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Joachim Ringelnatz: Das Mädchen mit dem Muttermal

Text: Dichterliebchen
Es fiel mir schwer, nur ein einziges Stück von Ringelnatz auszuwählen, von dem unbedingt etwas in die Inkunabeln gehört. Bevor ich das Internet zum hundertfünfzigsten Mal mit den ewigen albernen zwei Ameisen oder dem ansonsten herzzerreißend schönen "Ich habe dich so lieb" bereichere, nehmen wir diesen viel zu selten aufgesagten Kristall von einem Gedicht, der im Dunklen schimmert.



Aus Allerdings, 1928, das ich für die beste geschlossene Gedichtsammlung halte, die Ringelnatz selbst zusammengestellt hat, von Seite 144 der Erstausgabe die Krone der siebenzeiligen Strophe in der deutschen Literatur (1923). Meines Wissens das einzige von Ringelnatz, das im Untertitel ein Chanson sein will.






Das Mädchen mit dem Muttermal

Chanson



Woher sie kam, wohin sie ging,

Das hab' ich nie erfahren.

Sie war ein namenloses Ding

Von etwa achtzehn Jahren.

Sie küßte selten ungestüm.

Dann duftete es wie Parfüm

Aus ihren keuschen Haaren



Wir spielten nur, wir scherzten nur;

Wir haben nie gesündigt.

Sie leistete mir jeden Schwur

Und floh dann ungekündigt,

Entfloh mit meiner goldnen Uhr

Am selben Tag, da ich erfuhr,

man habe mich entmündigt.



Verschwunden war mein Siegelring

Beim Spielen oder Scherzen.

Sie war ein zarter Schmetterling.

Ich werde nie verschmerzen,

Wie vieles Goldene sie stahl,

Das Mädchen mit dem Muttermal

Zwei Handbreit unterm Herzen.







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