- • Startseite
- • Uni_und_Job
-
•
All In
Als der Vermieter fragte, was sie beruflich machen, sagten sie: „Wir sind selbstständig.“ Als der Vermieter fragte, wie sie ihr Einkommen nachweisen wollen, fragten sie: „Ist es in Ordnung, wenn wir Ihnen morgen eine Jahresmiete überweisen?“ Sandro und seine beiden Mitbewohner sind Pokerspieler. Hauptberuflich. Zwei Monate nach seinem Umzug stehen noch Kartons im Flur. „Wir wissen den Schlüsselcode für den Keller nicht“, sagt Sandro.
Er ist ins europäische Ausland gezogen. Abschlussarbeit abgegeben und weg. Er bewohnt jetzt zusammen mit zwei anderen Jungs eine Fünf-Zimmer-Maisonette-Wohnung. Zentrumsnah, Erstbezug im aufgestockten Altbau. Parkett, Balkon, Dachterrasse, Sonne bis fünf Uhr nachmittags. Man muss sich das so vorstellen: Der Studienabschluss, der Umzug, der Entschluss, nur noch Poker zu spielen – das ist Sandros Einstieg ins Berufsleben.
Um mir dieses Leben als Pokerspieler anzuschauen, um zu verstehen, wie es ist, professionell zu spielen, besuche ich ihn für ein paar Tage in seinem neuen Leben. Wir kennen uns schon lange, wir sind Freunde, wir haben zusammengewohnt. Es ist ein vertrautes Wiedersehen. Er hat sich wenig verändert über die Jahre, ein bisschen älter ist er geworden, klar, und sein Teint verrät, dass er oft nachts wach ist.
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Sandro trägt Hoodie und Baggy-Jeans, die langen blonden Haare sind zu einem Knoten gebunden. Die Hose hängt so tief, dass man seine Boxershorts sieht. Er trägt seine Hosen so, seit ich ihn kenne, es ist eine Art Markenzeichen. Er ist groß, androgyne Figur, liegt am Stoffwechsel. Mädchen auf dem Campus, die seinen Namen nicht kannten, nannten ihn Legolas, wenn sie über ihn sprachen. Die Wände sind kahl, der Herd hat eine Kindersicherung, das Sofa ist riesig, und die Fensterfront im Wohnbereich ist es auch.
Hier leben drei Jungs, die wie Studenten wirken, in einer Wohnung für Großverdiener. Und Großverdiener sind sie alle. Man sieht es ihnen bloß nicht an. Auf der Galerie öffnet Sandro ein kleines Zimmer mit den Worten: „Und hier ist das Büro.“ In einem abgedunkelten Raum mit Dachschräge stehen sich zwei Schreibtische gegenüber, darauf vier sehr große Bildschirme. Seine Mitbewohner spielen hier. Sie beraten sich und sind sich gegenseitig verbale Prellfläche, wenn der Puls mal hochgeht. Sandro spielt in seinem Zimmer, an nur einem Bildschirm. Er will nicht im Büro sitzen, bei den anderen beiden. Er wolle sich nicht anstecken lassen, wenn es bei einem mal schlecht läuft, sagt er.
Angefangen zu pokern hat Sandro mit Freunden, um ein paar Cent, mit dem Pokerkoffer, den ihm sein Vater geschenkt hatte. Das war 2006. Sein Vater war es auch, der ihn früh mit Glücksspiel in Kontakt brachte: Als Kind würfelte er mit Sandro um dessen Weihnachtsgeld und gab es nicht wieder her, auch wenn er seinem Sohn wirklich alles abgenommen hatte. „Das war eine wichtige Lektion für mich“, sagt Sandro heute. „Ich habe damals schon gelernt, dass Spielen reale Folgen haben kann.“
Als er älter wurde, besserte er sein Taschengeld im Canasta gegen seinen Vater auf. Bis der nicht mehr gegen ihn spielen wollte, weil Sandro immer gewann. „Ich hab das geknackt“, sagt er. Ein Freund machte ihn dann auf eine Pokerschule im Internet aufmerksam, die unter dem Werbeslogan „Learn to win“ kostenlos Lehrvideos, Strategieartikel und persönliche Spielanalysen anbietet. Wer sich registrierte und ein kleines Pokerquiz fehlerfrei beantwortete, bekam 50 Dollar Startguthaben bei einem Online-Pokeranbieter geschenkt.
Sandro begann Turniere zu spielen, 180 Teilnehmer, Einsatz 4,40 Dollar. Er spielte so lange, bis er genug gewonnen hatte, um sich höhere Einsätze leisten zu können. Und dann noch höhere. Heute spielt er mit Einsätzen zwischen 400 und 1000 Dollar an bis zu zehn Tischen gleichzeitig. Die Höhe des Einsatzes und die Anzahl der zeitgleich gespielten Tische hängen davon ab, wie viele schlechte Spieler gerade unterwegs sind. Mit einer Analysesoftware, die die Spielstatistiken seiner Gegner auswertet, findet Sandro diese „Fische“. Dann nimmt er sie aus.
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Als wir zusammenwohnten, ging das Spielen gerade so richtig los bei ihm. Nicht selten kam er in mein Zimmer gestürzt, euphorisch, mit Erfolgsmeldungen, „Final Table, Baby!“ Oder niedergeschlagen, wütend, wenn er verloren hatte. Ich weiß noch, dass er mindestens ein Mal seine Tastatur so laut auf den Schreibtisch knallte, dass ich es im Nebenzimmer hören konnte. Zu dieser Zeit sah er auch den Film „Rounders“, mit Matt Damon und Edward Norton. Matt Damon spielt einen jungen Jurastudenten und sehr talentierten Pokerspieler. Es geht um das Spannungsfeld zwischen Studium und Spiel, darum, ob man seinen Obsessionen folgen sollte und der Hoffnung, mit seinem Talent Erfolg zu haben.
Nach seinen ersten Erfolgserlebnissen keimte auch in Sandro die Hoffnung, da mehr draus zu machen. Er habe, sagt er, nicht unbedingt „for a living“ spielen wollen, „aber schon extrem hoch“. Er spielte damals sechs Stunden netto am Tag, online, bei heruntergelassenen Rollos und geschlossenen Fenstern, rauchend. „Damals hatte ich das Gefühl, dass es Zeitverschwendung gewesen wäre, etwas anderes zu machen“, sagt er. Oft bestellte er Essen, oft Pekingente. Geschirr und Besteck sammelten sich auf seinem Schreibtisch oder in unserer Spüle. Er war lange wach und schlief bis mittags. Ich brachte ihm manchmal Früchtetee ans Bett, wenn ich seinen Wecker mehrere Male klingeln hörte, er aber nicht aufstand.
Man kann das schon so sagen: Sein Zimmer war eine Zockerhöhle. Es roch ein bisschen nach Pumakäfig. Was man bei einem solchen Lebensstil nicht gleich vermutet: Was er da machte, machte er konzentriert und achtsam und vor allem sehr erfolgreich. Er will nicht sagen, wie viel Geld er mittlerweile erspielt hat. Ein sechsstelliger Betrag wird es sicher sein. Die hohen Einsätze und diese Wohnung wird er sonst nicht bezahlen können, ohne zu viel von seinem Spielkapital zu riskieren. Investiert hat er nur ein Mal: 80 Dollar.
Der Gang ins Ausland ist folgerichtig. In Deutschland ist die Rechtslage für Online-Poker und dabei erspieltes Geld ungeklärt, Pokerspieler machen immer wieder Bekanntschaft mit Staatsanwälten oder Steuerfahndern. Sandro heißt eigentlich anders, sein Umzug war eine Vorsichtsmaßnahme.
Wir gehen einkaufen. Ein paar Sachen zum Frühstücken. Nach 200 Metern fällt Sandro ein, dass er schon wieder den Brief vergessen hat, den er noch einwerfen muss. Er wird ihn jedes Mal vergessen, wenn wir in den nächsten zwei Tagen das Haus verlassen, und es wird ihm jedes Mal an der gleichen Stelle einfallen. Bankkonto, Versicherungen, Handyvertrag, alles Sachen, um die er sich noch kümmern muss – aber heute nicht mehr. Sandro kauft Freilandeier, nicht Bio. Die seien hier so teuer.
Überhaupt, er merke das schon, die Lebenshaltungskosten an seinem neuen Wohnort seien höher als in Deutschland. Wenn Sandro über Geld und die Gewinne aus dem Pokerspiel spricht, sagt er Sätze wie: „Erfolg ist eine Herausforderung.“ Oder: „Manche Spieler vergessen, wie hart man für so viel Geld hätte arbeiten müssen.“ Aber auch: „Am Tisch muss dir egal sein, wie viele Grillteller du mit deinem Einsatz hättest kaufen können.“ Er ist ein verpeilter Mensch, aber ein reflektierter Spieler.
Später gehen wir essen. Ein Steak-Restaurant. Sandro trinkt Radler und wird nachdenklich. Natürlich kann er sich nicht vorstellen, mit 50 noch jeden Tag vor seinem Bildschirm zu sitzen und die Maus zu klicken. Aber was kommt nach dem Spielen? Was macht ein Pokerspieler, der seine Karriere beendet, und wann ist es Zeit aufzuhören? Sandro weiß es noch nicht. Er tunkt sein Steak in die Cognac-Pfeffer-Soße und sagt: „Alle Spieler, die man so trifft, erzählen einem, sie wollen sich später unbedingt selbstständig machen, aber keiner weiß, womit.“ Er glaubt, Immobilien seien in Deutschland ein todsicheres Ding.
Pokerspieler, die freiwillig aufhören zu spielen, sind wie Sportler, die ihre Karriere beenden, meistens reich und meistens ohne Berufserfahrungen in irgendeinem anderen Bereich. Sicher ist dann nur eins: So werden wie Boris Becker will niemand.
Vieles ist wie früher. Am Abend, einem Mittwochabend, trinken wir Schnaps und spielen Fifa 14. Als wir betrunken genug sind, hören wir alte Rap Classics und lallen die Hooklines mit. Wir rufen uns ein Taxi und fahren in einen Club. Als wir wieder zurückfahren, wird es hell. Sandro beschwert sich beim Taxifahrer, weil er einen Umweg fährt. Am nächsten Morgen freuen wir uns beide, dass die Putzhilfe erst um halb zwei kommt und nicht, wie angekündigt, um elf. Sandro bleibt lange auf seiner Couch liegen, und ich bringe ihm Rührei mit Schinken und Brot aufs Zimmer. Später reicht er mir ein Handtuch, es sei noch neu und ungewaschen. Es ist von Joop!, das Etikett hängt noch dran.
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Sandros Berufseinstieg fühlt sich an wie ein feuchtfröhlicher Studienbeginn. Nur mit mehr Komfort. Mit den Inhalten seines wirklichen Studiums konnte er sich nie identifizieren, er ging nur zu Pflichtveranstaltungen und sagt, die Klausuren am Semesterende hätten immer „funk-tioniert“. Mit funktionieren meint er bestehen. Seine Eltern hatten Bedenken, ja, sie sorgten sich aber vor allem darum, dass ihr Sohn sozial vereinsamen könnte. Aber solange klar war, dass er seinen Abschluss macht, gab es keinen Widerstand. Die Gewinnsummen haben dabei sicherlich geholfen. „Es war das erste Mal, dass ich den Eindruck hatte, etwas richtig gut zu können und dafür was zurückzubekommen“, sagt Sandro. Daher der Ehrgeiz und die Bereitschaft, so viel Zeit zu investieren.
Das kann ein Problem werden, zum Beispiel, wenn man eine Freundin hat. Sandro ist seit drei Jahren mit Annabelle zusammen. Sie haben sich während des Studiums kennengelernt. Annabelle wohnt und arbeitet in Sandros Heimatstadt. Emotional sei das dort ihre gemeinsame Wohnung, sagt er. Er plant, vier Monate im Jahr dort zu verbringen. Sie kann ihn besuchen und in seiner Wohnung Homeoffice machen. Als sie zusammenkamen, als alles noch in der Schwebe war, in diesem merkwürdigen Zustand, in dem man nicht weiß, was mit diesem neuen Menschen wird, der da im eigenen Leben rumwirbelt, dachte Sandro darüber nach, ob sein Spiel unter einer Beziehung leiden würde – nicht andersherum. „Das war auf einmal ein anderer Style“, sagt er.
Er musste Kompromisse eingehen. Es gab ein langwieriges Hin und Her zwischen den beiden. Mittlerweile haben sie einen Rhythmus gefunden. Wenn er bei ihr ist, spielt er, während sie arbeitet. Sie unterstützt ihn bei dem, was er tut. Aber über allem hängt die Frage: Wie lange will man eine Beziehung so führen, dass man in ein Flugzeug steigen muss, wenn man sich sehen will? Ist das Pokern das wert? Denn da ist ja noch das Problem der fehlenden Wertschöpfung.
Das Spielen füllt zwar Sandros eWallet, aber er erzeugt damit keinen Gegenwert. Am Ende eines Tages liegt nicht ein Stein mehr auf dem anderen, ist kein Projekt geplant und umgesetzt worden. Wenn er gewinnt, verliert jemand anderer. Das ist alles. Und auch das ist ihm bewusst. Er überlegt, sich ehrenamtlich zu engagieren, im Altenheim Zeitung vorzulesen oder „Mensch ärgere Dich nicht“ zu spielen, das hat er schon während des Zivildienstes gemacht. Er bemüht sich um einen strukturierten Alltag.
Er ist besser geworden darin, „ich hab schon das Gefühl, dass ich hoch muss, wenn der Wecker klingelt“, sagt er. Er achtet auf seine Ernährung und hat Spaß am Kochen gefunden. „Ich check bei so einer App voll gern die neuen Rezepte.“ Und der Arbeitstag? Hat der auch eine Struktur? Einen festen Spielrhythmus hat Sandro nicht. Er beginnt zwei bis drei Stunden nach dem Aufstehen und spielt so lange, wie es gut läuft und er das Gefühl hat, sein bestes Spiel, sein „A-Game abzurufen“.
Am letzten Abend fahren wir in ein Pokercasino. Der Laden ist groß. Ungefähr 40 Pokertische, zweimal Black Jack, eine kleine Bar. Das Personal trägt Hemd, Weste, Krawatte und Hose komplett in Schwarz. Sie bedienen uns am Tisch. Wir könnten uns sogar ein ganzes Gericht auf einem Servierwagen bringen lassen und beim Essen weiterspielen, wenn wir wollten. Wir bezahlen jeder 100 Euro direkt beim Dealer und erhalten den Gegenwert in Chips. Rolexdichte am Tisch: eins. Frauen: eine. Gold- und Silberschmuck: viel. Los geht’s.
Aber schnell ist klar: Eigentlich geht gar nichts richtig los, am Tisch passiert kaum etwas, und die meisten Hände werfe ich weg. Poker ist vor allem auch ein Geduldsspiel. Sandro sitzt mir gegenüber, ziemlich krumm, er sieht viel kleiner aus, als er ist. Als jemand einen großen Pott mit der viel schlechteren Hand gewinnt, verdreht er die Augen. Sonst lässt er sich nichts anmerken, in keiner Situation, als hätte er Reptilienblut. Trotzdem nicht zu übersehen dabei, er checkt ab, er ordnet ein, er sortiert seine Gegner.
Manchmal fragt er jemanden nach seinen Karten oder worauf er spekuliere, um an der Reaktion etwas ablesen zu können. Nach gut zwei Stunden hat er seinen Einsatz fast verdoppelt, ich bin 23 Euro im Plus, wir lassen uns an der Kasse ausbezahlen. Im Aufzug lästern wir über unsere Gegner und analysieren die gespielten Hände. Sandro sagt: „Der eine Typ war doch komplett braindead.“ Und: „So einen Tisch muss man eigentlich komplett zerstören!“ Den schwächsten Gegner finden, Tische zerstören, wenn es geht, zehn auf einmal. Das ist Sandros Job.
Text: dorian-steinhoff - Illustrationen: Joanna Mühlbauer