Süddeutsche Zeitung

Unsere Kernprodukte

Im Fokus

Partnerangebote

Möchten Sie in unseren Produkten und Services Anzeigen inserieren oder verwalten?

Anzeige inserieren

Möchten Sie unsere Texte nach­drucken, ver­vielfältigen oder öffent­lich zugänglich machen?

Nutzungsrechte erwerben
Aus der ehemaligen jetzt-Community: Du liest einen Nutzertext aus unserem Archiv.

Wenn einem die Treue Spaß macht, dann ist es Liebe

Text: xerl
"Treue ist eine Tugend, die die Verlässlichkeit eines Akteurs gegenüber einem anderen, einem Kollektiv oder irgendeiner Sache ausdrückt. Sie basiert auf Vertrauen und/oder Loyalität, ist aber nicht unbedingt ein Indikator dafür, dass sie einen würdigen Gegenstand hat."

Wikipedia





Was soll diese Seite?



Ich stoße aus privaten Grunden im Web auf sehr viele Aussagen von Frauen zum Thema Treue. Pluralismus ist eine tolle Sache, aber wenn sich der Eindruck einstellt, dass zu viele Leute zu dumme Ansichten haben, dann wird es belastend. Ich verfasse diese Seite teils zur persönlichen Verarbeitung dieses charakterlichen und intellektuellen Grauens und teils, um immer eine brauchbare Erläuterung meines Standpunkts zur Hand zu haben.



Wenn hier ohne weitere Erläuterung von "Treue" die Rede ist, dann ist immer sexuelle Treue, Monogamie, gemeint. Ich bin beim Verfassen dieser Seite über eine Umfrage gestoßen, wo Untreue anfange. In etwa dies waren die Antwortmöglichkeiten:



  • An einen Dritten denken
  • Händchen halten
  • Zungenkuss
  • Oralsex
  • Geschlechtsverkehr
Man mag es kaum glauben (wenn man diese Seite zu Ende gelesen hat), aber meine Antwort darauf ist "Händchen halten". Ich finde Händchenhalten natürlich nicht schlimm, aber das liegt daran, dass ich Untreue nicht schlimm finde, nicht etwa daran, dass es keine Untreue wäre. Es mag – im Gegensatz zu den drastischeren Punkten – Ausnahmen geben, aber im allgemeinen ist Händchenhalten ein intimer Kontakt, der körperliche Zuneigung ausdrückt. Wenn es dabei bleibt, dann wohl nur deshalb, um keinen Ärger zu riskieren, aber man wird im allgemeinen nicht mit jemandem Händchen halten, den man nicht auch küssen und vögeln würde.



Auf der anderen Seite erscheint es mir total albern, das Denken an einen Dritten als Untreue auszulegen, denn wenn man nicht einmal daran denkt, muss man sich nicht zusammenreißen. Das ganze Thema Treue ist aber daraus entstanden, dass man sich zusammenreißen muss. Natürlich lassen sich auch hier lustige Grenzfälle konstruieren: Ist es Untreue, wenn jemand beim Masturbieren nicht an den Partner denkt, weil das Kopfkino mit Dritten stimulierender ist? Würde irgend jemand seinen Partner deswegen verlassen? Und wenn nicht: Warum eigentlich nicht? Der Partner will unbedingt die Nachbarin vögeln. Er tut es nur deshalb nicht, weil er ja treu sein muss und deshalb anderenfalls rausflöge. Was kann man sich denn für diese Treue kaufen, die in der Angst vor den Konsequenzen, nicht aber in der Liebe begründet ist? Wie sieht Treue, die in der Liebe begründet ist, eigentlich aus? Verspürt man dann kein Verlangen mehr, liebt also nicht (mehr richtig), wer die Nachbarin begehrt? Wenn man der Partnerin vermeintlich aus Liebe den Schmerz ersparen will (wenn es rauskommt), dann ist auch das nur die Angst vor den Konsequenzen. Man könnte die Nachbarin pimpern und trotzdem weiter die Partnerin lieben. Vielleicht denkt der Partner sogar beim Sex an die Nachbarin. Wenn das alles OK ist (und nicht nur an der Nichtüberprüfbarkeit scheitert), scheint Treue eine sehr körperliche Geschichte zu sein und so gar nichts mit Emotionen zu tun zu haben. Schon merkwürdig, dass etwas so Krass-Emotionales wie Liebe etwas So-Unemotionales wie die rein körperliche Treue mit sich bringen soll, "selbstverständlich". Da erscheint es mir naheliegender, dass Treue nichts anderes als eine billige Ego-Politur ist, die schon bei kurzem Nachdenken ziemlich hässliche Flecken bekommt.





Das große Missverständnis



Erschreckend oft wird mir mitgeteilt, für diejenige sei "Treue die Basis einer Beziehung". Das ist natürlich aus vielerlei Gründen abwegig. Niemand kann eine Beziehung auf Treue aufbauen. Das würde bedeuten, dass derjenige quasi mit jedem eine Beziehung eingehen könnte, solange der andere ihm bloß treu ist. Eine schwachsinnige Vorstellung. Genausogut könnte "die Abwesenheit von Mundgeruch" als "Basis einer Beziehung" bezeichnet werden.



Ebefalls gern belacht in diesem Zusammenhang, der Zusatz "sonst brauche ich keine Beziehung". So kann man die Welt natürlich auch sehen, dass man dann eine Beziehung eingeht, wenn man möchte, dass einem jemand treu ist. Ich dachte immer, man geht eine Beziehung ein, weil man denjenigen liebt und den Kontakt auf eine "höhere", exklusive Ebene heben will. Beides hat mit Sex erst mal nichts zu tun. Die Bedürfnisse, die eine Beziehung stillt, sind eben nicht sexueller Natur.





zwei Gruppen von Kriterien



Treue ist kein positiver, sondern ein rein negativer Aspekt; er fällt nur auf, wenn er fehlt (oder bezweifelt wird). Da Treue ein binäres Kriterium ist, kann man auch nicht "treuer" sein als der Konkurrent. Treue kann im allgemeinen nicht einmal verlässlich erfasst werden. Wie kann denn "Basis einer Beziehung" sein, was man sich nur einredet? In der Sprache des Qualitätsmanagements ist Treue ein Basiskriterium. Wird es nicht erfüllt, fällt das Produkt durch. Erfüllung bringt keine Pluspunkte (im engeren Sinn). Was eine Beziehung ausmacht, entspricht den Leistungskriterien: Aspekte, die nicht bloß zweiwertig sind, sondern über ein breites Spektrum ausgeprägt sein können:



  • Liebe/Verliebtheit
  • Kommunikationsfähigkeit
  • Verständnis füreinander
  • Übereinstimmung der Weltanschauungen
  • Konfliktfähigkeit
  • Kompatibilität der Charaktere
  • Übereinstimmung/Zueinanderpassen der persönlichen Ziele und Lebensplanung
  • Sex (um ihn mal politisch korrekt am Schluss zu nennen, haha)
Das "Aufsummieren" dieser – (überwiegend) unmittelbar erlebbaren! – Eigenschaften zeigt, ob eine Basis für eine Beziehung vorhanden ist.



Fazit: Treue ist niemals Basis einer Beziehung, sondern nur ein Hinderungsgrund.





Herkunft der Treueforderung



Warum erwarten die meisten Menschen hierzulande Treue von ihrem Partner? Weil sie so sozialisiert wurden. Warum wurden Sie das? Weil Treue für sehr lange Zeit "rechtlich" alternativlos war. Man muss sich nur in Erinnerung rufen, wie die degenerierten Muslime in manchen Teilen der Welt mit Ehebrechern umgehen. Und selbst in den – an (nord- und mittel-)europäischen Verhältnissen gemessen geradezu theokratischen – USA war Ehebruch in einzelnen Bundesstaaten bis vor wenigen Jahrzehnten ein first class sex crime, auch wenn er praktisch kaum so geahndet wurde. Wer früher einfach mal Sex haben wollte, war fast schon tot. Das wurde auf der anderen Seite (man blicke wiederum auf die Kultur, die unserer – ganz stolz – mehrere Jahrhunderte hinterherhinkt) durch die Jungfräulichkeitsbesessenheit bestärkt, die wohl zu einem kleinen Teil den biologischen Hintergrund der Kuckuckskind-Angst hat, aber vor allem auf die Betrachtung von Frauen als Ware zurückgeht, die als besserer Hausrat eben nicht "beschädigt" sein durften. Welch Gottesgeschenk die Natur doch den denkbehinderten Patriarchen mit dem kleinen überprüfbaren Umstand gemacht hat.



Auch wenn Treue auf Kriminalisierung von Sexualität und die Unterdrückung der Frau basiert, kann sie – so ganz theoretisch – natürlich an sich trotzdem "gut" sein. Aber: Wenn sie nicht gut ist, lässt sich ihre Bedeutung heutzutage leicht aus der unseligen Historie erklären:



Der Bundesgerichtshof stellt noch 1961 fest, dass Sex nur im Ehebett stattfinden darf: "Die moralische Ordnung fordert, dass körperliche Beziehungen zwischen den Geschlechtern grundsätzlich sich nur in monogamen Ehen vollziehen, da Zweck und Ergebnis dieser Beziehung das Kind ist." Außereheliche Gemeinschaften sind also verboten. Wer ein unverheiratetes Paar beherbergt (und sei es nur für eine Nacht), macht sich nach dem sogenannten Kuppelei-Paragrafen strafbar (endgültig abgeschafft erst 1973): bis zu fünf Jahre Zuchthaus. Nicht für Vergewaltigung, sondern weil andere wegen einem (leichter) gewollten Sex haben konnten.





Was nützt sie?



Da so viele Menschen ihren Anspruch auf Treue derart betonen und Verstöße derart sanktionieren (die typische Beziehung ist durch einen bekannt gewordenen Seitensprung in Gefahr), müssen sie sich irgendwas davon versprechen. Was kommt dafür in Frage?



  • Sie fühlen sich gedemütigt, insbesondere bei Bekanntwerden gegenüber Dritten, und möchten dies vermeiden.
  • Es gibt – wie zu allen Zeiten – gesellschaftlich gestatteten Sex und den anderen. Wobei "Sex" da durchaus im weitesten Sinne zu verstehen ist. Heute kann man auch in der Öffentlichkeit zu Oralverkehr stehen und darf seine bessere Hälfte auch von hinten nehmen. Fortschritt. Aber alles hat Grenzen. Von ganz hinten? Das ist wohl der aktuelle Grenzbereich zwischen geht und geht nicht. Latexklamotten, Auspeitschen, Gruppensex, Anpinkeln, exotische Fantasien – das geht nicht.
  • Die meisten Menschen haben vermutlich große Hemmungen, irgendwas davon ihrem Beziehungspartner gegenüber anzusprechen, wenn das vorher nie ein Thema war. Den reinen Liebhaber kann man damit ruhig erschrecken, wenn der abhaut, wird er ersetzt. Aber wie reagiert der Partner? Ich vermute, dass es bei Treue denselben Reflex gibt wie bei den beispielhaft genannten Aktivitäten, die eben offiziell bäh sind: Jeder weiß, was bäh ist und was nicht, und deshalb spricht man darüber gar nicht erst. Deshalb wird Treue "als selbstverständlich vorausgesetzt" – denn wer weiß, was dabei herauskäme, wenn man doch darüber spräche...
  • Sie sehen sexuelle Aktivitäten als Beleg dafür, dass ihr Partner sie nicht mehr liebt.
  • Die haben Angst davor, dass der Partner zu einem Dritten, der anfangs nur Sexualpartner war, eine emotionale Bindung entwickelt, die ihre Beziehung gefährdet.
  • Sie wollen nicht das Risiko eingehen, dass ihr Partner sich Krankheiten einfängt.
  • Sie wollen nicht das Risiko eingehen, dass ihr Partner anderswo besseren Sex bekommt und deshalb die Beziehung beendet.
  • Wenn der andere keine sexuelle Alternative hat, kann man ihn erpressen (vorausgesetzt, man selber hat den schwächeren Trieb). Wenn er nicht spurt, bekommt er keinen Sex.
  • Man möchte "irgendwas" exklusiv haben, weil man der exklusive Beziehungspartner ist. Natürlich nicht "irgendwas" in einem abfälligen Sinn, sondern das Kostbarste. Darunter macht es das eigene Ego nicht.
  • Man möchte den Schmerz des "Betrogenwerdens" vermeiden.
Was ist davon zu halten?



  • Wie man darauf reagiert, hat man selber in der Hand, nicht der Partner. Wer in Untreue "Betrug" sehen und sich aufregen will, der regt sich auf. Zwingende Gründe dafür gibt es nicht. Manche Leute kaufen sich ein unnötig teures Auto oder was auch immer, um die Nachbarn, Kollegen, Freunde zu beeindrucken. Dennoch wird es kaum jemand als selbstverständlich hinnehmen, dass man sein Geld verplempert, nur um irgendwo gut dazustehen. Analog: Dass man mit seinem ach so treuen Partner angeben will, ist sicher kein guter Grund. Zumal das nur gegen "offenes" Fremdgehen spräche. Wer selber kein Problem mit der Polygamie des Partners hat, muss sich von Dritten kein Problem damit einreden lassen. Denkbar ist auch, dass man nicht als Schlampe dastehen will, weil man den Partner geduldig fremdgehen lässt – und das dann wahrscheinlich auch selber tut. Die Zeiten, in denen das soziale Umfeld entschied, wie man Sex haben durfte, sollten allerdings vorbei sein.
  • Die Angst, die dadurch beherrscht werden soll, ist verständlich, aber nicht zu Höherem geadelt. Wir haben nur das eine Leben. Es nicht im Rahmen des Legitimen voll auszukosten, nur weil man damit den Ansprüchen Dritter, die einem das Verpasste nicht ersetzen können (nicht mal wollen), ist dumm. Von seinem Partner zu erwarten, es nicht voll auszukosten ist tyrannisch.
  • Es ist natürlich inhärent abwegig, Untreue zu verbieten, weil man darin das Ende der Liebesbeziehung sieht. Da sich die meisten Menschen ab und zu zusammenreißen müssen, um nicht untreu zu werden, müssten die alle in Beziehungen stecken, in denen die Liebe auf der Strecke geblieben ist. Das ist ebenso abwegig wie es peinlich wäre, das Ende der Liebe erst dann zu erkennen, wenn der andere fremdgeht. Die Variante, dass man dem Partner Untreue nicht verbietet, aber sie als Zeichen des Endes seiner Liebe interpretiert, bedeutet, dass man Sex und Liebe verwechselt. Sex setzt keine Liebe voraus, ebenso setzt der Wunsch nach Sex nicht das Nichtbestehen einer Liebesbeziehung zu irgendwem sonst voraus. Das zu behaupten, wäre weltfremd und anmaßend. Dass man selber so empfindet (was man im voraus gar nicht wissen kann), bedeutet natürlich nicht, dass der Partner genauso empfindet – insbesondere dann nicht, wenn der dem anderen Geschlecht angehört. Welchen Wert hat eigentlich eine Liebesbeziehung, deren (Noch-)Bestehen der Partner nicht sicher feststellen kann?
  • Das Anliegen ist verständlich, aber jemandem mit dem Ende der Beziehung zu drohen, weil man Angst hat, dass er aus der Beziehung ausbrechen könnte, ist nicht mal mehr als kindisch anzusehen. Der einzige objektive Gehalt dieses Ansatzes ist, dass eine Beziehung bei Treueforderung viel kaputter sein muss, damit der Partner fremdgeht (wenn er Nutzen und Risiko seines Verhaltens denn sauber durchkalkuliert und nicht einfach, menschlich, irrational handelt) und er nicht schon in einer perfekten Beziehung dieser Gefährdung ausgesetzt wird. Je besser die Beziehung, desto alberner ist das Argument der Gefährdung.
  • Ein verständliches, aber vermutlich nachrangiges Argument, zumal dieses Risiko vernachlässigbar ist, wenn man sich nicht gerade unverantwortlich verhält.
  • Vermutlich ist den braven Mitmenschen klar, dass der Sex mit ihnen Erleichterung verschafft, aber vom Gipfel der menschenmöglichen Ekstase aus nicht mal mehr in Sichtweite ist. Aber was erscheint dann sinnvoll: den Sex zu verbessern oder den anderen von besserem Sex fernzuhalten? Eine Beziehung kann man nicht allein auf Sex aufbauen und wird sie auch nicht allein deswegen beenden. Wenn es einem woanders besser besorgt wird, hat man meines Erachtens keinen Grund, die eigene Beziehung anzuzweifeln, wenn man einerseits versuchen kann, den Beziehungspartner entsprechend zu "qualifizieren" und andererseits den Kick nebenbei weiterhin haben kann. Wenn der Unterschied zwischen den beiden Bettgenossen kleiner wird, wird die Affäre irgendwann langweilig. Wenn der Beziehungspartner nicht damit umgehen kann, dass er nicht der weltbeste Liebhaber ist (warum sollte ausgerechnet er mit seiner prüden Einstellung das auch sein?), sein Partner zeitweilige anderswo besser befriedigt wird und in der Beziehung deshalb vielleicht auch weniger Sex stattfindet als sonst, muss er sich fragen lassen, was die Alternative ist. Soll sein Partner auf besseren Sex verzichten, nur weil er selber es nicht besser hinbekommt? Wenn der Wille fehlt, an sich zu arbeiten, dann muss man dem anderen seine Ausflüge eben gönnen. Natürlich kann man sich nicht alles erarbeiten, irgendwann stößt man an körperliche Grenzen, die einen von den Besseren trennen. Wenn man aber nicht damit zufrieden ist, dass beide das Beste aus ihren Möglichkeiten machen und sich den erweiterten Kick anderswo holen, dann ist das nichts anderes als Missgunst. Im allgemeinen wird die nicht als hehre Motivation angesehen.
  • Ebenso verbreitet wie abartig. Dazu ausführlich weiter unten.
  • Als Beziehungspartner hat man sowieso das Kostbarste exklusiv: nämlich Liebe, die Beziehung. Wer sich der Liebe des anderen vergewissern muss, indem er sich was auf dessen erzwungene Treue einbildet, der scheint die Liebesbeziehung an sich nicht besonders spektakulär zu finden.
  • Dieses Argument ist von anderer Art als die bisherigen, da es in Ursache und Wirkung allein im Betrachter liegt. Dass man nicht mit unerwünschten Ereignissen konfrontiert werden möchte, liegt schon in der Definition. Das hat erst mal gar nichts mit Sex zu tun. Dass man vom Partner verlangt, einen nicht zu "verletzten", ist selbstverständlich. Das Problem liegt hier im Charakter der Verletzung. Jeder hat Ansprüche, wie mit ihm umgegangen werden soll. Der eine toleriert und akzeptiert mehr als der andere. Objektive Grenzen sind da schwer zu ziehen. Das spezielle Problem der Treueforderung liegt darin, dass ein Partner meint, er könne nur dann glücklich und zufrieden sein, wenn der andere sich einen erheblichen Nutzen verkneife. Dass dieses Verkneifen ganz schön anstrengend sein kann, wissen die meisten. Zudem lastet es permanent auf den Betroffenen. Da erscheint es legitim, mal zu fragen, wie viel Anstrengung die Treue fordernden auf sich nehmen, um über diesen Punkt nachzudenken. Welchen Grund hat man, sich wegen Sex gekränkt zu fühlen? Wie viel Aufregung ist gerechtfertigt? Und tut die einem überhaupt gut, speziell die möglicherweise permanente Eifersucht? Ist das eigene Verhalten vielleicht sogar kontraproduktiv, wenn man sich die großen Ziele einer Beziehung ansieht?
Was schadet sie?



  • Sie zerstört eine Menge Beziehungen, von denen viele ansonsten gut funktionieren. Und um mal den Kapitalisten raushängen zu lassen: Das verursacht über getrennte Haushalte und Unterhalt einen gigantischen volkswirtschaftlichen Schaden, außerdem natürlich den menschlichen, wenn Kinder da sind. (Nein, ich behaupte nicht, dass Beziehungen überwiegend wegen Untreue in die Brüche gehen.)
  • Sie belastet die meisten Beziehungen durch mehr oder weniger ausgeprägte Eifersüchteleien.
  • Sie beschert in aller Regel beiden Partnern ein deutlich suboptimal spannendes Sexleben. Die Annahme, man könne problemlos mit nur immer demselben Partner über viele Jahre ein aufregendes Liebesleben haben, ist weltfremd.
  • Vermutlich verhindert sie auch das Zustandekommen mancher Beziehungen.
  • Sie lenkt von den wirklich wichtigen Aspekten einer Beziehung ab.
Verhältnismäßigkeit



Wie viel Aufwand ist es, sich eine gute Beziehung zu erarbeiten? Wie viele Gelegenheiten bekommt man im Leben dafür? Und was ist die einem wert?



Ich stelle mir folgendes Szenario vor:



  • Man fragt jemanden, wie es gerade um dessen Beziehung bestellt ist, und die Antwort ist: alles super.
  • Dann erfährt derjenige, dass sein Partner Sex mit jemand anderem hatte. Freiwillig. Voller Begeisterung. Aber nur Sex, kein Fremdverlieben.
  • Obwohl sich im realen Miteinander der beiden nichts geändert hat, findet derjenige seine Beziehung plötzlich scheiße und spielt mit dem Gedanken, sie zu beenden. Um es deutlicher zu sagen: Es ist immer noch so, dass die beiden prima zueinander passen, sich eine gemeinsame Zukunft vorstellen können, auf tolle gemeinsame Jahre zurückblicken. Das ist ein Umstand, der – wie alle leidvoll wissen – nicht systematisch reproduzierbar ist. Der einzige Unterschied zum Vortag ist, dass derjenige nun weiß, dass sein Partner etwas gemacht hat, das an sich in keiner Weise verwerflich ist: Er hat Sex gehabt.
Wenn man sich mal dumm stellt und die Situation ganz naiv betrachtet, heißt das folgendes:



  • Das Wegwerfen einer – im Prinzip – tollen Beziehung erscheint demjenigen als das kleinere Übel verglichen damit, sich mit der Untreue zu arrangieren.
  • Den Riesenaufwand, eine vergleichbare Beziehung aufzubauen (in der der neue Partner natürlich treu ist, haha), erscheint demjenigen besser, als sich mit der Untreue zu arrangieren.
  • Derjenige ist so blöd, dass er nicht kapiert, dass er in jeder Beziehung damit rechnen muss, dass es zu unabgesprochenen Monogamiebrüchen kommt.
Ich finde Sex wirklich wichtig. Aber wird durch so eine Reaktion die Wichtigkeit von Sex nicht "etwas" übertrieben? In welchem Verhältnis stehen mehrere Jahre Beziehung zu ein bisschen Geschlechtsverkehr? Zumal Sex ja bei Liebenden offiziell zumeist "gar nicht so wichtig" ist. Sehr viele Leute gehen eine Beziehung ein, obwohl der Sex nicht so wahnsinnig gut ist. Kann man verstehen, denn neben Liebe ist Sex einfach nicht bedeutend. Aber ausgerechnet der Sex mit anderen, der kann wichtig sein?



Man muss wohl sagen, dass es gar nicht um Sex geht. Es geht um das eigene Ego: "Du hast nicht gemacht, was ich Dir gesagt habe. Jetzt gibt es Ärger!" Genauso könnte man mit dem Beziehungsende drohen, wenn der Partner mal grüne Socken anzieht. Die Freiheit hat jeder. In Deutschland darf jeder dem Schwachsinn freien Lauf lassen. Er muss sich dafür nicht rechtfertigen, er muss nicht einmal darüber nachdenken. Das ist eh viel bequemer. Und passt auch gut ins Bild, schließlich findet man die vehementesten Monogamievertreter in der Kirche, für die das Nichtdenken gewissermaßen konstitutiv ist.



Die spannende Frage ist nun: Will man eine Beziehung mit jemandem, der in existentiellen Fragen schwachsinnige "Entscheidungen" trifft? Das ist natürlich eine Frage für den Anfang der Beziehung.





Rechte und Pflichten



Einen fundamentalen Punkt dieses Problemfelds habe ich noch nie irgendwo wahrgenommen (immerhin habe ich ihn mal im Radio verbreitet): Wer Treue fordert, verlangt damit die Entscheidungsgewalt darüber, wann, wie oft und wie der Partner Sex hat: "Dein Schwanz gehört mir!" Ja, wo leben wir denn? Das muss natürlich nicht die Folge sein, aber ist es denn so, dass diejenigen, die Treue fordern, sich als kleinen Ausgleich dafür, was der Partner verpasst, "verpflichten", sich stets um sein sexuelles Wohl zu kümmern? Davon habe ich noch nie gehört. Wovon ich viel höre, ist, dass die Sexfrequenz in Beziehungen mit der Zeit abnimmt und dass das einen Großteil der Betroffenen stört. Nun liegt es im Wesen einer Beziehung, dass man nicht weiß, wie sie sich entwickelt. Zudem wird wohl in den allerwenigsten Beziehungen am Anfang über solche Dinge gesprochen. Auch über Treue nicht, denn die ist ja "selbstverständlich".



Woraus könnte die moralische Pflicht erwachsen, sich in einer Beziehung Sex zu verkneifen? Um das Ego des anderen zu polieren? Man hat mal für ein paar Monate weniger Lust als sonst. Dann hat der Partner eben Pech gehabt, oder wie? Der Partner muss sich zusammenreißen, er darf sich nicht bei der Nachbarin abreagieren, aber man selber muss sich überhaupt nicht zusammenreißen, sondern entscheidet nach Gutdünken und Bequemlichkeit, wie oft der Partner Sex haben darf und wie gut der für ihn ist? Der eine soll eine reale, objektive Unannehmlichkeit auf sich nehmen, damit dem anderen die Auseinandersetzung mit seiner imaginären, selbst eingeredeten Unannehmlichkeit erspart bleibt?



Das ist krank.





Vertrauensbruch



Dass Untreue als Vertrauensbruch gesehen wird, erscheint verständlich. Niemand hat es gern, dass andere ihr Wort nicht halten.



Für eine brauchbare Würdigung der Problematik muss man aber auch hinterfragen, ob es legitim ist, auf dieses Wort zu vertrauen, das zumeist gar nicht explizit gegeben, sondern nur erwartet wird. Denn fordern kann man, wie eingangs erwähnt, alles, auch das Nichttragen grüner Socken. Ein Vertrauensbruch kann im allgemeinen nicht gewichtiger sein als Tat selber. Wenn man also anerkennt, dass die Treueforderung an sich aus substantiellen Gründen unsinnig ist, dann kann man dem Partner seine Untreue nicht aus dem formalen Grund des Vertrauensbruchs unter die Nase reiben.



Der Vertrauensbruch ist also aufzurechnen gegen die permanente Zumutung der Forderung. Und sollte sich das Sexleben des Paars zuungunsten des Fremdgehers verändert haben, kann man den Vertrauensbruch komplett vergessen, denn das Vertrauen des anderen in seine sexuelle Befriedigung auf dem ursprünglichen Niveau hat der später "betrogene" Partner zuvor schon gebrochen. Natürlich liegt es nahe, sich mit dem Partner darüber zu unterhalten, wenn das Liebesleben abflaut, aber einerseits ist das wohl kaum immer von Erfolg gekrönt, wenn sich der beziehungstypische Rückgang des Interesses einstellt, und andererseits mutet es merkwürdig an, dass der Treue fordernde sich bequem passiv zurücklehnen kann und das Privileg genießen soll, dass der andere Protest anmeldet. Das geht nur, wenn man die Einstellung hat, einseitig fordern zu können, ohne dafür irgendwas liefern zu müssen.





Statistik



Es gibt natürlich allerlei Umfragen zum Thema – eine unsystematisch ergoogelte Auswahl:



  • G-Netz: Für 41% der deutschen Männer und 45% der deutschen Frauen sind Seitensprünge absolut tabu. --- 20% aller Frauen und 22% aller Männer in Beziehungen sind schon mal fremdgegangen. --- Wenn es trotz Treueschwur zum Seitensprung kommt, sind immerhin 22% der deutschen Männer, jedoch nur 16% der deutschen Frauen in der Lage, ihrem Partner zu verzeihen. --- 40 Prozent der unter 30-Jährigen betrachten ein erfülltes Sex-Leben als Voraussetzung für eine gut funktionierende Partnerschaft.
  • GfK: Sieben von zehn Bundesbürgern (72,3 Prozent) gaben bei der Umfrage an, sich auf die Treue ihres Partners verlassen zu können, sei für sie beim Sex besonders wichtig.
  • Parship: Wie eine Single-Befragung der Partneragentur Parship zeigt, kann jeder vierte Single auf Treue verzichten.
  • Emnid: Treue ist für 82 Prozent der Deutschen wichtiger als aufregender Sex. --- 61 Prozent ist klar, dass Untreue in einer langjährigen Beziehung vorkommen kann. --- Ebenso viele sind sicher, dass ein Seitensprung immer der Anfang vom Ende sei. --- Für 43 Prozent der Deutschen ist ein Seitensprung danach sogar Grund genug, die Beziehung sofort zu beenden.
  • GfK: Sechs von zehn Deutschen würden sich von ihrem Partner trennen, wenn sie von einem Seitensprung erfahren.
  • ElitePartner: Für die unter 30-Jährigen ist Treue ein absolutes Muss: 70 Prozent von ihnen legen großen Wert darauf. --- Bei den über 55-Jährigen ist dies nur bei jedem Zweiten der Fall.
  • The Observer: Jeder fünfte Brite hält nichts von Treue in der Partnerschaft. --- Dabei nehmen sich Frauen und Männer nicht viel bei ihrer Einstellung. --- Ein Drittel der 16- bis 24-Jährigen sei grundsätzlich der Meinung, Monogamie entspreche nicht der Natur des Menschen.
Hmm, der Alterszusammenhang in England ist genau umgekehrt zu dem in Deutschland?



Ab welchem Untreueanteil ist es eigentlich objektiv unsinnig, eine Beziehung einzugehen, wenn man Treue fordert und Untreue als Grund ansieht, die eigene Beziehung zu beenden? Bei 100% Untreueanteil müsste man darüber nicht diskutieren. Wer "Unmögliches" fordert und elementar bewertet, macht sich lächerlich. Bei einem kleineren Anteil spekuliert der Treuefordernde darauf, dass seine Beziehung zu den 100-x% gehört, in denen nicht fremdgegangen wird. Wo ist die Grenze, ab der es nicht mehr albern ist?





Sprüche



Was man oft so hört...



Wenn einem die Treue Spaß macht, dann ist es Liebe.



Das ist eine ziemlich dumme Behauptung. Formal bedeutet Treue zwar nur, dass man nicht untreu wird, aber im allgemeinen Sprachgebrauch geht man davon aus, dass dies kein sich zufällig oder automatisch einstellender Zustand ist, sondern dass er gegen die eigenen Triebe erkämpft werden muss. Es wäre ja schon arg albern, sich etwas darauf einzubilden, dass der eigene Partner einem treu ist, wenn der nie Lust auf jemand anderen hat. Das ist allenfalls ein Grund, sich im Wortsinne auf sich selber etwas einzubilden, wenn denn der Grund für die fehlenden abschweifenden Gelüste des Partners ist, dass man selber so eine Granate im Bett ist. Aber auf den Partner und seine Treue kann man sich dann nichts einbilden.



Der praxisrelevante Teil ist, dass man sich die Erfüllung seiner Wünsche verkneift, um treu zu bleiben. Ich versteige mich zu der Behauptung, dass dieses Verkneifen niemals Spaß machen kann. Deshalb finde ich die obige Behauptung dumm. Man kann stolz darauf sein, treu geblieben zu sein, aber das ist nicht dasselbe wie Spaß. Man ist auch stolz darauf, seine Diät, sein Sportprogramm, sein Lernpensum und den Putzplan eingehalten zu haben – dennoch käme niemand auf die Idee zu behaupten, das mache Spaß. Der Unterschied ist zeitlicher Natur: Auch wenn es keinen Spaß macht, etwas (nicht) zu tun, kann es hinterher "Spaß machen", dies (nicht) getan zu haben. Es macht also keinen Spaß, jetzt treu zu sein (denn man könnte ja gerade die Nachbarin...), sondern nur, dem Partner bis zumindest gestern treu gewesen zu sein (denn im nachhinein kann man die Nachbarin ja nicht mehr...).



Mir scheint, dass diese Formulierung vom Problem ablenken soll. Man tut so, als sei der Treuezwang nicht unangenehm, sondern im Gegenteil angenehm. Warum sollte dann also noch jemand untreu sein sollen? Bleibt die Frage, wie es um die Liebe von denjenigen bestellt ist, denen ihr Treuezwang keinen Spaß macht. Müssen die sich nun Vorwürfe machen, weil sie nur Liebe zweiter Klasse empfinden?



Treue sollte selbstverständlich sein.



Klar, denn begründen können/wollen sie es ja nicht... Es ist anstrengend, sich mit diesem Thema zu befassen. Deshalb macht es vermutlich kaum einer.



Treue und Ehrlichkeit...



Diese Kombination begegnet mir auch oft; welch ein Lacher. Was verträgt sich denn weniger mit Ehrlichkeit als die Ideologie, die hinter der Treueforderung steht, die den schönen Schein über alles hebt?



"Warum hast Du gerade der Frau hinterhergeguckt? Stehst Du etwa auf sie???" – "Neeeeeeeeeiiin......."



Warum sollte man ehrlich sein, wenn abschweifende sexuelle Begierde, die durch die Forderung nach Treue als existent anerkannt ist, so negativ konnotiert ist? Natürlich ist Ehrlichkeit nicht auf das Thema Sex beschränkt, dennoch wirkt es auf mich extrem unreflektiert, zwei so widersprüchliche Forderungen zu erheben.



Aber vielleicht schätze ich die Treueverfechter auch ganz falsch ein. Vielleicht sieht die Realität ganz anders, etwa so aus: "Schatz, mir ist da heute eine Granate über den Weg gelaufen, das glaubst Du nicht... Und ich bin nach hartem Kampf standhaft geblieben!" – "Oh, toll! Du bist einfach mein Bester..."





Ist dann etwa alles erlaubt?



Um Missverständnissen vorzubeugen: Die Forderung nach Treue abzulehnen, bedeutet natürlich nicht, dass "alles" erlaubt ist. Der Primat des Umgangs in einer Beziehung ist liebender Respekt. Ich lehne die Treueforderung ab, weil ich sie respektlos finde. Ebenso lehne ich natürlich alles andere ab, das (in meinen Augen) respektlos ist.



Vereinbaren kann man alles, die Menschen sind arg unterschiedlich. Im allgemeinen fände ich es aber respektlos, vor den Augen des Partners den hübschen Kerl abzulutschen, der einem gerade über den Weg gelaufen ist. Den Partner in der Öffentlichkeit mit Untreue zu kompromittieren ist genauso daneben wie jedes andere Kompromittieren. Man muss nicht jedem erzählen, dass der Partner neulich die Unterhose falsch herum angezogen, keinen hochgekriegt hat, zu früh gekommen ist, einen Orgasmus gesehen hat, wo keiner war usw. Das geht keinen Dritten was an. Schon gar nicht in Anwesenheit des Partners. Da ist der sexuelle Umgang mit anderen als dem Partner nur ein weiterer Punkt. Und wenn der Partner das zwar akzeptiert, aber nichts davon wissen will, solange er nicht konkret fragt, dann behelligt man ihn damit auch nicht. Eine Frage des respektvollen Umgangs.







Ich wünsche allen Lesern eine glückliche, eifersuchtsfreie Beziehung und ein erfülltes Sexleben, das möglichst arm an Entbehrungen ist.

Mehr lesen — Aktuelles aus der jetzt-Redaktion: