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So schnell. Wirst du mich nicht mehr. Los.

Text: blueprint
Das ist eindeutig ein verstörendes Gefühl: Zu wissen, dass jemand an einem interessiert ist, man selbst aber diese Person absolut lächerlich findet. Und dass die Vorstellung, diese Person könnte ihr Ziel erreichen, einen sogar anwidert. Wenn es um emotionalen Kontakt ging, wurde man in der Pubertät doch so konditioniert, dass man hinterherläuft. Und jetzt muss man plötzlich weglaufen.



Als Heinz Strunk „Fleisch ist mein Gemüse“ geschrieben hat, war vielleicht auch Oliver Schmidt gemeint. Oliver ist 28 Jahre alt, hat eine Ausbildung zum Steuerfachangestellten abgebrochen und wohnt bei seiner Großmutter in Bergedorf. Äußerlich besticht er durch fettige Haare, eine schiefsitzende Nickelbrille, zerknitterte Karohemden und unreine Haut. Oliver hat einen Tick, alle 10 Sekunden kneift er seine Augen zusammen und außerdem lässt er dich keinen Satz aussprechen.

Oliver sagt „Ja, Rockmusik mag ich auch“, und dann erzählt er stolz von dem A-ha-Konzert, das er vor drei Jahren besucht hat. Im Geschichtskurs sitzt er neben mir und fragte letztes Jahr, gleich zu Beginn des 1. Semesters, nach meiner Nummer.

„Falls ich mal krank sein sollte“. Dass das sein psychischer Dauerzustand ist, wusste ich damals noch nicht.



Seitdem vergeht kein Donnerstag, an dem Oliver mich nicht zur U-Bahn begleitet, Oliver mich nicht fragt, was ich denn am Wochenende so vorhabe, Oliver mich nicht zu sich nach Hause einlädt.

Längst hätte ich ihm sagen sollen: Oliver, so toll bist du nicht, ist Bergedorf nicht und dein Jugendzimmer, das ist bestimmt auch nicht so toll. Vor einigen Wochen war ich krank und als Oliver mir die Kopien aus dem Geschichtskurs gab, stand an der Stelle des i-Punkts in meinem Namen ein kleines Herz. Ich musste schlucken und vermied an dem Tag jeglichen Augenkontakt.

Dann stelle ich wieder fest, dass ich viel zu sozial bin: Ach, der Arme. Hat ja sonst keinen, der mit ihm redet.



Von Vera erfahre ich, wieso das so ist. „Letztes Jahr war ich wegen dem im Krankenhaus“ sagt Vera, weil dass der einzige Ort gewesen sei, an den er ihr nicht hatte folgen können. Mir zieht sich der Magen zusammen. „Ich rede jetzt nur noch das Nötigste mit ihm.“

Das versuche ich jetzt auch – habe mich an einen anderen Tisch gesetzt und lasse in den wenigen Gespräche, die wir noch führen, immer wieder anklingen, dass ich einen Freund habe. Und bin froh, dass ich da nichts erfinden muss, dass das wahr ist.

Als ich Oliver von meinem Freund erzähle, bekommt sein Gesicht einen merkwürdigen Ausdruck, so als wäre er gerade ins Wachkoma gefallen. Oliver?!

Seit diesem Augenblick spricht er kein Wort mehr mit mir aber wenn ich zufällig in seine Richtung sehe, merke ich, wie er mich beobachtet. Die Anrufe am Wochenende („Ich dachte, wir könnten gemeinsam in den Kaiserkeller gehen, dort gibt es eine echt gute Rockfete!“) haben aufgehört und seine SMSen blockieren meinen Empfang nicht mehr.

Die irritierenden Blicke aus der Ferne kann ich ertragen und auch das wird mit der Zeit weniger werden, denke ich und atme auf.

Es ist vorbei.

Freudestrahlend berichte ich meinem Freund von der abgefallenen Last und in der U-Bahn erzähle ich Vera davon. Die guckt nur komisch, soll sie doch. Es ist vorbei, das Stalking hat ein Ende, bevor es überhaupt richtig angefangen hat.



...



U-Lohmühlenstraße. Am Donnerstagabend vor den Ferien tippt mir jemand von hinten auf die Schulter. Es ist Oliver – er schwitzt und kneift seine Augen öfter zusammen als je zuvor. „Bist du noch mit deinem Freund zusammen? Können wir denn nicht mal ins Kino gehen?“. Und dann: „Bitte“.

„Oliver, ich habe überhaupt kein Interesse an dir. Sieh das bitte mal ein“, sage ich und bin selbst erstaunt über soviel Ehrlichkeit. Oliver steigt wortlos in seine Bahn – am nächsten Tag sind sogar die beobachtenden Blicke verschwunden. Dann ist es ja jetzt wohl vorbei. Vielleicht.

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