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Handbuch des Soziopathen - Die Freheit

Text: melan
Nullus liber erit, si quis amare volet. (Properz)

Die Freiheit ist eine Muße, der sich der Soziopath gerne alleine hingibt. Er sitzt dann zuweilen in seinem Zimmer vor einem Kugelschreiber hebt ihn hoch, oder auch nicht, oder doch, oder doch auch nicht (oder schon?) und erfreut sich der Freiheit. Fast ist man gewillt zu glauben, jedem Soziopathen sei geholfen, setzte man ihn nur in ein Zimmer, alleine, wo er nach Herzenslust frei sein könne.

Aber, ach, früher oder später wird jeder Soziopath auf die Idee kommen, zum Beispiel die Schwerkraft zu überwinden, oder so. Und wie er da so liegt, die Nase blutig auf dem Parkett, sein Federbett wild flatternd, obwohl er es sich doch so fest vorgenommen hatte, stellt er fest: das Maß an Freiheit, das er für angebracht hält, das gibt es nicht.



Was sich auch nicht dadurch ändert, dass er immer wieder versucht: durch Wände zu gehen, „2 + 2 = 5“ zu beweisen, mehr in ein Gefäß zu füllen, als sein Volumen zulässt, mal wirklich zu testen, ob jedes Glas, das aus dem 5 Stock fällt zu Bruch geht, ob man an zwei Orten gleichzeitig sein kann, ob man sich selber in beide Augen gleichzeitig sehen kann, ob man sich schneller bewegen kann, als sein Spiegel oder ähnliches. Man hat schon Soziopathen deswegen weinen sehen.



Der Soziopath, dass muss man zugeben, hat einen etwas seltsamen, radikalen Freiheitsanspruch. Es geht im weniger um die Möglichkeiten, die das Leben so bietet, nicht um Demokratie und nicht, leider nicht um Kugelschreiber. Der Soziopath wäre am allerliebsten frei von Existenz.



Natürlich schämt er sich sofort dieses Gedanken (ob seiner Jämmerlichkeit!) und rammt sich zur Strafe den Kugelschreiber unter die Haut, aber so ganz kann er die Enttäuschung nicht abschütteln, auch wenn die Nase letztendlich wieder aufhört zu bluten.

Er tupft alles schön sauber und versucht dann einen neuen Tag in dieser rätselhaften Welt zu überstehen.



Hier gilt es, eine wichtige Unterscheidung zu machen: Der Soziopath ist nicht zu verwechseln, mit den Leuten, die sich so nach Nähe sehnen, dass sie – um es überhaupt zu ertragen – vorgeben, unter eben jener Nähe zu leiden. Dies sind Pseudo-Soziopathen. Wenn diese ihr Unbehagen dann in schlechter Pop-Literatur äußern, um durch allgemeines Mitleid, eben jene Nähe herzustellen, darf man sie auch getrost Soziosympathiker nennen. Ihre Leser heißen Soziosympartisanen. Aber nur wirklich böse Zungen sprechen in diesem Zusammenhang von NEON-Röhren.



Doch zurück zum echten, einzig wahren Soziopathen und seinem Problem. Da nämlich die Enttäuschung darüber, dass es nicht möglich ist, auf einem Einhorn zur Biene Maja zu reiten, um mit ihr über Hochschulpolitik zu diskutieren, so groß ist, dass auch jegliches Maß zu Beurteilung der Wirklichkeit für nichtig befunden wird. Wer das Land regiert wird auf einmal unwichtig Ob jetzt die Studenten streiken und mit den Eiern werfen, die die Tierschützer für schändlich handeln ist egal. Ob eine Demokratie einen Diktator anbombt, oder andersrum, ob Frauen geschlachtet und Küher vergewaltigt werden, Zwölfjährige eine Oma missbrauchen, oder Michael Jackson die Zwölfjährigen, wer – so fragt der Soziopath – möchte da urteilen, was richtig ist.

Der Soziopath ist meistens zu müde für eine Meinung.



Der Soziopath hat, auch wenn er sich gelegentlich darum bemüht, keine Grundlage für ein Ethisches Konzept. Vielleicht trägt daran auch die Tatsache schuld, dass des Soziopathen Lieblingsphilosophie der Zynismus ist. Der Soziopath ist deshalb ein starker Verfechter der Wiedereinführung eines rigiden Sittengesetzes. Denn erstens würde das mal Ordnung schaffen, und zweitens ist das wirklich großartige an einem Sittengesetz die damit geschaffene Freiheit, es zu brechen.

Und Freiheit, wie wir gelernt haben, ist des Soziopathen liebstes Kind.



Manchmal passiert es dem Soziopathen, dass er sich verliebt. Darüber redet er nicht gern, denn schließlich, würde das eine erheblich Beeinträchtigung seiner Freiheit bedeuten.



Aber, wenn er dann so daliegt, die Nase wieder blutig geschlagen, weil die Wand wieder solide war, wenn er so liegt, in den Scherben seines letzten Glases, wenn 2 + 2 wieder nur 4 ergab, und wenn er auch beim hundertsten Versuch nicht in einen Schuhkarton passte, wenn das Leben ihm also wieder mal so richtig ins Gesicht gekotzt hat, wenn er die ganze Sache mit der Freiheit für einen Moment total scheiße findet, wenn niemand mehr mit ihm reden will, weil er wieder Michael Jackson mit Hitler, Gerd Schröder mit einer Kuh und George Bush mit einem Zwölfjährigen gleichgesetzt hat, dann denkt er an denjenigen, der wenigstens versucht ihn zu verstehen.



Und dann in Blut, Scherben und aus freiem Willen, liebt er. Liebt, mit all seiner Angst, allein zu sein.

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