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Bildungsgipfel
Wenn Serkan Tavasli vom Gipfel blickt, schaut er auf eine Glitzerwelt. Er sieht dann Edelboutiquen, Menschen, die in Anzügen über Bürgersteige eilen, und Glasfassaden, die das Sonnenlicht spiegeln. Natürlich ist es nicht wirklich ein Berg, auf dem er da steht, das Treiben in der schicken Berliner Friedrichstraße pulsiert unter der Fensterfront seines Büros. Tavasli, Designerhemd und millimeterkurzes, dunkles Haar, hat es nach oben geschafft, an die Spitze der Berliner Geschäftswelt. Über 306 Quadratmeter erstrecken sich die Räume seiner Unternehmensberatung, 2,2 Millionen Euro Umsatz haben er und sein Geschäftspartner 2012 erwirtschaftet. Anfang November feiern sie fünfjähriges Firmenjubiläum, im Waldorf Astoria. Ein ehemaliger Staatssekretär wird die Laudatio halten.
„Vor zehn Jahren hätte ich allein bei der Vorstellung Herzrasen bekommen“, sagt Tavasli, wenn er an all das denkt. Und tatsächlich deutet, als er vor 36 Jahren in Berlin-Neukölln geboren wird, wenig darauf hin, dass er einmal 27 Angestellte beschäftigen und in zwei Aufsichtsräten sitzen wird, in einem davon als Vorsitzender.
Sein Vater ist Kellner bei einer Restaurantkette, seine Mutter Hausfrau. Allein dieser Satz enthält zwei Argumente, die – glaubt man Bildungsforschern – gegen eine Karriere wie die von Serkan Tavasli sprechen.
52 Prozent der Akademiker in Deutschland sind „Bildungsaufsteiger“, haben also Eltern, die nicht studiert haben. Laut dem Deutschen Studentenwerk schafft es hierzulande nicht mal ein Viertel der Arbeiterkinder auf eine Hochschule. In Akademikerfamilien sind es fast 80 Prozent. In kaum einem Industriestaat der Welt ist das Elternhaus so entscheidend dafür, was aus Kindern und Jugendlichen wird. Das deutsche Bildungssystem gilt als eines der undurchlässigsten überhaupt: Schon in der Schule verheddern sich viele Arbeiterkinder darin. Akademikerkinder werden fünfmal häufiger aufs Gymnasium geschickt als sie. Auch bei gleich guten Leistungen.
Dass Arbeiterkinder nirgends in Europa seltener den Weg in den Hörsaal finden, ist auch deshalb ein Problem, weil Deutschland im Vergleich ohnehin sehr wenige Studenten hat. Die Bildungsbenachteiligung verschwendet also nicht nur Begabung – sondern auch dringend benötigte Nachwuchskräfte. Seit Jahren fordern Wissenschaftler, Wirtschaftsverbände und Menschenrechtsorganisationen deshalb fast schon verzweifelt Reformen. Seit Jahren beißen sich Politiker die Zähne an der Bildungsungleichheit aus.
Doch nicht an allen Lehrstühlen und Fakultäten deutscher Hochschulen verteilen sich die Chancen ungleich. Während unsichtbare Barrieren den Weg in Studiengänge wie Medizin und Jura erschweren, sind die MINT-Fächer – Fächer aus den Bereichen Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik – laut einer Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft durchlässiger. Ganz besonders gilt das für die Ingenieurwissenschaften: 72 Prozent der deutschen Ingenieure sind Bildungsaufsteiger, mehr als in jeder anderen Berufsgruppe.
Serkan Tavasli ist einer von ihnen. Seine Lebensgeschichte hört sich an, als hätte er irgendwann beschlossen, seinen eigenen Lift durchs Leben zu konstruieren – einen, der nur nach oben fährt: In der Grundschule ist er Klassenbester; als er ein paar Jahre später Abitur macht, schließt keiner im Jahrgang das Gymnasium so gut ab wie er. Notendurchschnitt 1,5. Seine Eltern haben ihm „die drei großen A“ eingetrichtert: Arzt, Anwalt, Architekt. Doch als Kind will Tavasli lieber Archäologe werden, weil er die „Indiana Jones“-Filme der Achtziger mag und seine Eltern vor seiner Geburt aus Ephesos nach Deutschland gezogen sind, einer antiken Stadt an der türkischen Westküste. „Irgendwann habe ich gemerkt, dass man damit kein Geld verdienen kann“, sagt Tavasli und muss lachen. Stattdessen schreibt er sich bei den Wirtschaftsingenieuren an der Technischen Universität Berlin ein.
Tavaslis Eltern unterstützen ihn, auch wenn sie selbst ein bescheidenes Leben führen. 300 Euro BAföG kommen monatlich dazu. Weil das nicht reicht, bäckt Tavasli nach der Uni Pizzas, nachts steht er hinter der Kasse einer Tankstelle und fängt noch im Grundstudium an, Datenbanken für eine Unternehmensberatung zu entwickeln. Zeit für Pausen bleibt kaum. „Ich musste immer mehr tun als alle anderen“, sagt Tavasli. Die Regelstudienzeit will er nicht überziehen, sondern Geld verdienen, sich etwas aufbauen, auf eigenen Füßen stehen.
Auch anderen Bildungsaufsteigern geht es so. Ein Studium fordert sie nicht nur, weil sie als Erste in der Familie Klausuren schreiben. Es ist ein Risiko: Oft haben sie Geldprobleme. „Sie denken stärker über die finanziellen Folgen eines Studiums nach“, sagt Christina Anger, eine der Macherinnen der MINT-Studie vom Institut der deutschen Wirtschaft. Bei der Studienwahl prüfen Arbeiterkinder deshalb genau, welche Jobaussichten und Gehälter ein Fach verspricht. „Sie überlegen, was beim Studium für sie rauskommt – ob es sich für sie rentiert.“ Vieles spreche deshalb derzeit für die Ingenieurwissenschaften: Wegen des Fachkräftemangels ringen Unternehmen um die Absolventen. Die finden relativ leicht einen Job und verdienen überdurchschnittlich gut.
Als Martha Jakubietz, heute 27 Jahre alt, ihren Bildungsaufstieg beginnt, spielt Geld keine Rolle. In einem Dorf in der Oberpfalz wächst sie auf, und wenn sie mit Freunden die Jahrmärkte in der Umgebung besucht, tut sie das nur in zweiter Linie, um Karussell zu fahren. Die riesigen Maschinen faszinieren sie. Die Schrauben und Motoren, das Ineinandergreifen der Bewegungen, die Sicherheitsaspekte. Jakubietz recherchiert, was sie tun muss, um selbst solche Monstren zu erschaffen. Die Antwort: „Studieren Sie Maschinenbau.“
Ihr Aufstieg in den Hörsaal ist fast noch steiniger als der Serkan Tavaslis. Auf die Grundschule folgen Hauptschule, Realschule, Fachoberschule. Stolz sind ihre Eltern, als Jakubietz an der Technischen Hochschule in Regensburg beginnt. Seit Jahren schuften die gelernte Friseurin und der Industriemechaniker am Fließband. Ihre Tochter soll es besser haben. Trotzdem gibt es manchmal Diskussionen, wenn Jakubietz nach Geld fragt, weil eine Stromnachzahlung fällig ist oder sie auf ein Festival fahren möchte. Die Akademikerkinder aus ihrem Freundeskreis haben es einfacher. „An der FH gab es Kandidaten, die mit dem Sportwagen vorfuhren oder eine Eigentumswohnung hatten.“
An der Fachhochschule kommt Martha Jakubietz trotz ihrer Nächte als Popcornverkäuferin im Kino zurecht. Klar könnte sie ohne Nebenjobs schneller studieren. Klar findet sie, der Staat könnte Studenten in ihrer Situation besser unterstützen. Und klar wäre es schön, wenn ihre Eltern ihr beim Lernen helfen könnten, als der Stoff immer komplizierter wird. „Aber sie haben ja selbst nicht studiert. Sie hätten gern geholfen. Aber ab einem gewissen Punkt konnten sie nicht mehr.“
Von mangelndem „kulturellem Kapital“ sprechen Bildungsforscher, wenn Eltern Wissen und Studienerfahrungen fehlen, die sie ihren Kindern weitergeben könnten. Die Theorie besagt auch, dass insbesondere angehende Geistes- und Sprachwissenschaftler einen Vorteil haben, wenn im Elternhaus viele Bücher im Regal stehen, sie Sprachreisen unternommen haben oder häufig ins Theater gehen – sie bringen Vorwissen mit. Doch in den Ingenieurwissenschaften spiele das kulturelle Kapital eine untergeordnete Rolle, sagt Christina Anger. „Die Hürde, dieses Fach zu studieren, ist dadurch geringer.“
Für Jakubietz hat sich der Hürdenlauf gelohnt. Mit 24 wird sie Diplomingenieurin. Vier Monate und ein halbes Dutzend Jobofferten später geht sie für einen großen Dienstleister aus der Automobilbranche nach München. Karussells baut sie nicht, dafür tüftelt sie an den Elektroautos der Zukunft. Auch dieses Feld sei ein Abenteuerspielplatz, weil die Technologie noch am Anfang steht. „Wir können uns richtig austoben.“
Auch Serkan Tavasli hat sein Studium nie bereut. Sein Aufstieg geht weiter: Er promoviert, arbeitet in einer Unternehmensberatung, gründet 2008 mit einem Freund die eigene Firma. Dabei geht es ihm weniger darum, dass er jetzt ein Büro in bester Lage hat, mit repräsentativem Empfangsbereich und surfbrettgroßen Flachbildschirmen. Ihn freut, dass seine Diplomurkunde immer noch in der Küche der Eltern hängt. Als er den Doktor verliehen bekam, weinte sein Vater.
Serkan Tavasli glaubt, dass er heute davon profitiert, es schwerer gehabt zu haben als andere. Elf Stunden arbeitet er am Tag, in Ruhephasen neun bis zehn Stunden – ein Pensum, das er von Uni und Studentenjobs gewohnt ist. Von seinem Vater weiß er, dass der in 38 Jahren als Kellner kein einziges Mal gefragt wurde, was man im Restaurant seiner Meinung nach besser machen könnte. Wenn Serkan Tavasli mit seiner Unternehmensberatung in Firmen geht, um Arbeitsabläufe zu verbessern, bittet er deshalb immer auch die Angestellten um Vorschläge. Er möchte zeigen, dass er ihre Arbeit wertschätzt, möchte sie nicht übergehen, sondern miteinbeziehen. „Ich kenne ja die andere Seite“, sagt er.
Text: david-schelp - Foto: PROXCEL GMBH