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Die meisten Studenten geben ihre Abschlussarbeit in trostlosen Prüfungs-ämtern ab. Auf David Dietl warten Fotografen und Kamerateams.

Diese verdammte Sonne. Würde sie nicht so penetrant scheinen, wäre alles besser. Jetzt, da der große Mo-ment naht, da Hemd und Anzug sich sowieso schon schwer anfühlen und man sowieso schon ins Schwitzen kommt bei all den Menschen, Kameras, Mikrofonen und Fragen.

David, kurze, dunkle Haare, Anzug, weißes Hemd, steht vor einer brasilianischen Bar schräg gegenüber dem Gasteig in München. Er zieht an dem Strohhalm in seinem Caipirinha, obwohl nur noch Eiswasser im Glas ist. Die Häppchen auf dem Tisch rührt er nicht an. „Ich kann jetzt nichts essen“, sagt er mit leicht gequältem Blick. Er hat auch gar keine Zeit dafür. Ständig kommen Leute, die er begrüßen muss. Leute in Anzügen, Frauen in schillernden Kleidern. Umarmungen. Händeschütteln. Ein Fernsehteam des Bayerischen Rundfunks. Die Moderatorin Katrin Bauerfeind, Blumenkleid, Handtäschchen, schminkestrahlend. Jella Haase, Jungschauspielerin, rauchend. Olli Dittrich, Anzug, Weste, Einstecktuch. Und dann, die Passanten schauen, Veronica Ferres, ganz blond, ganz Superweib, ganz Ausschnitt.

Sie alle sind gekommen, weil David heute seine Abschlussarbeit präsentiert. David Dietl, 33, Sohn des Regisseurs Helmut Dietl, hat Regie an der DFFB studiert, der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin. Seine Abschlussarbeit ist etwas Besonderes, sogar für eine Filmhochschule. Er hat einen Kinofilm gedreht, den „König von Deutschland“. Die Hauptrollen spielen Dittrich und Ferres. Heute ist Premiere auf dem Münchner Filmfest, mit allem Drum und Dran: roter Teppich, Blitzlichtgewitter, die Rufe der Fotografen, „Hierher, Herr Dietl!“, das Spalier der Fernsehteams.

Die meisten Studenten geben ihre Abschlussarbeit im Prüfungsamt ihrer Uni ab, statt rotem Teppich nur Linoleumfußböden, traurige Büropflanzen und mittelmäßig gelaunte Mitarbeiter. Die Abgabe ist ein Verwaltungsakt – zwei Exemplare auf den Tisch, Unterschrift, Stempel, Vermerk: abgegeben.

David Dietl steigt auf eine Bühne im voll besetzten Carl-Orff-Saal im Gasteig, Fassungsvermögen: an die 600 Personen. Jemand drückt ihm ein Mikrofon in die Hand, mit der anderen holt er einen Zettel aus der Innentasche seines Sakkos. Der Zettel zittert in seiner Hand, als er die Namen der vielen Menschen abliest, denen er danken möchte. Dann endlich startet der Film. Das Publikum lacht viel, applaudiert am Ende ausgiebig. Weitere Reden, die Bühne ist irgendwann voller Menschen. Auch so kann die Abgabe einer Abschlussarbeit aussehen.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

David Dietl auf dem Weg zur Filmpremiere. Untergehakt: seine Hauptdarstellerin Veronica Ferres.

Die Abschlussarbeit ist wahrscheinlich der markanteste Punkt eines Studiums. So gut wie jeder Student muss eine anfertigen, um sein Zeugnis zu bekommen, deshalb ist sie die große Konstante in der Studentenwelt. Jeder muss da durch, keiner kann sich entziehen. Trotzdem gleicht kaum eine Arbeit der anderen. Weil unterschiedliche Fächer unterschiedliche Anforderungen haben, weil jeder ein anderes Thema bearbeitet und weil man – anders als in Prüfungen, in denen nur Wissen abgefragt wird – bei der Abschlussarbeit etwas erschaffen kann. Weil eine Abschlussarbeit jahrelange Arbeit sein kann oder in ein paar Tagen hingerotzt. Und weil eine Abschlussarbeit sehr viel oder sehr wenig wert sein kann.

David Dietl hat 2009 damit begonnen, das Drehbuch für „König von Deutschland“ zu schreiben, eine satirische Geschichte über den Durchschnittsdeutschen Thomas Müller, der von einem Meinungsforschungsinstitut missbraucht wird und dann merkt, dass er aus seinem durchschnittlichen Leben ausbrechen muss. „Dieser emotionale Kern war der Ausgangspunkt meiner Idee. Auch ich hatte in meinem Leben einiges umgekrempelt zu der Zeit“, sagt David.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Im Fokus: David Dietl gibt vor der Premiere seines Abschlussfilms Interviews.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert



Eine Abschlussarbeit mit direktem persönlichem Bezug, das machte es nicht leichter. David Dietl mühte sich über Jahre mit dem Drehbuch ab, zuerst mit einem Freund, dann mit einem Dramaturgen von seiner Filmhochschule. Er musste nicht nur den Direktor der DFFB von seiner Idee überzeugen und immer auf dem Laufenden halten. Er musste auch Produzenten, einen Filmverleih und Abnehmer beim Fernsehen finden und zufriedenstellen. Sein Abschlussfilm hatte ein siebenstelliges Budget, er läuft im Kino, wird im ZDF und auf Arte zu sehen sein, vor der Kinopremiere gab es Rezensionen in den Feuilletons großer Zeitungen. Der Film ist ein Aushängeschild. An ihm werden sich die Leute orientieren, wenn sie überlegen, David in Zukunft als Drehbuchautor oder Regisseur zu engagieren.

Wenn der Durchschnittsstudent seine Arbeit abgibt, dann wird sie von einem Professor und einem Zweitkorrektor gelesen. Anschließend verschwindet sie in den Aktenschränken der Universität. Ein Exemplar blättern die Eltern oder die Oma durch, vielleicht steht sogar eines in der Institutsbibliothek. Doch potenzielle Arbeitgeber werden sich später nicht unbedingt dafür interessieren, was ein Amerikanistikstudent über Kriegsfilme zur Zeit des Zweiten Weltkriegs aufgeschrieben hat.

Doch nicht nur in Nischen-, sondern auch in Massenfächern wie BWL verlieren Abschlussarbeiten ihren Wert. Seit der Bolognareform ist die Arbeitsbelastung an den Lehrstühlen gestiegen, auf den Schreibtischen stapeln sich die Arbeiten, die korrigiert werden müssen. Das bedeutet: Effizienz geht vor. Die Hochschulgesetze verlangen keine Einheitlichkeit. Wie Abschlussarbeiten betreut und geprüft werden, können sich die Fakultäten selbst in ihre Prüfungsordnungen schreiben. Manche nutzen das, um sich das Leben möglichst leicht zu machen: Nicht selten werden Bachelorarbeiten gar nicht von Professoren korrigiert, sondern von Lehrbeauftragten oder wissenschaftlichen Angestellten. In manchen großen Fachbereichen, etwa bei den Wirt-schaftswissenschaftlern in Bochum oder Köln, werden die Bacheloranwärter über ein zentrales Vergabesystem auf die Lehrstühle verteilt. Die Themen werden vorgegeben.

Es ist verständlich, dass in solchen Arbeiten weniger Herzblut steckt. Wenn man irgendein Thema vorgesetzt bekommt, heißt das noch lange nicht, dass man sich dafür interessiert. Wahrscheinlich wird man versuchen, die Arbeit mit möglichst wenig Aufwand hinter sich zu bringen. Das bedeutet auch, dass man weniger aus so einer Arbeit lernt. Sie ist dann nur noch eine von vielen Prüfungen. Augen zu und durch.
Ganz anders war es bei Philipp Sänftl. Der 27-Jährige, kurze, leicht gelockte Haare, Hemd, Pullover, niederbayerischer Akzent, sitzt in einem Konferenzraum im „Forschungs- und Innovationszentrum“ von BMW. Er erzählt von seiner Masterarbeit in Systems Engineering, die er hier in den kommenden Monaten schreiben wird, „bei der BMW“ – er sagt das, als wäre der Autokonzern eine Freundin. Er ist begeistert von seinem Thema und könnte wahrscheinlich stundenlang von Robotern erzählen.

Im Frühjahr 2013, als David Dietl an der Postproduktion von „König von Deutschland“ sitzt, arbeitet Philipp Sänftl als Praktikant im BMW-Werk in Spartanburg im US-Staat South Carolina. Dort sammelt er in der Praxis das Material für seine Masterarbeit. An einem Sonntagabend wird gerade die Produktion nach einer zweiwöchigen Umbaupause wieder angefahren. Ein wichtiger Moment, es sind viele Abteilungs- und Gruppenleiter da. Die Werkshalle erwacht zum Leben. Doch etwas funktioniert nicht: Die Hauptklebezelle bleibt stehen, die Maschine, mit der Heck- und Frontscheibe in das Auto geklebt werden. Bislang sah die Notlösung für einen solchen Ausfall etwa so aus: Ein Arbeiter bekam eine riesige Klebepistole mit einem schweren Schlauch hintendran und trug den Kleber per Hand auf. Jetzt aber kamen die Chefs zu Philipp, dem Praktikanten und Masterstudenten. „Wir brauchen dein Back-up!“, sagten sie. „Funktioniert’s?“

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

David Dietl (Zweiter von links) und seine Schauspieler (von links): Katrin Bauerfeind, Wanja Mues, Jella Haase, Olli Dittrich, Veronica Ferres,Jonas Nay. Ganz rechts: Diana Iljine, Chefin des Münchner Filmfests.

Es funktionierte. Philipp hatte sich in den vergangenen Monaten vor allem mit diesem Back-up-System beschäftigt. Vereinfacht gesagt, besteht es aus einem Roboter, den der Mann bedienen kann, der sonst die Klebepistole tragen musste. Das ist effizienter – und angenehmer für den Arbeiter, der jetzt einen Rechner bedient, statt sich den ganzen Tag mit der schweren Klebepistole abzumühen. „Der war ziemlich begeistert“, erzählt Philipp. „Der hatte nämlich schon ein paar Ellbogen-OPs hinter sich.“

Philipp hat schon seine Bachelorarbeit bei BMW geschrieben, im Werk in Landshut. In technischen Fächern wie Maschinenbau oder Informatik ist es keine Seltenheit, dass Studenten für die Abschlussarbeit in ein Unternehmen gehen. Denn anders als bei den theoretischen Arbeiten in den Geisteswissenschaften gibt es hier ein wirkliches Interesse der Wirtschaft an den Ergebnissen. Firmen wie BMW gehen von sich aus auf die Studenten zu. Sie schreiben Stellen für Bachelor-, Master- und Doktorarbeiten aus, mit ganz konkreten Themen. Sie bieten Programme an für duale Studiengänge, Bachelor- oder Masterstipendien wie das Fastlane-Programm, an dem Philipp teilnimmt. Das lohnt sich für beide Seiten. Philipp hatte ein halbes Jahr Zeit, um Praxiserfahrung zu sammeln, herumzuprobieren und Versuche zu machen, er konnte sich vernetzen, ins Ausland gehen. Und BMW hat nun wichtige Erkenntnisse über Roboter-Mensch-Kooperation und ein Back-up-System, das bereits das Fließband in den USA vor dem Stillstand bewahrt hat und auch in den Werken in China eingesetzt werden soll. Philipps Arbeit bringt Fortschritt. Für ihn war das eine große Motivation: etwas bewegen zu können, ein Ergebnis zu sehen. Das ist ihm wichtiger als die noch ausstehende Beurteilung des Professors.

David Dietl bekommt für den Abschlussfilm nicht mal eine Note. Sobald der Film fertig ist, heißt das: bestanden. Bewertung nicht nötig. Das Diplom hat man ihm im Sommer überreicht. Ein wichtiges Zeugnis aber stand noch aus – der Kinostart, Donnerstag, 5. September. Das Premierenwochenende ist entscheidend für einen Film. Stimmen die Zahlen nicht, wechseln die Kinobetreiber einen Film sofort wieder aus. Am Donnerstag fährt David auf eine Open-Air-Premiere in Karlsruhe. Es ist das erste Mal, dass er den Film mit normalem Kinopublikum sieht. 600 Leute, gute Stimmung, viele Lacher. „Ein tolles Erlebnis, ich durfte das erste Mal in meinem Leben Autogramme schreiben, und es kamen von der Omi bis zum Kind ganz viele Leute und wollten über den Film reden“, sagt David.

Hier ist die Sonne noch auf seiner Seite. Dann wird sie sein Feind. Es ist heiß, der Himmel blau, in ganz Deutschland. Und alle wissen: Wahrscheinlich ist es das letzte richtig warme Wochenende dieses Sommers. Das letzte Mal Badewetter, Freibad, Luftmatratze, Grillabend. Da geht kaum jemand ins Kino. David ahnt, dass das für die Zahlen seines Films nichts Gutes heißt. Er fährt über das Wochenende an die Ostsee. Am Montag auf der Rückfahrt ruft er die Zahlen von den Kinokassen auf dem Handy ab. Nur etwa 7000 Zuschauer, in ganz Deutschland. Enttäuschend. Und jetzt fängt es an zu regnen.

Text: christian-helten - Fotos: christian-helten, joanna-swistowski

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