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Das Telefontuten

Text: Insecuritate
Telefone machen viele Geräusche. Ein ganzes Meer von Geräuschen. Telefone machen mitunter dramatische Geräusche. Telefone sind unbarmherzig. Als (unter anderem, um niemandem Unrecht zu tun) Alexander Graham Bell das Telefon erfand, konnte er da wissen, dass er Geräusche zur Welt brachte, die einen Krieg gegen die Nerven der Menschen führen werden? Vielleicht. Aber eher nicht. Woher auch?



Das herkömmliche Klingeln eines Telefons kann nerven, wenn man gerade schlafen will oder nervös machen, wenn man einen wichtigen Anruf erwartet. Manchmal kann es einen durch sein schieres Ausbleiben in den Wahnsinn treiben, denn man wartet und wartet und tigert herum, aber darüber will ich nichts erzählen, denn das tun schon Frauen wie Ildiko von Kürthy und ich will weiß Gott nicht sein wie Ildiko von Kürthy, nein.



Das durchgehende „Tuuut“, das Freizeichen, welches ertönt, wenn man den Hörer abhebt, um sich in einen neuen Anruf zu stürzen, verursacht Herzklopfen, wenn man einen besonderen Anruf tätigen wird. Zum Beispiel, wenn man jemanden anrufen will, mit dem man Ärger hatte. Da ist das „Tuuut“ aber bloß der Vorbote des Zeichens, das nach dem Nummerwählen kommt, welches nebenbei überhaupt nichts zur Sache tut, Wählgeräusche reißen so gar nichts. Aber das Geräusch, bei dem man weiß, jetzt klingelt’s beim anderen, und das nicht im übertragenen Sinne, dieses Getute nach einem herzklopfigen Freizeichen, das steigert die Herzfrequenz enorm, das drückt die Luft ab, da zittert man am ganzen Körper, bis es knackt und jemand abhebt. Dann folgt irgendwas, das vom klassischen Verwählen bis hin zum Herzinfarkt vor Glück oder Leid reichen kann.



Und wenn der gewünschte Gesprächpartner zur Zeit nicht erreichbar ist, das aber nicht die nette Frau sagt, die den ganzen Tag nichts anderes tut als das zu sagen, nichts anderes tut als das Tuten zu vertreten, was dann? Dann, ja dann, ertönt das allseits bekannte, das große, sagenhafte Besetztzeichen. Ein böses, abgehacktes „tut-tut-tut“, das die Nervenstränge mit jedem neuen „tut“ zerhackt, das einen die Fäuste ballen lässt und die Tränen in die Augen treibt, wenn es einem für den Moment alle Hoffnung nimmt, doch endlich, endlich jemanden zu erreichen. Aber das Besetztzeichen ist nicht das Ende, wenn das Besetztzeichen ertönt, dann kann nachher doch noch alles passieren, vom klassischen Verwählen bis hin zum Herzinfarkt vor Glück oder Leid.



Denn der schlimmste Ton, der kommt erst, wenn schon alles vorbei ist. Nur das, allein das, ist das wirkliche Telefontuten.



Wenn alles toll ist, wenn Stockholm angerufen hat oder so, dann ist es total schnuppe, um das Wort auch mal wieder in den aktiven Sprachgebrauch zu heben, wirklich total schnuppe, dass es hinterher tutet, denn man hat dann die Macht über das Tuten, man kann einfach auflegen und dem Tuten so die Kehle durchtrennen. Weil man so froh ist. Weil man gleich eine Nummer wählen und es jemandem berichten muss. Weil man so ganz blöd singend durchs Haus laufen will. Wer hört sich da denn ein Telefontuten an? Niemand. Alle haben Kraft genug, den Hörer einfach aufzulegen. Klack. Tuten tot.



Aber was, wenn es Streit gab? Was, wenn es die große Enttäuschung gab, eine Absage, eine Lüge, Wut oder was ganz, ganz Trauriges? Was, wenn jemand einfach auflegt, weil er einen nicht mehr hören will, einfach so, ohne Abschied? Dann sitzt man da und dann ist das Besetztzeichen doch das Ende, bloß, dass es kein Besetztzeichen mehr ist, jetzt ist es ein Ende-Zeichen, ein abgehacktes „Tut-tut-tut“, das einen verhöhnt, das unbarmherzig weitertutet, immer gleich tutet, ob jetzt jemand gestorben ist oder ob schlimm gestritten wurde, ist dem Tuten doch egal, das Tuten kennt nur sich und seine Aufgabe, es ist grausam und herzlos, dabei hat es 425 Hertz. Man sitzt da und lauscht dem Tuten und es ist der dramatischste Ton der Welt. Man kann nicht mal weinen, so sehr schnürt es einem die Kehle zu, es ist Theatralik pur, dort zu sitzen und zu lauschen: „Tut-tut-tut...“. Das ist ein Melodrama. Das Telefontuten ist ein Melodrama. Das Telefontuten ist in das Drama eines jeden Lebens in einem Industrieland integriert und ich hasse es und ich hasse „Eine himmlische Familie“, weil es bei denen, nachdem jemand aufgelegt hat „Tuuut“ macht, und das ist falsch, das ist kein Melodrama, das ist Unsinn. Das ist nicht das Telefontuten.



Irgendwann hört es auf. Eigentlich dauert es nicht mal besonders lange, bis es einfach aufhört. Sich selber beendet, weil keine freudige Person es vorher getan hat, weil eine traurige, melodramatische Person mit geradezu qualvoller Leidenschaft gelauscht hat. Und dann bleibt nichts als Stille. Bloß so ein undefinierbares Rauschen. So wie das Rauschen des Blutes im Ohr, das man Kindern, wenn sie in eine Muschel horchen, immer als Meeresrauschen verkauft. Und das ist so gar nichts. Nicht mal ein richtiges Geräusch. Erst kommt das Telefontuten und dann kommt nichts.



„Tut-tut-tut“. Nichts.

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