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Vorspiel auf gut norwegisch

Text: Nojenta
"Wir treffen uns heute abend zum Vorspiel bei mir zuhause", eröffnet mir meine norwegische Kommilitonin Silje in der Vorlesungspause.

"Es kommt fast die ganze Klasse und Ståle sorgt für die Musik. Komm auch, es wird bestimmt toll!"

Ich starre sie entgeistert an und frage mich, ob irgendetwas Essentielles in meinem norwegischen Wortschatz fehlt. Vorspiel - so ungewohnt das deutsche Wort aus dem Mund eines Norwegers, und dennoch eindeutig - oder doch nicht? Zur Sicherheit frage ich nochmal nach.

"Alle dreißig Mann treffen sich in deiner Wohnung zum Vorspiel?"

Silje bleibt von meine Bestürzung völlig ungerührt. "Na sicher, ich hab doch genügend Platz. Wenn wir nicht alle ins Wohnzimmer passen, weichen eben ein paar ins Schlafzimmer aus."

Mittlerweile steht mir bestimmt die Panik ins Gesicht geschrieben.

"Ich weiß nicht recht", murmele ich, "ich kenn doch kaum einen der anderen."

"Na bitte, das ist doch DIE Chance, alle besser kennenzulernen. Leichter als beim Vorspiel wird dir das nirgendwo anders gelingen."

"Das glaube ich gut und gerne", ist das Einzige, was mir noch dazu einfällt.

Der Nachmittag an der Uni dehnt sich endlos in die Länge. Die Ausführungen der Dozenten wandern wie weißes Rauschen ins eine Ohr hinein und aus dem anderen wieder heraus, ohne eine Spur zu hinterlassen. Der bevorstehende Abend fährt Karussell in meinem Kopf. Vorspiel zu dreißigst, das sprengt selbst meine nicht gerade mittelalterliche Vorstellungskraft.

Und doch ist meine Neugier zu groß, um kurzfristig den Schwanz einzuziehen. Gegen halb neun klingle ich an Siljes Wohnungstür.

"Tut mir leid, dass ich zu spät komme." Ich verschweige die halbe Stunde, die ich der Verzweiflung nahe vor dem Kleiderschrank verbracht habe. Was um Himmels willen zieht man zu einem Massenvorspiel an? Und kommt es dabei nicht vor allem darauf an, was man unter der Jeans trägt? Hätte ich vorher nach der Kleiderordnung fragen sollen?

Jedenfalls bin ich erleichtert, als mir Silje in Rock und Top gegenüber steht. "Ihr habt also noch nicht angefangen?"

"Aber klar, die Stimmung ist schon enorm. Frode hat den Alkoholvorrat geplündert, den sein Vater auf seinem letzten Auslandsaufenthalt eingeschmuggelt hat."

Keine schlechte Idee, sich Mut anzutrinken, denke ich. Im Wohnzimmer sieht alles noch harmlos aus. Meine norwegischen Mitstudenten bevölkern Teppich und Sofa, tanzen ausgelassen vor der großen Fensterfront und prosten sich im Minutenabstand zu: Skål!

Ich lasse mir ein Glas in die Hand drücken, nachdem Silje mitleidig bemerkt, ich hätte wohl ganz vergessen, dass es an norwegischen Tankstellen oder im Supermarkt keinen Alkohol zu kaufen gibt. Ehrlich gesagt habe ich gar nicht daran gedacht, selbst etwas mitzubringen. Schließlich ist es in Deutschland nicht unüblich, sich bei Partys aus dem Kühlschrank des Gastgebers zu bedienen. Nicht jedoch in Norwegen, wo Alkohol zu den Luxusgütern gerechnet wird, die die Woche über gespart und nur am Wochenende genossen werden.

Ich quetsche mich zwischen die Leute auf dem Sofa, nippe am Wein und versuche, einen coolen Eindruck zu vermitteln. Innerlich bin ich gespannt wie eine Feder. Wann geht das denn nun los mit dem Vorspiel?

Eine Stunde vergeht, ohne dass jemand Anstalten macht, die gemütliche Stimmung zu brechen. Der Raum füllt sich immer mehr, die Flaschen auf dem Tisch und in der Kochecke leeren sich, Ståle legt eine CD nach der anderen auf. Mittlerweile habe ich fünfmal erzählen müssen, was mich zum Austauschsemester in Bergen bewogen hat. Die Gesichter der anderen werden vertrauter, kriegen Namen und Geschichten.

Als Helga gerade dabei ist, mir zu erzählen, warum so viele Studenten unserer Klasse schon einen Ehering am Finger tragen, obwohl die meisten nicht älter als 23 sind, sieht Silje auf die Uhr.

"Es ist gleich elf. Wenn wir noch in die Stadt wollen, sollten wir uns beeilen, ansonsten ist die Warteschlange vor dem Kvarteret kilometerlang." Das Kvarteret beherbergt mehrere Diskotheken. Ich starre verständnislos in die Runde.

"Und wer danach noch Lust hat, ist herzlich zum Nachspiel bei mir eingeladen", reicht Silje nach.

Okay. Meine Verwirrung ist nicht mehr zu toppen. Ich will endlich wissen, wie unsere so eindeutigen deutschen Vokabeln Vorspiel und Nachspiel in die norwegische Alltagssprache gelangt sind und was zum Kuckuck sie hier eigentlich bedeuten.

Auf meine zögerliche Frage erhalte ich überraschend prompt und bereitwillig Auskunft.

"Vorspiel ist die Party, die man zuhause feiert, bevor man in die Disko geht. Nachspiel ist dementsprechend die Party zuhause, nachdem die Disko geschlossen hat. Ganz einfach. Warum? Was bedeutet das denn in Deutschland?"

Nicht enden wollendes Gelächter, als ich endlich den Weg zu einer passenden Erklärung finde. Nein, wie komisch sich doch die Deutschen ausdrücken!

Erst als ich mich beim Nachspiel auf dem Sofa wiederfinde, keimt in mir der zaghafte Gedanke auf, ob "Vorglühen" und "Absacker" wirklich so viel bessere Bezeichnungen sind. Wie herrlich könnte ein Norweger, der unsere Sprache wörtlich nimmt, diese beiden Worte doch mißverstehen...

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