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Die Meinungsdiktatur der Linken

Illustration: Katharina Bitzl

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Seit Ende August diskutiert ganz Amerika über Zensur. Über Diskriminierung. Darüber, was gesagt werden darf und was nicht. Und das alles nur, weil der Studiendekan der University of Chicago seinen Studienanfängern ein Begrüßungsschreiben geschickt hat. Das sich dann rasend schnell über Twitter und Facebook verbreitete und in Blog-Posts, Radio-Talks und allen großen US-Zeitungen und -Magazinen besprochen wurde:

„Ihr werdet dazu angehalten, Debatten, Diskussionen und sogar Streits zu führen. Das wird euch manchmal herausfordern oder sogar für Unwohlsein sorgen“, schrieb Ellison den Studenten. „Wir verpflichten uns zu akademischer Freiheit und unterstützen darum keine sogenannten ‚Trigger-Warnungen‘, laden keine Redner aus, die kontroverse Themen ansprechen, und lehnen intellektuelle ‚Safe spaces‘ ab, in denen sich Personen vor Meinungen verstecken können, die ihren eigenen widersprechen.“ 

Durch diese Worte ist ein Kampf, der seit einiger Zeit an amerikanischen Unis tobt, öffentlich eskaliert: Auf der einen Seite streiten darin die Liberalen (wie man in den USA die progressiven Linken nennt) für politische Korrektheit und ein Recht darauf, nicht diskriminiert oder emotional belastet zu werden. Sie fordern aus Rücksicht auf die Kultur von Minderheiten Halloween-Kostüme ohne Federschmuck, Turbane oder „Blackfacing“. Sie wollen Trigger-Warnungen für heikle Inhalte in literarischen Klassikern – dass also zum Beispiel ein Dozent einen Hinweis auf sexuelle Gewalt in Ovids „Metamorphosen“ gibt, damit jemand, der selbst welche erfahren hat, entscheiden kann, ob er sich dem aussetzen möchte oder nicht. Sie sabotieren Vorlesungen konservativer Gastredner, deren Meinungen sie widersprechen. Und von mit Kreide geschriebenen „Trump 2016“-Slogans auf dem Campus fühlen sie sich bedroht. 

Auf der anderen Seite fühlen ihre Gegner, die moderateren oder gar konservativen Studenten, sich von eben jener politischen Korrektheit bedroht: Das sei Zensur, sagen sie. Ihre Rede- und Meinungsfreiheit sei in Gefahr. Und alle Meinungen, die nicht liberal seien, würden unterdrückt. Diese Gegner sind meist keine ausgewiesenen Rassisten oder Ultrarechten. Sondern Menschen, die glauben, dass die Methoden der Liberalen mittlerweile kontraproduktiv geworden sind. Dass sie ihrem eigenen, guten Ziel – einem offenen, diversen Zusammenleben, einer Gesellschaft, in der jeder seinen Platz hat – selbst im Weg stehen.

Es geht also um nicht weniger als die Frage, wo „politisch korrekt“ aufhört und die Einschränkung der Meinungsfreiheit anfängt. Und die hat eine besondere Wucht, weil sie sich ja auch abseits des Campus’ gerade oft stellt: Draußen, im ganzen Land, wo in diesem verrückten US-Wahljahr die Fronten verhärtet sind. Wo auf der linken Seite Minderheiten für ihre Rechte kämpfen, und auf der rechten Seite ein Mann namens Donald Trump zum Vorreiter einer „Das wird man ja wohl noch sagen dürfen!“-Bewegung geworden ist, die sich von den Liberalen gegängelt, unterdrückt und verachtet fühlt. 

Die Situation auf dem amerikanischen Campus spiegelt das im Kleinen. Darum lohnt es sich, sich dort genauer umzuschauen. Und so vielleicht zu verstehen, wie es so weit kommen konnte.

Der konservative Student sagt: "Ich bin hier eine ideologische Minderheit"

Die Georgetown University in Washington, eine katholische Universität mit mehr als 15.000 Studenten, ist eine gute erste Station dafür. Hier sieht es an diesem Septembertag aus wie in einem amerikanischen College-Film: ein altehrwürdiges Hauptgebäude, ausladende Bäume, Studenten, die sich auf der Wiese sonnen und plaudern. In einem großen Gemeinschaftsraum sitzt Peter, 18 Jahre alt, auf der Kante einer Couch. Ellenbogen auf den Knien, Blick von unten aus schmalen Augen. Er sagt, dass seine Kommilitonen im November mehrheitlich Hillary Clinton wählen werden. Das ist kein Geheimnis und war auch deutlich zu sehen, als vor wenigen Tagen in diesem Raum die erste TV-Debatte gezeigt wurde: Fast alle der 600 anwesenden Studenten bejubelten die Kandidatin der Demokraten. Peter nicht. Er wird Trump wählen. Und er findet die Situation auf dem Campus „problematisch“:

„Eine Seite beansprucht die moralische Hoheit und sie rückt immer weiter nach links“, sagt er. „Und je weiter weg von der Mitte man ist, egal ob rechts oder links, desto stärker wird kontrolliert, was gesagt werden darf.“ Dass das an der Uni schon der Fall sei, sieht man seiner Meinung nach daran, dass die Studenten, vor allem Schwarze oder Latinos, sich einfach viel zu schnell angegriffen fühlten. Schon die Frage „Wo kommst du her?“ werde als Diskriminierung empfunden. „Ich will doch niemanden diskriminieren“, sagt Peter, „ich will bloß interagieren!“ Man kann es sich leichtmachen und Peter als Trump-Wähler ohne gesellschaftliche Sensibilität abstempeln. Oder man kann sich anschauen, was er kritisiert.

Neulich war er bei einem Treffen der „Black Student Alliance“. Weil er deren Meinungen hören wollte. „Dort haben sie mehr ‚Safe Spaces‘ gefordert“, erzählt er. „Und das finde ich falsch.“ Safe Spaces sind Häuser oder Räume, die Minderheitengruppen oder Aktivisten gründen, um dort unter sich sein zu können. Es gibt an verschiedenen Unis zum Beispiel feministische Safe Spaces oder welche für schwarze oder LGBTQ-Studenten. Dort soll ein Konsens herrschen und niemand Angst vor Diskriminierung haben müssen. Kritiker wie Peter sehen sie allerdings als Schritt in die falsche Richtung. Als Orte, an denen „Speech Codes“, also Rede-Regeln gelten, die bestimmen, was gesagt werden darf und was nicht. Und von wem. An dem bestimmte Personengruppen ausgegrenzt werden. Oft Weiße. Oft Männer. Oft Heterosexuelle. 

Einer von zwei institutionalisierten Safe Spaces in Georgetown ist das „Casa Latina“, ein kleines, zweistöckiges Townhouse, nur einen Block östlich des Campus-Geländes. Der andere ist das „Black House“, gleich nebenan. Beide sind halb Wohn- und halb Gemeinschaftshaus, und die Studenten, die dort leben, organisieren Treffen und Diskussionsrunden. Die sind theoretisch offen für alle, sprechen aber vor allem Vertreter der jeweiligen Minderheitengruppe an. In diesem Fall also Students of Color oder Studenten mit lateinamerikanischen Wurzeln.

Citlalli, 21, die Leiterin der Casa Latina, sitzt auf der Wohnzimmer-Couch im Erdgeschoss. Die Möbel sind zusammengewürfelt und die Wände noch kahl – das Haus hat erst zu Beginn dieses Studienjahrs eröffnet. Bald sollen ein paar Bilder kommen, gespendet von Alumni. Citlalli ist als Tochter mexikanischer Einwanderer in Kalifornien aufgewachsen, in einem Viertel voller Gang- und Waffengewalt. Sie ist die Erste aus ihrer Familien, die studiert, und fühlt sich immer noch oft unsicher unter den mehrheitlich weißen, mehrheitlich aus Akademiker-Familien stammenden Georgetown-Studenten. Ihr habe es darum sehr geholfen, als sie zum ersten Mal mit anderen Latino-Studenten gesprochen und gemerkt hat: „Denen geht es genauso wie mir!“

Bedroht ein "Safe Space" die Meinungsfreiheit? Oder ist er nur ein Ort für offene Gespräche?

Unter anderem darum hat sie für die Casa Latina gekämpft. Es soll ein Ort sein, sagt sie, an dem die Latino-Kultur gefeiert wird – aber eben auch einer, um sich über Erfahrungen und Probleme auszutauschen. „Es ist eher ein ‚Brave Space‘ als ein ‚Safe Space‘“, sagt sie. „Man soll hier den Mut haben, offen zu sprechen.“ 

Aus eigener Erfahrung weiß sie, dass das draußen auf dem Campus oder im Unterricht nicht immer leicht ist. „Oft bin ich die einzige Latina“, sagt Citlalli. „Und wenn ein rassistischer Kommentar fällt und ich etwas dagegen sage, denken alle, dass ich für die ganze Community spreche. Ich habe Herzrasen in solchen Momenten!“ Es sei doch, sagt sie, nicht ihre Aufgabe, ihre weißen Kommilitonen aufzuklären, die noch nie in ihrem Leben wegen ihrer Herkunft oder Hautfarbe kritisiert worden seien: „Sie haben doch Zugang zu allen Informationen, um sich weiterzubilden. Wir müssen erst mal uns selbst stärken.“

Über diesen Ansatz kann man diskutieren. Wenn ein Safe Space bloß ein Ort ist, an dem sich Menschen treffen und über Sorgen und Probleme sprechen, die die anderen teilen, und darum nicht verurteilen, dann tut er doch niemandem weh, oder? Oder ist er, weil sich dort eine Gruppe abschottet, wirklich eine Bedrohung für die Meinungsfreiheit? Für alle, die nicht zur Gruppe gehören?

Es kommt wohl darauf an, welche Ausmaße die Idee des Safe Space annimmt. Denn der Begriff ist nicht für Initiativen wie die Casa Latina reserviert. Er wird mittlerweile wild und völlig unterschiedlich verwendet. Manche Studenten erklären ihr Zimmer zu einem. Manche Dozenten ihre Büros, um zu signalisieren: Was hier besprochen wird, bleibt auch hier. Und wieder andere wollen, dass ihr ganzer Campus ein Safe Space ist. Ein Ort, an dem sich niemand jemals diskriminiert fühlen muss. 

„Und sobald das jemand fordert, wird es problematisch“, sagt Greg Lukianoff. Lukianoff, ein freundlicher Mann Anfang 40 mit rotem Vollbart, ist Anwalt und Experte für „First Amendment law“, also den Ersten Zusatzartikel der US-Verfassung, der die Meinungs-, Religions-, Presse- und Versammlungsfreiheit garantiert. Und er ist Vorsitzender der „Foundation for Individual Rights in Education“ (Fire), einer Non-Profit Organisation, die sich für Meinungsfreiheit an Universitäten einsetzt. Wenn ein Student oder Unimitarbeiter dieses Recht in Gefahr sieht, kann er den Fall Fire melden. Die Organisation prüft ihn und fordert die Universität gegebenenfalls schriftlich auf, die Rechtsverletzung zu beheben. Außerdem macht Fire intensive Medienarbeit, um auf die Probleme aufmerksam zu machen. Die Datenbank ihrer Homepage umfasst mehr als 400 Fälle. 

"Wenn die Studenten irgendwie angegriffen werden, denken sie, es sei etwas sehr, sehr Schlimmes passiert"

Seit etwa drei Jahren häufen sich dabei jene Fälle, in denen Studenten die Meinungsfreiheit missachten. Das laufende Jahr war darum das bisher arbeitsreichste für Lukianoff. Als er 2001 bei Fire anfing, hatte er noch hauptsächlich damit zu tun, dass Studenten sich über zu starke Regulierungen durch ihre Universitätsverwaltung beklagten: Weil die Amerikaner bekanntlich gerne vor Gericht ziehen, tun Universitäten viel dafür, dass sich dort niemand diskriminiert fühlt (oder sich bei einer Demonstration ein Bein bricht).

Oft darf man auf dem Campus zum Beispiel nur in einer fest abgesteckten „Free Speech Zone“ demonstrieren oder Flyer verteilen – nach vorheriger Anmeldung, Prüfung und Genehmigung. An der University of Connecticut wurde sogar mal „unpassend adressiertes Lachen“ verboten (das schließlich selbst vor Gericht verboten wurde). In einem aktuellen Fall, der Lukianoff besonders wütend macht, hat die Northern Michigan University Studenten mit „disziplinarischen Maßnahmen“ gedroht, wenn sie mit Kommilitonen über Suizidgedanken sprechen.

Oft war und ist also die Bürokratie, und nicht die Ideologie Schuld, wenn man auf dem Campus etwas nicht aussprechen durfte oder darf – aber sie hat wohl mit dazu beigetragen, dass die Ideologie so stark werden konnte. „Die Überregulierung weckt bei den Studenten völlig falsche Erwartung: Wenn sie irgendwie angegriffen werden, haben sie das Gefühl, dass etwas sehr, sehr Schlimmes passiert ist“, sagt Lukianoff. „Die Unis sollten sich also nicht darüber wundern, dass sie ein Monster erschaffen haben.“

Für eine der schlimmsten Auswüchse dieses „Monsters“ hält er die „Disinvitations“, also die Fälle, in denen Studenten Auftritte von Gastrednern verhindern oder verhindern wollen, deren Meinung sie nicht teilen. Auch dafür hat Fire eine Datenbank: Sie umfasst 319 Einträge seit dem Jahr 2000. Mehr als ein Viertel davon stammen aus den vergangenen drei Jahren. Und von diesen wurden wiederum fast 70 Prozent von linken Studenten gegen konservative Redner ausgesprochen, zum Beispiel gegen den Republikaner Ben Carson oder die Republikanerin und ehemalige Außenministerin Condoleeza Rice. 

Lukianoff findet diese Entwicklung „sehr besorgniserregend“. Und ist ehrlich enttäuscht von den Studenten: „Vor allem diejenigen, die einer Minderheit angehören oder aus Arbeiterfamilien stammen, waren jahrelang unsere stärksten Verbündeten im Kampf für Meinungsfreiheit. Die Rechte der Mehrheit und der Eliten werden ja durch ihre Stimme in der Wahl, Macht und Geld geschützt – aber die Meinungsfreiheit schützt die Rechte der Menschen, die diese Vorteile nicht haben.“

Aus dieser Perspektive erscheint einem das, was auf dem Campus passiert, doppelt absurd: Denn die Studenten stellen ihre Forderungen ja oft im Namen der Toleranz, der Diversität und der Schwächsten der Gesellschaft. Sie wollen vermeiden, dass jemand diskriminiert wird. Darum wünschen sie sich, dass alle genau darauf achten, was sie sagen. Sie wollen, dass jeder am Unterricht teilnehmen kann. Darum fordern sie, dass im Voraus geklärt wird, worüber gesprochen wird. Und wie.  Und von wem. Sie sind gegen Folter. Also wollen sie nicht, dass Condoleeza Rice, die Folter bei CIA-Befragungen bewilligt hat, an ihrer Uni spricht. Dabei übersehen sie, dass sie Diskussionen und sogar Alltagsgespräche auf dem Campus beinahe strenger regulieren als ihre eigene Univerwaltung das je getan hat. Dass es bald nur noch eine Art gibt, richtig zu sprechen: eine liberale, gebildete, elitäre Art. Die nicht mehr viel mit Diversität und Toleranz zu tun hat.

Einer der banalsten, aber wohl schwerwiegendsten Gründe, der diese Entwicklung befeuert, ist: Gruppendruck. Davon kann Toni erzählen. Toni, 20 Jahre alt, ungeschminkt, mit schwarzer Hornbrille und Vintage-Kleid, studiert Urban Studies am Barnard College für Frauen in New York, das mit der Columbia University kooperiert. Sie war mal, sagt sie selbst, „extrem politisch korrekt“. Wenn sie von dieser Zeit erzählt, wirkt es, als erzähle sie von einer Jugendsünde. Von etwas, das längst hinter ihr liegt.

Als die Studentinnen Trigger-Warnungen auch im Alltag verwendeten, wurde es Toni zu viel

Zu Beginn ihres Studiums vor drei Jahren hat Toni im „Social Justice House“ gewohnt, einem Safe Space, in dem laut Homepage alle Bewohner „physisch und psychisch sicher und geborgen“ sind. Dort hörte sie zum erstem Mal von „Microagressions“, kleinen Diskriminierungen in Alltagsgesprächen – und witterte sie danach überall. 

„Ich bin in Cleveland aufgewachsen, als Arbeiterkind und mit Sozialhilfe. Als ich hier an der Uni einer Mitbewohnerin Chips angeboten haben und sie die ablehnte, weil sie zu Hause nie welche gegessen hat, kam das bei mir an wie: ‚Ich bin was Besseres als du!‘“ Auch Trigger-Warnungen lernte Toni erst an der Uni kennen. In der Facebook-Gruppe ihres Jahrgangs gab es vor jedem Inhalt, der auch nur ansatzweise negative Emotionen auslösen könnte, eine: für Polizei. Weiße Männer. Traditionelle Geschlechterrollen. Essen.

Zu viel wurde es Toni, als die Studentinnen anfingen, solche Warnungen auch im Alltag zu verwenden. „Ich habe zwei Flaschen Wein mit nach Hause gebracht und eine Kommilitonin sagte: ‚Das nächste Mal warne uns doch bitte vorher – der Vater einer Mitbewohnerin ist Alkoholiker und der Anblick von Wein könnte bei ihr einen Nervenzusammenbruch auslösen.‘ Da dachte ich: Wie bitte? Ich lebe hier und darf nicht mal einkaufen, was ich will?“ Sie fasst das, was da passierte, mit einer englischen Formulierung zusammen, die so treffend ist, dass man sie am besten nicht übersetzt: „It’s social justice gone bad.“

Heute plädiert Toni auf Twitter und verschiedenen Blogs für Redefreiheit und gegen ein Übermaß an politischer Korrektheit. Das ist mutig. Denn indem sie sich vom Social Justice House abgewandt hat, hat sie auch Freunde verloren. „Ich versuche, immer nett zu sein und ich will, dass Menschen mich mögen. Aber wenn du hier auf dem Campus ein bisschen moderater bist, oder sogar konservativ, dann wird es schwer für dich.“

Die liberale und politisch korrekte Mehrheit auf dem Campus ist verführerisch. Es ist leicht, sich ihr anzuschließen. Weil sie ja im Grunde ein hehres Ziel hat: Sie will, dass alle sich wohlfühlen. Aber „alle“, das sollten an einer öffentlichen Institution wie einer Uni eigentlich so viele verschiedene Menschen sein, dass das Wohlfühlen des einen nicht immer das des anderen sein kann. Und der Wunsch nach Wohlfühl-Atmosphäre widerspricht ohnehin ziemlich grundsätzlich dem, was eine Uni will. Denn dort sollen Studenten lernen, kritisch zu denken. Sie sollen intellektuell herausgefordert werden. Das kann nicht immer bequem sein.

 

Die Macht der Mehrheit hat Konsequenzen. Kritiker sagen, dass der Campus bereits zu einer „liberalen Echokammer“ geworden sei, in der immer nur die eigenen Meinungen von den Wänden widerhallten. Wir alle kennen das aus unserem eigenen Leben. In dem uns der Facebook-Algorithmus und die Filterblase ständig wiedergeben, was uns gefällt und uns damit darin bestärken. In dem sich unserer Gesellschaft immer stärker polarisiert, sowohl politisch als auch sozial. In Deutschland kann man das derzeit gut daran beobachten, wie unterschiedlich die Menschen über Flüchtlinge sprechen. Und in Amerika daran, wie Trump-Anhänger auf dem Land und Liberale in den Großstädten sich gegenseitig verachten.

 

Wenn Menschen nur mit denen umgehen, die genauso ticken wie sie, werden sie radikaler

 

„Polarisierung ist eine Konsequenz dessen, was wir als Fortschritt empfinden“, sagt Greg Lukianoff. „Wir haben die Möglichkeit, in Gemeinschaften zu leben, in denen alle so ähnlich ticken wie wir – das hört sich wunderschön an! Aber je mehr Menschen in solchen Gruppen leben, desto radikaler werden sie in ihren Überzeugungen. Und empfinden die anderen Gruppen als entweder dumm oder böse.“ Lukianoff glaubt, dass die aktuelle Situation an den Unis diese allgemeine Polarisierung noch verschlimmern wird. „Hochschul-Absolventen haben viel Macht. Wenn sie zum Beispiel Anwälte werden, kann ihre Art zu denken die Rechtspraxis verändern – denn das First Amendment ist immer nur so stark, wie es interpretiert wird.“

 

Das ist natürlich ein sehr finsterer Blick in die Zukunft. Dabei besteht ja Grund zur Hoffnung: Dass der Brief des Chicagoer Dekans eine so große Diskussion ausgelöst hat, ist eine gute Sache: Es wird wieder wenigstens wieder miteinander geredet. Peter, der konservative Georgetown-Student glaubt, dass seine Uni gerade an einem „Scheideweg“ stehe. Dass hier noch offener diskutiert wird als an anderen Hochschulen. Er will sich dafür engagieren, dass das so bleibt, und wünscht sich Diskussionsveranstaltungen, bei denen etwa die College Republicans und die Black Student Alliance zusammenkommen und öffentlich miteinander diskutieren.

 

Und Greg Lukianoff will, dass Diskutieren nicht nur praktiziert, sondern auch konkret gelehrt wird. Dass sogenannte „Oxford-Style-Debatten“, wie man sie aus Debattierclubs kennt, fester Bestandteil der Ausbildung werden. In einer solchen Debatte müssen die Studenten dann auch mal für etwas argumentieren, dem sie persönlich widersprechen. Denn es ist zwar sehr angenehm, die Gedanken gemeinsam immer nur in eine Richtung kreisen zu lassen. Aber klüger macht es einen nicht. 

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