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Ein Stück Scheiße

Text: Steffbert
„Nein, wir schlagen unsere Kinder nicht“, sagt meine Mutter stolz und blickt mit triumphierendem Blick in die Runde. Eine kleine Gruppe Frauen mittleren Alters, die sich über das Thema „Erziehung“ unterhält.

Ich war gerade dabei meiner Mutter noch ein Glas Orangensaft zu holen (sie trinkt in der Öffentlichkeit keinen Alkohol, weil sie durch eine Allergie sofort überall rote Flecken bekommt), als ich diesen Satz höre.

Ich kann es kaum glauben. „Wir schlagen unsere Kinder nicht“. Das stimmt so nicht. Sicherlich übt meine Mutter keine physische Gewalt auf uns aus, aber psychische.

Jeder Nebensatz, jede Stichelei, jede Wirklichkeitsverdrehung, jedes Mal ist es ein Schlag ins Gesicht für mich. „Wir schlagen unsere Kinder nicht“ Dieser Satz dröhnt in meinen Ohren. Ich will schreien, mich auf den Boden werfen und um mich schlagen. Ich will mich wehren, aber ich kann es nicht. Soll ich in die Runde hinein sagen „Doch!“? Nein, das kann ich nicht tun, das werde ich nicht tun, aber ich würde es am liebsten.

Ich kann nicht verstehen, wie sie stolz darauf sein kann. Alle werden jetzt denken, dass wir ein harmonisches Familienleben führen, ohne Gewalt, voller Liebe. Aber das stimmt nicht.

Kleinigkeiten, die mich an den Rand des Wahnsinns führen.

„Hast du deine Tiere versorgt?“ Jeden tag derselbe Satz, mehrmals und das seit dreieinhalb Jahren. Es macht mich wahnsinnig. Es gibt mir das Gefühl, nicht als vollwertiger Mensch akzeptiert zu werden. Ich werde wie ein Kleinkind behandelt, dem man alles sagen muss.

Als ob das nicht schon genug wäre, erzählt sie meinen Verwandten dann, wie furchtbar es ist, dass ich Tiere halte….ich würde sie quälen, weil ich sie nicht füttere, nur, wenn sie mich erinnert. Ich stehe machtlos daneben. Ich will vor meiner Lieblingstante keinen Streit mit meiner Mutter anfangen. Auch vor allen anderen nicht, sie würden mir ja doch nicht glauben.



Ich bin überzeugt davon, dass meine Mutter sich selbst glaubt. Sie redet sich so lang ein, dass ich zu fett bin, bis sie es glaubt, dann erzählt sie es mir jeden Tag.

Ich bin nicht zu fett. Ich habe fast das Idealgewicht, vielleicht zwei oder drei Kilo mehr, aber das ist meiner Meinung nach in Ordnung, denn ich mag diese Heringe nicht, bei denen man unter dem dicken Pulli die rippen zählen kann. ICH BIN NICHT FETT!!! Aber das will sie nicht wahrhaben. Immer wieder sagt sie „du musst aufpassen, sonst bist du in einer Woche eine kleine Tonne“ oder sie sagt „Meine Güte, bist du dick geworden, da bin ja ich fast schlanker“. Das kränkt mich am meisten. Meine Mutter ist nicht schlank, sie ist dick, eine richtige Mutti eben. So, wie man sich eine Mutti vorstellt. Klein, dick, übertrieben fürsorglich und trotzdem so gemein und hinterhältig, als würde sie mit ihrem ärgsten Feind in einem Haus wohnen.

Kleine Sticheleien beim Essen: „Ach, du schaffst dein Abitur ja eh nicht, du bist einfach zu dumm“ Das stimmt nicht. Ich schaffe es vielleicht nicht so leicht wie manch anderer, aber ich werde es schaffen, davon bin ich überzeugt.

„Du hättest auf die Hauptschule gehen sollen, da wo deinesgleichen auch sind.“ Warum? Warum gerade auf die Hauptschule?

„Du hättest schon längst arbeiten gehen können, dann würdest du uns nicht mehr auf der Tasche liegen!“. Entschuldigung, dass ich auf der Welt bin, und dass du mich wolltest. Es tut mir Leid, dass ich von deinem Geld lebe, so wie es mir zusteht. Entschuldigung.

Ich will ausziehen, mein eigenes Leben führen, sehen, wie ich allein klarkomme, weg von diesen ständigen Beleidigungen.

„Das schaffst du eh nicht, dazu bist du viel zu dumm und viel zu faul. Du würdest dich umschauen, wenn du alleine leben würdest. Nein nein, das schaffst du nicht.“

Was soll ich denn nun? Ausziehen oder dableiben? Mich fettfressen, damit ich endlich mal den Wünschen meiner Mutter entspreche? Die Schule kurz vor dem Ziel abbrechen, nur damit sie zufrieden ist? Soll ich eine zweitklassige Arbeit suchen und in einer Zweizimmerwohnung in einem schlechten Wohnviertel leben? Wahrscheinlich wäre meine Mutter dann zufrieden, denn dann könnte sie auch öffentlich sagen „Meine Tochter ist dumm, sie ist fett und sie hat eine schlechte arbeit.“

Allerdings kann ich mir nicht vorstellen, warum eine Mutter ihrem Kind so etwas wünscht.

Warum tut sie das? Weil sie neidisch ist? Weil ich ein besseres Leben habe, als sie damals? Damals, als gerade der Fernseher in Mode kam? Als man sich noch für vier oder fünf Stunden am Abend im Tanzcafé vergnügte? Als gerade der Krieg vorbei war?

Ich weiß es nicht.

„Du hast keine Freunde!“ Wie kommt sie dazu, so etwas zu sagen? Sie kennt meine Freunde überhaupt nicht. Vielleicht gerade deshalb. Wer weiß. Sie möchte mir den Kontakt zu einigen Freunden verbieten, weil sie irgendwann vor tausend Jahren mal über drei Ecken etwas Schlechtes über sie gehört hat. „Aber vor sieben Jahren hat sie dir mal dein Pausenbrot auf den Boden geworfen, das weiß ich noch genau, das hast du erzählt.“ Ja sicher habe ich das. Aber man muss auch vergeben und vergessen können. Vor sieben Jahren. Ja, das kann sein, aber das weiß ich nicht mehr genau. Außerdem, was hat das bitte mit heute zu tun?

„Nein, du gehst heute nirgendwo hin, dein Zimmer ist nicht aufgeräumt!“ Was? Wie bitte? Nicht aufgeräumt? Mein Zimmer ist klinisch ein, bis auf den Teppich, denn drei Minuten nach dem Saugen sammeln sich bereits neue Fusseln von den Socken oder Haare auf dem Boden.

Ich muss mich selbst überzeugen. Ich muss es mit eigenen Augen sehen. Ich bin mir keiner Schuld bewusst. Ich erinnere mich an keine Unaufgeräumtheit. Ich öffne die Tür.

Mein Bett steht ordentlich gemacht an der Wand, die Tagesdecke glatt gestrichen auf der Bettdecke, daneben der Nachttisch, auf dem zwei CD-Hüllen liegen. Gegenüber der Schreibtisch. Ich habe ihn sofort als Übeltäter entlarvt, denn mein Parfum-Fläschchen steht darauf, sowie ein leeres Kerzenglas und auch zwei Schulmappen liegen dort. Das wird es sein.

Ich stelle meine Mutter zur Rede. Deshalb darf ich nicht gehen? Weil ich meine Schulmappen nicht in den Schrank geräumt habe, wo sie sonst hingehören?

Nein, nicht nur deshalb.

Das Rollo ist nicht ganz heruntergezogen aus der einen Schranktür hängt ein Zipfel von einem Blusenärmel, über einem der zwei Schreibtischstühle hängt außer meinem Mantel noch ein Pullover.

Ich bin überführt. Ich lebe in einem Saustall. Es fehlt nicht mehr viel und es fängt an zu stinken. Ich bin ein dreckiges Mädchen.

„Ja Mama, ich weiß, Entschuldigung, es kommt nicht wieder vor.“

Ich hasse mich dafür. Beim Essen erzählt sie, ich sei nicht in der Lage mich selbst zu versorgen, ich sei nicht in der Lage ein einzelnes Zimmer in Ordnung zu halten. „Und die will ausziehen?? Ich lach mich tot!“

Ich nicht. Ich will am liebsten heulen, aber ich kann es nicht.

Einmal habe ich geweint, da ist eine Nachbarin an Krebs gestorben, ich hatte sie sehr gemocht. Ich habe so sehr geweint, dass ich kaum essen konnte. Da war ich ungefähr sechs Jahre alt. Sie hat mich ausgelacht. Hat meinen Vater und meine Schwester dazugeholt. Mit dem Finger auf mich gezeigt und gesagt:“ Schaut euch die an, heult und kann kaum Essen, ist das nicht komisch?“ Dann hat sie gelacht. Meine Schwester auch. Aber sie war ja erst vier.

Minutenlang hörte ich dann ihr dreckiges Lachen, den Spott in ihrer Stimme. Darf ich nicht um einen Menschen trauern, den ich gern hatte?

Als mein Opa gestorben ist, konnte ich nicht weinen. Ich hatte Angst, sie würde mich wieder auslachen. Aber sie hat mich verachtet deswegen. Ich wäre gefühllos, ein kalter Klotz, kein Mensch, nicht Wert, am Leben zu sein.

Ich habe es falsch gemacht...

Aber es ist mir vollkommen egal. Ich mache alles falsch. Alles. Egal was ich tue, es ist falsch.

Decke ich den Tisch, räumt sie alles wieder weg, denn ich habe das falsche Geschirr benutzt, heute, aus unerfindlichen Gründen, muss es das andere Geschirr sein. Ich habe bis jetzt nicht herausgefunden, wann genau das so ist. Wahrscheinlich immer, wenn ich den Tisch decke.

Tue ich das nicht, werde ich als Schmarotzer bezeichnet, ich sei hier nicht im Hotel, ich müsste auch mit anpacken, ich wäre ein faules „Stück“. Stück. Wie das klingt. Unglaublich. Ich bin kein Mensch, ich bin ein Stück. Was für ein Stück? Ein Stück Holz? Nein, ein Stück Scheiße, wie meine Mutter zu sagen pflegt. Ich bin ein Stück Scheiße.

Das Stück Scheiße will nicht am Familienleben teilnehmen. Sagt meine Mutter.

Doch, eigentlich will ich das. Ich musste nur vor einiger Zeit aus der Diktatur ausbrechen. Ich war volljährig und dachte, naiv wie ich war, dass ich nun nicht mehr gezwungen war, um halb sieben morgens zu frühstücken, um zwei Mittag zu essen, um halb fünf Café zu trinken und um halb sieben zu Abend zu essen.

Ich konnte einfach meinen Tag nicht planen. Niemals konnte ich mich mit freunden(die ich ja eh nicht habe) treffen, denn wenn ich schon das Mittagessen ausfallen lassen wollte, dann musste ich wenigstens zum Café zu Hause sein. Niemals konnte ich machen, was ich wollte.

Seit ich nicht mehr so viel darauf gebe, ob ich nun zu den Essensgelegenheiten da bin, oder nicht, hasse ich ihrer Meinung nach meine Familie, ich bin verroht und durch den Umgang mit so genannten falschen Freunden so beeinflusst, dass ich gegen meine eigene Familie vorgehe. Nur weil ich mal nicht zum Essen da bin.

Aber es ist mir egal. Ich mache fast nur noch was ich will und höre mir gern die tausend kleinen Sticheleien an.

„Nein, Madam isst heute außer Haus bei falschen Freunden, aber lass mal, sie wird schon sehen, was sie davon hat.“

Ich bin stark, zumindest nach außen hin. Meine Schwester bewundert mich dafür. Sie flippt ständig aus, lässt sich auf sinnlose Diskussionen mit meiner Muter ein und fängt dann an zu weinen, ist stundenlang nicht ansprechbar.

Ich gehe einfach aus dem Raum, ich schlucke meinen Ärger, meine Wut herunter, ich reagiere nicht auf Anschuldigungen, die völlig aus der Luft gegriffen sind.

Aber eigentlich möchte ich schreien. Ich möchte um mich schlagen, ausbrechen, alles herausschreien, was sich über die Jahre angesammelt hat. Es ist zu viel und vor allem ist es zu spät. Ich kann nicht mehr schreien, das würde niemand verstehen. „Warum hast du denn nicht früher was gesagt?“ Ich würde keine Antwort auf diese Frage haben. Ja, warum nicht früher? Ich dachte, es hört vielleicht auf, aber es wird schlimmer. Mit jedem Tag. Mit jeder Stunde, mit jeder Minute.

Wenn ich lange weg war, muss ich immer besonders früh aufstehen. Das Argument: “Wer feiern kann, kann auch Arbeiten“ Klar kann ich das, aber eben erst später. Aber da ist sie gnadenlos. Sonst stehen wir am Samstag und Sonntag nicht vor neun auf, seit mein Opa tot ist und nicht mehr um sieben gewaschen werden muss.

Aber wenn ich Freitag weg war, dann gibt es am Samstag immer irgendeinen lächerlichen Grund, aus dem man schon um halb acht Frühstücken muss.

Das Leben ist ungerecht. Warum ich? Warum wir? Warum überhaupt?

Sollte eine Mutter ihre Kinder nicht bedingungslos lieben und unterstützen? Stattdessen legt sie uns immer nur noch mehr Steine in den Weg. Große Steine.

Ich bin ja selbst ein Stein. Nein, ich bin aus Holz. Wieder falsch. Ich bin ein Stück. Ein Stück Scheiße.

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