser Welt sich jedermann um seine eigenen Angelegenheiten zu kümmern habe.
Inzwischen hatte das Mädchen den Schutz des Rundlings verlassen und war über das freie Feld zum unheildrohenden Sumpf gewandert. Als es diesen schwarz und still vor sich liegen sah, wurde ihm doch ein wenig bang ums Herz. Aber es empfahl seine Seele Gott, dem Herrn, und wanderte nach diesem Trost über schlüpfrige, schmale Pfade dem düsteren Turm zu. Von weitem schon hatte sie jenes seltsame Heim ihrer neuen Herrschaft erblickt, das vielleicht auch ihres werden sollte. Die Sonne stand tiefrot am Horizont, und die Kühle der nahenden Nacht ließ feine, weiße Nebelschleier aus unergründlichen Wasserlöchern steigen. Das Mädchen eilte dem Turme zu, denn die Dunkelheit würde bald Weg und Steg verschlingen, dann würde sie im tiefen Sumpf ihr junges Leben lassen müssen. Doch Seltsames geschah: mit jedem Schritt schien der Turm ihr ferner denn je, und bald drohte sie Verzweiflung zu übermannen. Der Nebel zog sich zusammen, und dichte, weiße Bänke versperrten ihr den Weg. Außerdem deuchte ihr, daß aus dem Nebel leises Kichern klang, gar, als spotte jemand ihrer Angst. Doch nach einem lauten Herrgott hilf!, stand sie urplötzlich vor dem hoch aufragenden Turm aus schwarzem Basalt. Sie erschrak heftig, denn sie wähnte sich Hunderte von Metern entfernt, doch sie stand nur drei Schritte vor der glatten, dunklen Wand. Langsam umschritt sie das Gebilde und suchte nach Tür oder Tor, doch sie konnte keinen Einlass erblicken. Aufmerksam musterte sie das Gemäuer und bemerkte, dass seine Farbe nicht eigentlich schwarz war, sondern aus der Nähe betrachtet in vielen bläulichen Tönen spielte. Die Farben liefen auseinander und ineinander und bildeten seltsame, nie geschaute Muster. Plötzlich schrie das Mädchen zu Tode erschrocken auf. Aus dem bläulichen Farbenspiel blickten ihr aus furchterfüllten Augen ungezählte Mädchengesichter entgegen. Leise wisperten ihre Münder: "Hilf uns! Erlöse uns! Hilf uns! Erlöse uns!" Und endlos wiederholte sich ihr Wimmern und Jammern: "Hilf uns! Erlöse uns! Hilf uns! Erlöse uns!" Von Erschöpfung und Schrecken übermannt, sank das Mädchen wie leblos zu Boden.
Als das Mädchen erwachte und seine Augen aufschlug, sah es das farblose, fast weiße Gesicht eines uralten Weibes vor sich, das sie aufmerksam aus dunklen Augenhöhlen beobachtete. "Na, Kindchen, bist wieder unter den Lebenden, mir zu dienen?! Du willst mir doch dienen, mein Liebchen, meine unschuldige Jugend? Du willst oder du musst in den Sumpf zurück! Doch das täte mir um deine Tugend leid! Manches Gesindel treibt sich in der Dunkelheit herum! Weißt du, was ein Zeitwanderer ist? Nein, du weißt es nicht! Es hätte mich auch gewundert! - Aber ich weiß etwas, etwas, was nur wir beide wissen und sonst niemand mehr auf dieser Welt: Du heißt Verginia! - Weiß der Teufel, was die alte Muhme geritten hat, mir diesen Schabernack zu treiben! - Verginia! Ha, als wenn einer der dörflichen Trampel die Bedeutung dieses Wortes je wird ermessen können! Innocentia, Verginia! Das kommt vom Pfaffendienst, der verdirbt die simplen Gemüter nur! - Ha, Verginia!" Das Mädchen war bei der Nennung seines Namens zusammengezuckt, und seine bebende Stimme fragte: "Wer sind Sie? Woher kennen Sie meinen geheimen Namen? Niemand außer mir und der alten Muhme weiß diesen Namen!" "Nun, nun!", kreischte das alte Weib, "Kenne ich deinen Namen, oder kenne ich ihn nicht?! - Ich kenne deinen Namen, und ich sage dir, wir beide und nicht die Muhme werden ihn nennen!" "Nicht die Muhme?", fragte Verginia mit erlöschender Stimme, und wiederholte flüsternd: "Nicht die Muhme...?" "Nein!", tönte hart die Stimme der Alten, "sie wird deinen Namen nicht mehr rufen, denn aus dem Grabe ruft sichs schlecht!" "Aus dem Grab?", schrie verzweifelt Verginia, "aus dem Grab?!" "Nun denn", sprach die Alte im ruhigen Ton weiter, "das Kraut, das dem Apotheker ich gab, taugte ihr zur Heilung nicht, aber es erleichterte ihr den Übergang ins Reich der Schatten." "So hast du sie getötet, mit giftiger Gabe gar feige gemordet?!" "Nein, die alte Feindin war des Lebens und des Kampfes müde. Ich half ihr, den letzten Weg zu gehen..." Unvermittelt kicherte sie und sprach die unverständlichen Worte: "Liebchen, du musst die Nebel genauer schaun... du musst genauer schaun! Du wirst es lernen. - Doch nun zu dir und deinem Dienst bei mir. Ich will dir deine Aufgaben wohl weisen." "Und wenn dieser Dienst mein Begehr nicht länger ist...?", trotzte das Mädchen. "Nun", so vollendete ihre neue Herrin, "so diene ich dir die Herrschaft des Sumpfes an... Und nun wähle!"
Beide schwiegen nun. Die Augen der Alten wichen nicht vom Gesicht des Mädchens. Nach geraumer Zeit brach das Mädchen Verginia das lastende Schweigen: "Da bleibt mir der Wahl nicht viel, der nächtliche Sumpf oder der blauschwarze Turm... So wähle ich den Dienst im Turm." "Gut, gut, Liebchen! Gut gewählt, wird dein Schade nicht sein, der Dienst bei mir im Turm..., der Dienst im Turm ist leicht, ist leicht..." Die entsetzliche Alte fing an zu kichern, sie konnte sich nicht beruhigen und ihr Kichern und Kreischen, "...ist leicht, ist leicht!", hallte durch die Stille des Turms. Furchterfüllt beobachtete das Mädchen eine gar schreckliche Veränderung der Gestalt der Alten. Während diese sich kichernd krümmte, wuchsen ihr zwei Klauenhände aus der Körpermitte zur Seite hin. Ihr Leib wurde dicker und auf ihrem Rücken wurde ein weißes Kreuz sichtbar. - Doch urplötzlich richtete sich die furchterregende Gestalt kerzengrade auf, wandte sich Verginia zu und sagte mit ruhigem Ton: "Schluss jetzt mit den Albernheiten! Ich will dir dein Zimmer weisen. Du wirst von der langen Reise müde sein. Folge mir!" Sie führte das Mädchen durch den Turm. Jedes Stockwerk bestand aus einem Raum mit runden Wänden. Die Alte zeigte Verginia die wohlgefüllte Vorratskammer in der Tiefe des Bauwerks, sowie den Wirtschaftsraum in dem Verginia aus ihrer Ohnmacht erwacht war. Dieser war zum gewöhnlichen Aufenthaltsort bestimmt. "Im dritten Stock wirst du wohnen und schlafen, im ersten wohne ich, darüber sind die Kokonmädchen", erklärte die Alte, während sie und Verginia eine steile Wendeltreppe emporstiegen. "Kokonmädchen...?", fragte Verginia. "Ach, Papperlapapp! Es sind nur Puppen, ich sammle Mädchenpuppen... Es ist eine alte Leidenschaft..., eine alte Leidenschaft." Als beide das erste Stockwerk erreichten, blieb die Alte stehen und sagte: "Nun zu deinem Dienst. Du hast nur zwei Aufgaben: Erstens, du musst den Turm sauberhalten. Zweitens, du musst für deine Nahrung selber sorgen. Und du hast nur drei Verbote zu beachten: Erstens, du darfst den Turm nicht verlassen. Zweitens, du darfst niemanden sprechen außer mir und drittens, du darfst das zweite Stockwerk nicht betreten, du könntest meine kostbaren Puppen beschädigen. Ich kümmere mich selbst um sie, allein! - Hörst du, niemand darf meine kostbaren Puppen sehen, nur ich, ich allein!" Ihr Zeigefinger wies nach oben. Mit einer unerwarteten Bewegung wandte sie sich Verginia zu: "Doch nun zu deinem Lohn: Du darfst von der Spitze des Turms ins Land schauen, des Tags und in der Nacht. Du wirst in deinem Zimmer hinter deinem Bett eine geheime Treppe finden. Du wirst Dinge schauen dürfen, die sonst den Sterblichen verborgen bleiben. - Doch mehr noch sollst du erhalten: Nach drei Jahren gebe ich dir den Deckel eines alten Buches, nach sieben Jahren die papiernen Blätter dazu, nach fünfzehn Jahren die Schrift darauf und dazu einen runden Leib Brot aus reinem Gold. Doch wertvoller als alles Gold dieser Welt wird das Buch dir sein. - Bedenk dich nun, doch antworte mir erst, nachdem dein Zimmer ich dir gezeigt. Komm nun!" Sie wandte sich von ihr ab und beide kletterten die steile Stiege weiter hinauf.
Im dritten Stock klopfte die Alte mit hartem Knöchel gegen das schwarze Holz einer abseitigen Tür, die alsbald aufsprang. Die Alte schob mit der linken Hand das Mädchen durch die dunkle Öffnung. Verginia schaute sich um. Sie befand sich in einem großen, runden Raum, der die gesamte Grundfläche des Turmes einzunehmen schien. An den Wänden leuchteten zahlreiche Kerzen, die das Zimmer in ein angenehm weiches Licht tauchten. In der Mitte des Zimmers stand ein Himmelbett von ungeheuren Ausmaßen. Staunend trat das Mädchen näher heran. Es umschritt das Bett dreimal und jedes Mal zählte es zwanzig seiner Schritte. "Es ist unglaublich!", murmelte Verginia, "es misst in jeder Himmelsrichtung an die siebzehn Fuß!" Das Bett war aus grauem, glänzenden Holz gefertigt und mit ungezählten Schnitzereien kunstfertig verziert. Auf der Liegestatt fanden sich Dutzende weißer Kissen und rosa Decken. Den Himmel des Bettes bildeten Wolken weißen Tülls. An der linken Seite des riesigen Bettes fand sich noch ein zierliches Tischchen aus feinstem rotbraunen Holz und ein gepolstertes Stühlchen stand davor. An der rechten Seite befand sich ein deckenhoher Schrank aus dem selben Holz. Vor dem Bett stand noch ein grünes Schemelchen. Dieses schien die ganze Einrichtung des Raumes zu sein. Das Mädchen wandte sich der Alten zu und sagte mit Erstaunen in der Stimme: "Das ist für mich? Ich bin ein einfaches Mädchen, aufgezogen von einer armen Muhme, und ich bedarf solch schöner Sachen nicht. Es könnte meinen Gedanken verderben!" "Nun", erwiderte die Alte, "der Dienst im Turm ist hart, wenig Abwechslung hat unsereiner, da ist ein bißchen Luxus nicht zu verachten. Nimm es, wie es da steht. - Doch ich darf dir den geheimen Ausgang nicht verwehren." Die Alte betrat nun ebenfalls das Zimmer und begab sich zum Kopfende des Bettes. "Hier", sagte sie, indem sie auf eine Erhebung in der geschnitzten Umrandung wies, "dieses Bild drehe dem Monde zu, daß es ihn erblicken kann, wenn er am Himmel steht, des Tags und in der Nacht, und du wirst die geheime Tür gewahren."
Neugierig trat Verginia näher, um das Bild im Schnitzwerk zu betrachten. Verwundert bemerkte sie Kopf und Leib einer handtellergroßen grauen Kreuzspinne, der geradezu aus dem Holz des Bettes zu wachsen schien. Das Flackerlicht der Kerzen verlieh dem Bild eine seltsam schreckliche Lebendigkeit. Die fünf Augen des Spinnenkopfes schienen zu leuchten und jede ihrer Handbewegungen zu beobachten. Als Verginia erschrocken zurückfuhr, folgten ihr ihre langen, blonden Haaren nicht. Sie hingen in grauen, klebrigen Fäden fest. Sie war mit dem Kopf in ein mächtiges, verborgenes Spinnennetz geraten. Verginias verzweifelte Befreiungsversuche blieben erfolglos, bis die Alte näher trat und die Fäden mit ihren Zähnen durchtrennte. Die herabgefallenen Fäden spulte die Alte sorgfältig auf eine Garnrolle, die sie aus den Falten ihres dunklen Gewandes zog.
Danach zeigte sie auf die Garnrolle: "Das wird deine Hauptaufgabe sein. Du musst die Spinnenweben, die hier überall zu finden sind, sorgfältig ablösen und auf Garnrollen wickeln. Neue Rollen stehen jeden Morgen auf dem Tisch im Erdgeschoss, des Abends stellst du die gefüllten an denselben Ort." "Das scheint mir so schwierig nicht zu sein, jedoch frag ich mich, wovon ich leben soll, was soll meine Nahrung sein, da ich den Turm nicht verlassen darf?" "Nun, nun, Liebchen! Du hast die Vorratskammer gesehen. Bedien dich ihrer nach Herzenslust. Ich bedarf des Inhalts nicht. - Und wenn du Wünsche hast, so lege eine Nachricht in den Korb, den du abends Punkt sechs Uhr an einem Seil den Turm hinablässt. Die Bauern und Krämer sinds gewöhnt. Sie werden gut entlohnt und stellen keine dummen Fragen. Glaub mir, es wird dir an nichts mangeln! - Doch nun komm und lass uns den Pakt besiegeln."
Die Alte winkte Verginia ihr zu folgen und stieg mit ihren kurzen, schlurfenden Trippelschritt ins Erdgeschoss hinab. Im Hauptraum des Turms angekommen, zog die Alte ein gelbliches Fragment aus der obersten Schublade eines braunen Schränkchens. Sie strich es mit ihren weißen, knorrigen Händen glatt und kicherte dabei: "Feines Papier, gutes Papier, wie... Menschenhaut!" Dann spitze sie einen Federkiel und winkte Verginia an einen großen, runden Tisch aus schwarzem Holz. "Hier, unterschreib' das Dokument, unseren Pakt auf fünfzehn Jahre!" "Womit?", verwunderte sich das Mädchen und suchte nach der Tinte. Sie bemerkte nicht, dass die Alte sie lauernd umkreiste. "Hiermit!", kreischte die grausige Frau und stach den spitzigen Kiel blitzschnell in Verginias linke Unterarm. Diese schrie vor Schmerz und Schrecken auf, doch die Alte drückte ihr den vom roten Blut gefüllten Kiel in die rechte Hand und schrie mit furchtbarer Stimme: "Hier unterschreib' mit deinem neuen Namen Verginia vom Turm." Mit zitternder Hand kam Verginia der Forderung der grausamen Alten nach und schrieb am unteren rechten Rand des Fragmentes ihren neuen Namen:
Verginia vom Turm.
Die folgenden Jahre waren eine leichte Zeit für das Mädchen Verginia vom Turm. Alles geschah, wie die Alte es gesagt hatte. Die wenige Arbeit war schnell getan, und alle ihre Wünsche, seien es die ausgefallensten Speisen oder die feinsten Seidenkleider, wie sie die feinen Damen in der Stadt trugen, wurden in wenigen Tagen erfüllt. So machte Verginia sich einen Spaß daraus, für sich die ausgefallenste neue Garderobe auszudenken und bei den heimischen Schneidern fertigen zu lassen. Zu ihrer Unterhaltung malte sie sich die Gesichter der verzweifelten Gesellen aus, wie der Meister sie zur ungewohnten Arbeit trieb. Ein weiteres Vergnügen fand sie im Ausblick von der Turmspitze. Jedesmal, wenn der Mond des Tags oder in der Nacht am Himmel stand, drehte sie den Kopf und Leib des Spinnenbildes am Kopfteil ihres Bettes in Richtung des Himmelskörpers. Alsbald tat sich die Wand des Turmes dahinter auf und gab ein schmales Treppchen frei. In wenigen Augenblicken sprang sie dann die Stufen zur Turmspitze hinauf. Hier von der gesamten kreisrunden Fläche des Turms hatte Verginia die unvergleichlichste Aussicht über Feld und Flur. Wunderbarerweise reichte ihr Blick weit über alle Grenzen des Landes, und sie konnte den Gesprächen der Menschen draußen lauschen. Diese Unterhaltung wurde einmal im Jahr von seltenen Besuchen unterbrochen. Seltsamerweise geschahen diese immer wenige Tage nach Johannis. Stets meldeten sich junge Mädchen zum Dienst bei der alten Frau. Bei diesem Ereignis wies die Alte Verginia jedesmal auf ihr Zimmer, aber diese schlich sich nach einigen Minuten wieder auf die Treppe hinaus und lauschte nach unten. Doch außer leisem Stimmgemurmel, das nach einiger Zeit verstummte, erfuhr sie nichts.
Am Abend des Tages an dem sie drei Jahre der Alten vom Turm treu und aufmerksam gedient hatte, rief diese Verginia zu sich. Sie sah ihr eine Weile stumm, aber aufmerksam ins Gesicht und sagte dann endlich: "Ich habe dir nach drei Jahren Dienst bei mir eine Belohnung versprochen und wahrlich, so ich dich ausgesaugt hätte, wenn du mich enttäuscht hättest, sage ich nun, du hast deinen Dienst untadelig verrichtet. Also nimm hier deinen versprochenen Lohn, auch wenn es mein Untergang sein sollte!" Während dieser unverständlichen Rede zog die seltsame Alte einen verstaubten, abgenutzten Buchdeckel unter ihrer Schürze, die sie gewöhnlicherweise im Wirtschaftsraum trug, hervor und reichte ihn Verginia. Dann fuhr sie in ihrer Rede fort: "Ich sagte dir seinerzeit: Nach drei Jahren gebe ich dir den Deckel eines alten Buches, nach sieben Jahren die papiernen Blätter dazu, nach fünfzehn Jahren die Schrift darauf und dazu einen runden Leib Brot aus reinem Gold. Doch wertvoller als alles Gold dieser Welt wird das Buch dir sein. - So bewahre denn den Deckel deines Lebens gut..."
Verginia nahm den Deckel enttäuscht entgegen. Nichts als dieser schäbige Deckel vom traurigen Anblick soll mein ganzer Lohn mir sein...? Nun, ich habe nicht Berge von Gold noch Tragkörbe an Geschmeide erwartet, aber dies allein... Die Alte schien Verginias Gedanken erraten zu haben, denn sie sprach weiter: "... dieser schäbige Deckel vom traurigen Anblick soll dein ganzer Lohn nicht sein! In vier Jahren erhältst du die papiernen Blätter dazu und in zwölf Jahren die Schrift dazu und obendrein einen runden Leib Gold!" Die Alte bemerkte Verginias Enttäuschung wohl und fuhr fort: "Bedenke, bevor du allzu vorschnell dein Urteil fällst, dieser alte Deckel enthält dein Leben!"
Danach wandte sich die Alte von Verginia ab und ging ihrer gewöhnlichen Beschäftigung einen Tag nach Johannis nach. Sie füllte eine bläulich glitzernde Flüssigkeit aus einem kleinen Wassereimer in winzige Fläschchen ab, wobei sie eine Berührung mit dem geheimnisvollen Wasser auf das sorgfältigste vermied.
Auf ihrem Zimmer betrachtete Verginia ihr Geschenk. Es erschien ihr arg schäbig und ihrer Dienste unwürdig zu sein. Trotz der mahnenden Worte der Alten legte sie den Deckel achtlos beiseite, da sie auf ihm nur die verwaschenen Buchstaben einer fremdartigen Schrift entdecken konnte. Die Buchstaben oder Zeichen schienen vor Zeiten aus Blattgold aufgetragen worden zu sein, aber sie hatten im Laufe der Zeit an Glanz und Material eingebüßt. Außerdem schien ihre Reihenfolge durcheinander geraten zu sein: Die dglnnVwraeu dre nnpSei. Bei scharfem Hinsehen konnte man auf der Rückseite des Deckels das Symbol einer Kreuzspinne, die auf einer Windrose sitzend, nach Osten blickte, entdecken. Da Verginia mit diesem seltsamen Geschenk nichts anzufangen wusste, legte sie es achtlos unter das Kopfkissen ihres Bettes. Sie beschloss, die absonderliche Schrift später genauer zu erforschen und vergaß bald darauf das Geschenk als Lohn der Alten.
A.D. 1893, im vierten Jahr ihres Aufenthaltes bei der Alten, saß Verginia fünf Tage nach Johannis auf der Plattform des Turms bei ihrer Lieblingsbeschäftigung, der Turmschau. Es war eine schöne, milde Nacht, und der Vollmond schien so hell, dass man unschwer den Kreisboten ohne Kerzenlicht hätte lesen können, als Verginia eine schlanke Gestalt über den Sumpf kommen sah. Diese bewegte sich zwar vorsichtig, doch zügig dem Turme zu. Es musste sich um eine junge Person handeln, da die Fortbewegung derselben bei aller Vorsicht eine anmutige Eleganz aufwies. Dieselbe hüpfte und tanzte von einem festen Halt auf dem schlüpfrigen Pfad zum nächsten. Verginia beobachtete mit wachsendem Erstaunen das bezaubernde Spiel der jungen Glieder. Als die Person einmal das Gesicht dem vollen Mond zuwandte, entfuhr der stillen Beobachterin auf der Spitze des Turms ein leiser Laut des Entzückens. Die Gestalt zeigte sich als ein junges Mädchen mit langem schwarzen Haar und Verginia stellte sich sogleich vor, dass diese auch dunkle Augen und eine samtbraune Haut im hellen Sonnenschein vorzeigen konnte. Augenblicklich entstand in ihr der Wunsch nach einer Freundin, die sie so lange hatte entbehren müssen. Mit ihr würde sie die ungute Stille des Turms mit lustigem Geschwätz füllen können. Verginia versank in Träumereien. Als sie wieder über den Sumpf blickte, war das dunkle Mädchen verschwunden. Erschrocken fuhr sie von ihrem Sitz empor und blickte über den Rand des Turmes hinab. Dort lag das Mädchen am Fuße der blauschwarzen Turmmauer im nebelnassem Gras, und neben ihr stand die seltsame Alte, ihre Herrin. Leises Gemurmel der Alten drang bis zur Lauscherin in der Turmspitze vor, doch so sehr Verginia auch ihre Ohren anstrengte, so wenig vermochte sie ein Laut der Alten zu verstehen. Plötzlich verstummten die leisen Laute, die Alte hob das wie tot daliegende Mädchen empor und trat - unwillkürlich entfuhr Verginia ein kleiner Laut des Schreckens - mit ihrer leichten Last direkt durch die basaltschwarze steinerne Wand des rätselhaften Turms. Dabei beobachtete sie bläuliche Entladungserscheinungen, ähnlich dem Elmsfeuer an den Mastspitzen der Seeschiffe oder den Irrlichtern, die des Nachts im August über den Sumpf tanzten. Nach wenigen Augenblicken der Besinnung eilte Verginia von ihrem Beobachtungsplatz die verborgene Treppe zu ihrem Zimmer hinab. Dort drehte sie die furchteinflößende Spinnengestalt am Kopfende ihres Bettes rechtsherum, um den versteckten Aufgang wieder zu verschließen. In der Aufregung spürte sie den geringen Widerstand des Anschlags nicht und drehte das Spinnenrelief über seine normale senkrechte Stellung hinaus, bis der grausige Spinnenkörper gänzlich nach Osten wies, während der volle Mond sich noch im hoch im Westen zeigte. In diesem Augenblick fuhr ein Zittern durch das riesige Bett und unter Ächzen und Knarren bewegte es sich auf Verginia zu. Diese schrie erschrocken auf, denn sie meinte, das ungeheure Möbel habe nichts anderes im Sinn, als sie an die Mauer zu drücken und umzubringen. Doch etwa drei Fuß vor der schreckensbleichen Verginia blieb das Bett knirschend stehen und gab den Blick auf den Fußboden frei. Neugierig umging Verginia das Bett, trat einige Schritte vor und blieb erstaunt stehen. Vor ihr lag eine Wendeltreppe aus reinem blauen Licht, die in die Tiefe führte und so intensive Strahlen aussandte, daß das Mädchen die Augen eine Zeitlang schließen musste. Als sie diese wieder öffnete, konnte sie außer der Lichttreppe nichts erblicken, was ihrer weiteren Aufmerksamkeit gelohnt hätte. Zögernd trat sie noch zwei, drei Schritte vor und berührte endlich mit der rechten Fußspitze die Treppe aus reinem blauen Licht. Doch nichts geschah. Weder erschlossen sich ihrem forschenden Blick neue Eindrücke, noch änderte sich ihre Umgebung. Verginia verlagerte das ganze Gewicht ihres Körpers auf den rechten Fuß und betrat, als die Lichttreppe sich als fest und sicher erwies, diese ganz. Da fuhr ein leichtes Zerren und Ziehen durch alle Glieder, und im selben Augenblick befand sie sich in einer hohen runden Halle. Suchend schaute das Mädchen sich um, gleichwohl konnte sie die blaue Treppe nicht mehr entdecken. Zögernd trat sie einige Schritte vor. Das schwachblaue Licht, das die Halle bisher erhellt hatte, verstärkte sich daraufhin soweit, dass Verginia die Halle erkunden konnte. Allem Anschein nach hielt sie sich genau im Mittelpunkt der kreisförmigen Grundfläche des Turmes auf. Erst jetzt, nach mehr als drei Jahren Aufenthalt im Turm, bemerkte sie die riesigen Ausmaße des Bauwerks. Fast zwanzig Schritte benötigte Verginia bis sie die kalte Außenwand des Turmes berührte. Als ihre tastende Hand die Mauer entlang fuhr, spürte sie unzählige klebrige Fäden, wie sie diese stets im Turm bei ihrer gewöhnlichen Arbeit zu entfernen hatte. Doch diese Fäden sollten allem Anschein nach etwas verbergen. Unter deren klebrigen Festigkeit spürten ihre Fingerspitzen einen menschlichen Körper, der hinter dem Gespinst gefangen war. Verginia dünkte, als höre sie ein ewiges Seufzen und Klagen, und ihr schien, als hätte sie dieses Seufzen und Klagen schon einmal gehört. Plötzlich hörte sie ein scharrendes Geräusch vom gegenüberliegenden Punkt der Halle. Eng drückte sie sich an die kühle Wand, da sie kein Versteck erblicken konnte. Ihr gegenüber öffnete sich die Wand, und die Alte vom Turm betrat den riesigen runden Raum. Das bläuliche Licht verstärkte sich weiter, und Verginia erblickte zu ihrem Schrecken, daß die Alte einen widerstandslosen Mädchenkörper mit sich trug. Sie legte ihre willenlose Last an der Wand ab, dabei schien ihr das blaue Licht zu folgen. Im Schein dieses Lichtes beobachtete das Mädchen Verginia eine genauso geheime wie grausige Zeremonie. Die Alte holte eines von den geheimnisvollen Fläschchen aus den Falten ihres Gewandes und besprengte die hilflose Gestalt damit. Dann tanzte sie im wiegenden Auf und Ab in einem fremden, unruhigen Takt. Langsam verformte sich dabei der Körper der Alten. Er verdickte sich und rundete sich, schnürte sich in der Mitte ein und beharrte sich mit dunklen Borsten. Aus der Seite wuchsen zwei weitere Gliedmaßenpaare mit Greifklauen an den Enden, der Kopf zog sich in die Brust zurück, und auf dem Rücken erschien ein verwaschenes weißes Kreuz. Nach wenigen Augenblicken war die Verwandlung abgeschlossen, und eine riesige Kreuzspinne wiegte sich auf ihren vier Beinpaaren, von blauem Licht umspült, vor der hilflosen Gestalt. Die Spinne krümmte ihren runden Leib vor dem fremden Mädchen und stieß ungeheure Mengen an Spinnseide aus ihren Afterdrüsen. Sie hob den Körper des Mädchens mit den mittleren Beinpaaren empor und begann mit Hilfe der Hinterbeine, das Mädchen unter raschen Drehungen mit klebrigen Fäden zu umwickeln, bis aus dem Mädchen ein grauweißer Kokon geworden war. Diesen klebte der furchterregende Spinnenspuk in halber Höhe an die blaufelsige Wand. - Bevor das blaue Licht schwächer wurde und der entsetzliche Schrecken sie endgültig übermannte, sah Verginia zu ihrem tiefen Entsetzen, daß die runde Wand des Turmes mit dicken Spinnweben bedeckt war, in denen zahllosen grauweiße Kokons hingen. Und wieder vermeinte sie das ewige Jammern und Klagen zu hören. Dann nahm eine tiefe Ohnmacht sie gnädig auf.
Als Verginia wieder zu sich kam, war ihr kalt, und ihr Körper wurde wie von Fieberschauern geschüttelt. Sie erhob sich mühsam und versuchte sich zu orientieren. Das Mädchen blickte sich um und stellte fest, dass sie sich noch immer in der schaurigen Zeremonienhalle der Spinnenfrau befand. Verginia überlegte: Dieses musste das ihr verbotene zweite Stockwerk sein. Also besaß der Turm den Vorratskeller, der ihren leiblichen Bedürfnissen diente, den Wirtschaftstrakt im Erdgeschoss, den ersten Stock mit dem Zimmer der Alten, den dritten Stock mit ihrem Zimmer und die Aussichtsplattform an der Spitze. Dazwischen, also unter dem Fußboden ihres Raumes, musste die Zeremonienhalle, die den grausigen Bedürfnissen der Alten diente, liegen. - Aber wie sollte sie dieser Halle wieder entkommen? Sie begab sich im schwachen Schein des blauen Lichtes zurück in den Mittelpunkt der Halle. Hier blickte Verginia sich um. Auf dem Boden der Halle bemerkte sie das gleiche Spinnensymbol in Form eines Mosaiks aus braunen Steinen wie in ihrem Zimmer. Sie berührte das Abbild und bemerkte, daß die einzelnen Steine des Spinnenbildes beweglich waren. Das Spinnenbild zeigte nach Osten. Verginia legte die Steine so um, dass das Spinnenbild nach Westen zeigte. Als sie das letzte Steinchen einfügte, fiel ein blauer Strahl von der Decke herab auf das Spinnenbild und formte die blaue Leiter aus Licht. Das Mädchen betrat die Leiter erneut, spürte wieder jenes seltsame Zerren und Ziehen in ihren Gliedern und fand sich im selben Augenblick am Kopfende ihres Bettes wieder.
In diesem Augenblick beschloss Verginia, das fremde junge Mädchen, wenn sie noch lebte, zu befreien oder sie, falls die Alte sie getötet hatte, zu rächen und die Spinnenfrau zu bestrafen. Da sie nun den geheimen Zugang zur Zeremonienhalle kannte, dachte Verginia, daß sie schon Mittel und Wege finden würde, die Spinnenfrau zu überlisten. Doch zuerst musste sie auf den nächsten Vollmond nach Johannis warten. Denn nur zu Johannis ging die Alte über den Sumpf ins unferne Dorf, um sich mit jenem, für jedes Lebewesen tödliche Wasser zu versorgen. Der nächste Tag verlief ruhig, Verginia ging ihrer gewöhnlichen Tätigkeit im Turme nach, sammelte Spinnweben, bestellte Waren bei den Dörflern mit Hilfe des herabgelassenen Körbchens und wartete auf den Aufgang des Mondes. Als die Alte im Turm nirgends zu hören oder zu erblicken war, schlich sich das Mädchen in ihr Zimmer und drehte hastig den Leib des Spinnenreliefs dem Mondbild entgegengesetzt nach Osten. Wieder baute sich die Treppe aus blauem Licht auf, und mit deren Hilfe gelangte Verginia in den verbotenen zweiten Stock, in welchem sich die Zeremonienhalle der Spinnenfrau befand. Dieses Mal bewegte sich sofort zu den Wänden aus blauem Urgestein. Auch hier kam ihr das blaue Licht zu Hilfe. Es verstärkte sich, sobald sich Verginia bewegte und folgte ihr nach. Als sie nach etwa zwanzig kurzen Schritten die harte Wand erreichte, erblickte sie zu ihrem Kummer einen Kokon dicht neben den anderen. Das bedeutete, eingedenk der Tatsache, daß die Spinnenfrau den Turm nur einmal im Jahr verließ, daß die Alte ihr Unwesen schon seit Jahrhunderten betreiben mußte. Wahrscheinlich war es unbemerkt geblieben, weil sie weit entfernt wohnende Mädchen zum Dienst anzulocken wusste und sich neuerdings sogar des Kreisboten und des Annoncengeschäfts bediente. Außerdem hielt die Furcht vor der geheimnisvollen Alten und ihre eigene Geldgier die umliegenden Dörfler im Zaum. Langsam schritt Verginia die runde Wand des Turmes ab. Hinter den grauweißen Kokons hörte sie Jammern und Klagen, Seufzen und Ächzen: "Erlöse uns! Erlöse uns!" So meinte das Mädchen die Stimmen zu hören. Suchend passierte sie Kokon um Kokon, und leise zählte sie mit: "Einhundertelf, einhundertzwölf..., einhundertneunundneunzig..." Da stutzte Verginia plötzlich. Der Kokon vor ihr schimmerte heller als die anderen, das blaue Licht glänzte auf den starken Spinnfäden. Könnte dieser Kokon frisch gesponnen sein? So müsste hinter diesen weißen Fäden ihre neue Freundin gefangen sein! - Doch wie sie erkennen, wie sie retten? Vorsichtig berührte sie die schimmernden Fäden, sie klebten kaum noch. Hinter den Fäden konnte Verginia im blauen Licht eine schwache Bewegung wahrnehmen. Wer bist du? Was ist mit mir geschehen? Wo bin ich? - Hilf, oh, hilf mir! So hilf mir doch, erklang die flehendliche Bitte eines Wesens aus dem Kokon in Verginias Gedanken. Es war der zweihundertste Kokon. Also trieb diese Spinnenfrau seit nun zweihundert Jahren ihr Unwesen in diesem Turm. Furcht und Wut, Entsetzen und Zorn durchtobten Verginias Sinne, drohten ihr die klare Überlegung zu rauben und machten den Wunsch nach Rache und Vergeltung übermächtig. Doch zuerst wollte sie das Wesen im Kokon trösten und beruhigen. Hier ist Verginia vom Turm... , begann Verginia ihre Geschichte zu erzählen. Als sie meinte, das Vertrauen des Kokonmädchens gewonnen zu haben, fragte sie das Mädchen nach den Umständen seines Lebens und erfuhr richtig, daß es das Mädchen vom gestrigen Abend gewesen war. Sie war Tänzerin in einem Wanderzirkus gewesen, aber das Brot hatte nicht für alle gereicht. Daher hatten ihre Eltern sie in einen vornehmen Dienst schicken wollen, und so war die jährliche Anzeige der Alten gerade recht gekommen. Es war eine traurige Lebensgeschichte, und beide Mädchen weinten. Da das fremde Mädchen, ihr Künstlername war Francesca, ihren Taufnamen hatte sie vergessen, keinen Hunger oder Durst nach der Zeremonie der Alten verspürt hatte, vereinbarten die beiden Mädchen, dass Verginia sich zuerst bei den anderen Mädchen nach deren Befinden und Schicksal erkunden sollte. Doch wie entsetzte sich Verginia, als sie von Kokon zu Kokon schritt. Jeden Abend kam die Spinnenfrau zu den Kokons, versprühte das geheimnisvolle Wasser über einen davon, schlug ihre Mandibeln in die hilflosen Körper und begann an ihren Lebenssäften zu saugen. Zwar spürten die Gequälten keinen Schmerz, aber die Kraft der einst so starken Körper verging von mal zu mal. So geschah zu Verginias großem Leid, daß einige Kokons stumm blieben. Und sie befürchtete, dass die bedauernswerten Geschöpfe der teuflischen Gier der Spinnenfrau zum Opfer gefallen waren.
Verginia kehrte zu ihrer neuen Freundin zurück und versprach, auf Abhilfe und Rettung zu sinnen. Bevor sie Abschied nahm, zerrte und riß sie an den starken Fäden der Spinnenfrau, aber das Gespinst war für ihre schwachen Kräfte zu dicht und mächtig gewebt. Das Mädchen konnte den Kokon nicht öffnen oder gar zerstören. So nahmen die beiden Mädchen weinend Abschied von einander. Verginia versprach ihrer neuen Freundin, sie nicht zu vergessen, sondern Tag und Nacht auf deren Rettung zu sinnen.
Als Verginia wieder auf ihrem Zimmer weilte, dachte sie an die zweihundert Kokons mit ihrem schrecklichen Inhalt und verstand ihr eigenes Schicksal nicht. Warum hänge ich nicht in einem Kokon an der Wand der Zeremonienhalle und vergehe von Tag zu Tag ein bisschen mehr? Warum diene ich nicht diesem Scheusal zur Speise? So dachte das Mädchen hin und her, aber es fand des Rätsels Lösung nicht. Was ist bei mir denn so anders, dass ich diesem grausamen Schicksal entging? Warum nannte die Spinnenfrau die alte, harmlose Muhme ihre Feindin? Warum verschonte die Spinnenfrau mich, warum gerade mich? So rätselte das Mädchen Verginia Tag um Tag. Des Nachts tröstete sie ihre Freundin im Kokon und alle anderen, die noch Antwort gaben. Doch es gab Tage, da verstummte die eine oder andere Stimme übers Jahr. Verginia fand heraus, das für ein Kokonmädchen vom Tag ihrer Gefangennahme bis zum Verstummen ihrer Stimme genau sieben Jahre lagen, sieben Jahre in diesem entsetzlichen Zustand ohne Hoffnung auf Befreiung von der Scham, nichts weiter als ein lebendiger Lebensmittelvorrat einer schaurigen Spinnenexistenz zu sein.
Es verging ein Jahr um das andere nach der Gefangennahme Francescas, und Verginia fand keine Lösung für den Kummer ihrer Freundin und deren Leidensgefährtinnen. Eines Tages erzählte ihr Francesca, daß die Spinnenfrau nun auch bei ihr gewesen war. Verginia erschrak auf das heftigste und versprach, sich nächste Nacht in der Nähe zu verbergen, um die Spinnenfrau bei ihrem grausamen Tun zu beobachten. In der kommenden Nacht begab sich Verginia schon früh in die Zeremonienhalle und verbarg sich so gut sie konnte zwischen den Kokons. Sie drückte sich eng an die kalte Mauer aus blauem Fels und wartete auf die Spinnenfrau. Diese machte sich durch eine Verstärkung des blauen Lichtes bemerkbar, schon bevor sie durch die Wand trat. Als sie auf den Kokon der Freundin zutrat, glaubte Verginia sterben zu müssen. Hass und Ekel auf dieses monströse Lebewesen drohten sie zu überwältigen. Ihre Gefühle geboten ihr, aus dem bergenden Versteck zustürzen, sich auf diese teuflische Kreatur zu werfen und sie mit bloßen Fäusten zu vernichten. Aber ihr Verstand siegte über ihr Gefühl und gebot ihr, kühl zu beobachten, ob sie nicht eine Schwäche an diesem Wesen entdecken könne. Wiederum besprühte die Spinnenfrau ihr Opfer mit dem Wasser aus dem Brunnen des Dorfplatzes, bevor sie sich endgültig ihrer Beute näherte. Dabei vermied sie sorgsam, von dem Wasser getroffen zu werden. Nach der Zeremonie verwandelte die Spinne sich wieder in die alte Frau und verließ den Raum auf die gleiche geheimnisvolle Weise. Verginia beschloss, nach dem verborgenen Wasser zu suchen und seine geheimen Eigenschaften zu entdecken. Nachdem sie ihre von Ekel halb wahnsinnige Freundin getröstet hatte, verließ sie die Zeremonienhalle und begab sich auf ihr Zimmer. Irgendwo lag die Lösung bereit, Verginia meinte, sie müsse sie nur vom Fußboden aufheben wie ein verlorenes Buch. Nun hatte Verginia zwar kein Buch, aber immerhin einen Deckel davon. Da erkannte das Mädchen einen Weg zur Lösung ihres Kummers. Sie suchte unter ihrem Kopfkissen nach dem Lohn des alten Weibes für drei Jahre Dienst und fand auch richtig den vergessenen Buchdeckel mit den seltsamen, durcheinander geratenen Schriftzeichen. Sie beschaute sich die Zeichen noch einmal:
Die dglnnVwraeu dre nnpSei. Was mochten sie bedeuten? Da entsann sie sich der alten Muhme, die durch die Armut ihres Herrn zu allerlei Wissen gekommen war. Sie hatte ihr Wissen an Verginia weiter gegeben und schelmisch dabei gesagt: "Es wird dich vor bösen Spinnen bewahren!", und dann hatte sie über ihre eigene Rede gelacht. Seltsamerweise sprach die alte Muhme trotz ihrer Armut mehrere Sprachen und viel fremdes Volk, daß die Pfarrei ihres ehemaligen Herrn passierte, hatte sich darüber sehr verwundert. Insbesondere, wenn die Muhme mit harten Worten unfreundliche Leute in deren eigenen Mund vom Hofe ihres Herrn gejagt hatte. "Was redest du da?", hatte ihr armer Herr sie oft gefragt, und die Muhme hatte lachend gesagt: "Aber lieber Herr Pfarrer, das habt ihr selbst mich doch gelehrt!" Doch der alte Pfarrer war kopfschüttelnd vom Hof der Pfarrei gegangen und hatte dabei gemurmelt: "Aber ich weiß doch gar keine slawischen Sprachen..., ich kann sie nicht einmal sprechen!" Erst heute kam das Benehmen der Muhme seltsam vor, früher hatte sie die Kenntnisse der Muhme immer als selbstverständlich hingenommen.
Als sie den Deckel hin und her drehte, fielen plötzlich leere mattgelb glänzende Blätter heraus, zweihundertsieben an der Zahl. Doch wie Verginia sie auch wendete, alle Blätter waren leer, kein Schriftzeichen war darauf zu erkennen. Es war der Lohn für sieben Jahre Dienst im Turm. Wieder und wieder betrachtete Verginia die Schriftzeichen. Da begannen diese sich plötzlich in ihrem Kopf zu ordnen. Ja, das könnte die Lösung sein. Auch die Alte war verflucht und hoffte auf Erlösung. Deshalb dieser seltsame Lohn in Form eines alten Deckels mit leeren Blättern darin. Die Buchstaben ergaben den Titel des Buches, das der Deckel und die leeren Seiten einst beinhaltet hatten.
Achtlos warf Verginia das Buch auf die Bettdecke und eilte umgehend die Treppe zum Keller hinab. Im Wirtschaftsraum erwartete sie die Alte. Mit herrischem Ton fragte sie: "Ei, ei, mein Liebchen! Wohin des Wegs so eilig? - Willst wohl Spinnennahrung suchen, wie?!" Dabei kicherte sie greulich. Ihr Körper wand sich beständig und Klauenhände wuchsen aus ihrer Seite. Die menschliche Form der Spinnenfrau drohte unstabil zu werden. "Nein, nein!", antwortete Verginia hastig, "ich habe vergessen, den Keller zu säubern! Und ich möchte Ihnen aufs beste und aufmerksamste dienen!" "So, so mein Liebchen, dienen willst du mir..., aufs beste dienen? Nun, da weiß ich eine gute Lösung! Am besten dienst du mir als Speise!" Dabei streckte sie ihre Klauenhände nach Verginia aus und kreischte in den höchsten Tönen aufs Grausigste.
Unbedacht stürzte Verginia die Kellertreppe hinunter, das Kreischen der Spinnenfrau verhallte hinter ihr. Im Vorratskeller angekommen, überlegte sie, was sie zur Abwehr dieses entsetzlichen Wesens und zur Rettung ihrer Freundin und der anderen Mädchen unternehmen könnte. Was aber könnte allen Rettung bringen?, so dachte Verginia verzweifelt. Was hatte vor Jahren der Wirt noch gesprochen? War da nicht eine Warnung vor der Alten vom Turm, und hatte er ihr nicht alle Geschichten erzählt, die man im Dorfe über das seltsame Wasserholen der Alten am Tage nach Johanni kannte? Ganz besonders hatte er Verginia auf das beklagenswerte Schicksal des Viehs hingewiesen, welches das Wasser zu sich genommen hatten und eines grausigen Todes gestorben waren? Und jedwedes Lebewesen, das diese Tränke genossen hatte, war unter den entsetzlichsten Qualen nach wenigen Stunden gestorben. Doch unter Schaudern hatten die betroffenen Landleute berichtetet, daß die Kadaver der Tiere wenige Sekunden nach deren letzten Todeszuckungen eine graue Färbung angenommen hatten. Kurz darauf wären sie als armseliger Aschenhaufen der Arbeit des Stallbesens anheim gefallen... Ja, so hatte der Wirt gesprochen... Das Wasser! Es musste das Wasser sein, das die Alte für ihr teuflisches Handwerk benötigte und gleichzeitig fürchtete! Geschwind sah sich Verginia im Kellergeschoss um. Sie hörte die Alte die Treppe hinabsteigen. Die Spinnenfrau schrie nicht mehr, aber ein seltsam fremdes Rauschen und Trippeln drang den Gang hinab an des Mädchens Ohren. Es war, als kämen nicht zwei Beine die Treppe herunter, sondern vier Beinpaare trügen die Alte näher und näher. Angsterfüllt durchforschten Verginias Blicke die zahlreichen Gestelle und Borde des Vorratsraumes. Plötzlich sah sie in einer verschwiegenen Abseite ein kleines, braunes Schränkchen mit einem seltsamen fünfblättrigen Rosette auf den Türen. Irgendwo hatte sie dieses Symbol schon einmal gesehen..., doch wo nur, wo? Eiskalt überkam Verginia die Angst vor einem Schicksal als Kokonmädchen der Alten. In ihrem Rücken spürte sie die riesige Gestalt der Spinnenfrau. Ihre Klauenhände griffen schon nach ihr, da sprang Verginia mit einem Riesensatz der Verzweiflung bis zu dem kleinen braunen Schränkchen und riß die Türen mit den fünfblättrigen Rosetten auf. Am Brunnen..., am Brunnen des Dorfes habe ich das Symbol gesehen!, schoss ein Gedanke noch durch ihren Kopf, als sie die richtig im Schränkchen vermuteten Fläschchen mit dem bläulich glitzernden Wasser griff. Sie zerschlug den Hals eines der Glasgefäße und warf den Rest mit der Flüssigkeit nach dem riesigen Ungeheuer, das sich vor ihr aufgestellt hatte. Eine monströse Kreuzspinne stand im Begriff ein frisch gesponnenes Netz mit den vorderen Beinpaaren über sie zu werfen, als das Wasser des Teufelbrunnens ihre Brustplatte traf. Ein Zittern fuhr durch das mit schwarzen Borsten bedeckte Geschöpf. Es rührte sich schier endlos dehnende Augenblicke nicht, dann wankte die furchterregende Gestalt, stürzte zu Boden und zerfiel zu einem Häuflein grauweißer Asche. Noch zitternd vor Angst und Schrecken kehrte Verginia die Asche zusammen und schüttete sie in das neben dem braunen Schränkchen stehende Eimerchen. Dann nahm sie ein weiteres Fläschchen aus dem Schränkchen und goß das bläuliche Wasser über die Reste der Spinnenfrau. Ein schauriger Schrei fuhr zum letzten Mal durch das stille Gewölbe, das Wasser wallte auf, und die Asche löste sich in Nichts auf. In der Luft schwebte das Gesicht einer uralten Frau, der Muhme ähnlich. Es lächelte und Verginia hörte die leisen Worte: "Danke! Dank für deinen Mut! Nimm den versprochenen Lohn, er liegt in deinem Zimmer bereit. Befreie die Mädchen mit dem Wasser, doch vergiss nicht das Spinnensymbol am Kopfende deines Bettes nach oben zu drehen!" Langsam wurde die Erscheinung blasser und verschwand wie ein dünner Nebel in der Wand des Turmes.
Verginia verharrte lange Zeit reglos und stumm an der selben Stelle. Ihr Blick blieb unbewegt an der blauschwarzen Turmwand haften. Des jungen Mädchens übererregten Sinne waren wie betäubt, und nur langsam kehrte ihr Geist aus diesem schlimmen Alptraum ins Leben zurück. Es mochte mehr als eine Stunde vergangen sein, bis Verginia sich zu regen begann. Sie raffte alle Fläschchen mit dem rätselhaften Wasser in ihre Schürze und verließ den Vorratskeller. Das Mädchen eilte umgehend in ihr Zimmer, denn all ihre Gedanken galten jetzt ihrer unglücklichen Freundin Francesca und den anderen einhundertneunundneunzig Kokonmädchen. Im Zimmer angekommen, suchte ihr Blick zuerst das Spinnensymbol am Kopfende ihres Bettes. Doch Verginia erschrak heftig, denn sie vermeinte, anstatt des Spinnenkopfes das Gesicht der Alten vom Turm zu erkennen. Sie überwand tapfer ihre erneut aufkommende Furcht, griff beherzt nach dem Relief und drehte das Spinnensymbol nach Osten zu. Doch nichts geschah. Erschrocken hielt sie inne. Heute, am Ende des Monats war Neumond. Erst in vierzehn Tagen, Mitte des Monats, würde der Vollmond am Sommerhimmel stehen. Entmutigt setzte Verginia sich auf das Bett. Auf der Decke lag noch immer das Buch mit den leeren Seiten. Doch wie erstaunte das Mädchen, als sie das Buch in die Hand nahm und goldglänzende Schriftzeichen sich zu sinnvoller Inschrift formten:
Die Verwandlung der Spinne.
Neugierig schlug sie den Deckel auf und fand die einst leeren Seiten des Buches nun beschrieben. Auf der zweiten Umschlagseite fand sie ihren Namen, Verginia vom Turm, und die Jahreszahl a.d. 1872, dem Jahr ihrer Geburt. Der erste Teil des Buches beschrieb ihr Leben von der Geburt bis zu ihrem Tod im Jahr 2079 durch die Hand eines jungen Mädchens mit dem Namen Verginia. Im zweiten Teil fand sie Beschreibungen seltene Pflanzen zur Heilung jedweden Übels der Seele und des Körpers. Der dritte Teil enthielt nur den Satz: "Gewidmet der zweihundertachten Verginia vom Turm, die nach dir und allen anderen kommt." Am Ende des Buches führte ein vierter und letzter Teil alle Lebensdaten von zweihundertundsechs Verginia vom Turm auf, beginnend vierzigtausendsiebenhundertundfünfundvierzig Jahre vor der Zeitrechnung.
"Nein, nein und abermals nein!", schrie da Verginia, "Es muß ein Ende haben! Es ist genug! Es ist genug, zweihundertsechs mal zweihundertundsieben Jahre genug! - Darum hat sie mich verschont! Ich bin die zweihundertsiebte Verginia vom Turm, und ich werde diesen Jammer für immer beenden!"
Verginia fastete vierzehn Tage lang. Danach nahm sie das blaue Wasser zur Hand, drehte das Spinnensymbol nach Osten und betrat die Treppe des blauen Lichts. In der Zeremonienhalle besprengte sie den Kokon Francescas ausgiebig mit dem blauen Wasser. Das Gefängnis aus Spinnenweben zerfiel und gab das gequälte Mädchen frei. Überglücklich umarmten sich die Freundinnen und schworen, sich nie wieder zu trennen. Dann besprengten sie nach und nach die anderen Kokons und befreiten die Mädchen. Doch zu ihrem großen Kummer waren siebenundsiebzig der Kokons leer, nur ein wenig weiße Asche fand sich unter ihnen. Hier hatte die Spinnenfrau gesiegt. Über die blaue Treppe führte Verginia die Mädchen in die reichbestückten Vorratskeller der Alten. Bei gutem Essen und Trinken waren bald alle wohlauf und probierten die neuen Kleider, die Verginia in den Jahren angesammelt hatte. Da hallte fröhliches Geschwätz und Lachen durch den diskreten Turm, und alles Unglück schien vergessen. Doch Verginia mahnte zur Eile, sie wollte den unheiligen Turm der Verdammten noch in derselben Stunde verlassen, da das Glück der Mädchen unfassbar schien.
Sie besprengte die Wand des Turmes mit dem Rest des Wassers, worauf diese sich öffnete und die Mädchen in die Freiheit entließ. Verginia aber eilte in ihr Zimmer und drehte das Spinnensymbol nicht nach oben, wie ihr das die letzte Erscheinung der Spinnenfrau geboten hatte, sondern senkrecht nach unten. Kaum war das Symbol in dieser Stellung eingerastet, ging ein Zittern durch das Bauwerk. Verginia eilte die steile Treppe hinunter und verließ den Turm durch den schmalen Spalt, den das blaue Wasser geschaffen hatte. Als sie die anderen Mädchen erreichte und sich umdrehte, sah sie, wie der Turm langsam im Sumpf versank. An seiner Stelle entsprang eine klare Quelle und füllte einen flachen See, den jedermann, der diese Gegend bereist, noch heute bewundern kann.
Verginia führte die Mädchen ins Dorf zurück. Doch wie verwunderte sie sich, als der Wirt aus seinem Hause trat und sie fragte, ob sie den Turm der Alten verfehlt habe, da sie vor kaum einer Stunde sein Haus verlassen habe. Doch Verginia war klug und antwortete, daß es im Sumpf keinen Turm gäbe, und sie sich sein Angebot habe wohl durch den Kopf gehen lassen. Es gefiele ihr sehr gut und übers Jahr werde man weitersehen. Der Wirt bat sie und die anderen Mädchen freudig in sein Haus und bewirtete sie mit allen Köstlichkeiten die Keller und Räucherkammer hergaben. Danach trennten die Mädchen sich, ein jedes wollte zu seinen Lieben zurück. Sie herzten und küßten sich zum Abschied und beschlossen, jedes Jahr bei Verginia ihre Wiedergeburt zu feiern. Doch nur Francesca kehrte Jahr um Jahr zu ihrer Freundin zurück und konnte so deren neues Glück an der Seite des Eichenwirtes miterleben.
Der unheilige Brunnen aber war versiegt, und jedermann mied den neuen See, solange, bis niemand mehr dessen Geschichte kannte.
Diese Märchen aus dem Wendland erzählte Echtanon
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