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Abgestiegen?

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Ein bisschen schämt Stephanie sich schon. Das merkt man, wenn sie Freunden oder Verwandten erzählt, wie es beruflich weitergeht für sie: „Übrigens: Ich werde jetzt Azubi.“ Dann lacht sie und sagt: „Bitte lach auch!“ Sie habe das allen so erzählt, sagt sie, auf diese witzige Art, „weil ich ein bisschen Angst vor der Reaktion hatte.“ Stephanies Biografie ist eigentlich nicht ungewöhnlich. Sie hat einen Realschulabschluss gemacht, dann das Abitur draufgesetzt, sie hat Geschichte und Germanistik studiert, in der Regelstudienzeit, Abschlussnote 2,1.

Und sie hat sich auf Jobs beworben. Hauptsächlich im Kulturbereich, in Museen, in Verlagen, auf Volontariate. Auch auf ein Praktikum im Bundesarchiv, dort hat man sie abgelehnt, weil sie „überqualifiziert“ sei. Zu gut, zu schlecht, irgendwann hatte sie genug von den Absagen. Und darum gab sie ihrer Biografie diese kleine Wendung, die bei Freunden und Bekannten Erstaunen hervorruft: Sie bewarb sich mit 27 Jahren und einem Uniabschluss um eine Ausbildung zur Buchhändlerin. Sie bekam eine Zusage. Sie freute sich.

Aber manchmal sorgt sie sich doch, versagt zu haben. Nicht gut genug gewesen zu sein. Vor allem: dass „die anderen“ das denken könnten. Auf die Idee mit der Ausbildung ist Stephanie unter anderem gekommen, weil ihr Freund ebenfalls Buchhändler wird. Er hat seine Ausbildung schon begonnen, gerade ist er im Schulbuchgeschäft tätig.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert



Alexander, 27, Magisterabschluss in Anglistik, Germanistik und Geschichte, Durchschnittsnote 1,2, Promotionsangebot vom prüfenden Professor, klebt derzeit sehr viele Etiketten auf sehr viele Bücher. An seiner Uni gab es kein Geld für eine Stelle als wissenschaftlicher Mitarbeiter, auch an einer anderen Uni hat er nichts gefunden. Also hat er den Promo-tionswunsch verworfen und fast zwei Jahre lang Bewerbungen geschrieben. Er bekam: Absagen. Nebenher arbeitete er als Aushilfe in einer Buchhandlung. Dort war man so zufrieden mit ihm, dass man ihm einen Ausbildungsplatz anbot. Alexander haderte lange. Dann nahm er doch an. „Es ist besser als nichts“, sagt er, „und wird gekrönt von einem fantastischen Arbeitsumfeld.“

Alexander mag seinen neuen Job. Und doch ist da diese leise Scham, die auch Stephanie kennt. „Würde ich Leute wieder treffen, die ich lange nicht gesehen habe, würde ich sehr genau überlegen, wie ich das formuliere“, sagt er, „weil ich schon ein bisschen Angst habe, in deren Augen als Versager dazustehen. Als jemand, der immer die falschen Entscheidungen getroffen hat.“

Mehr als 500000 Ausbildungsverträge werden jedes Jahr geschlossen. Die meisten dieser mehr als 500000 jungen Menschen schämen sich nicht dafür, sie machen keinen Witz daraus, wenn sie davon erzählen, und haben keine Angst, dass jemand sie als Versager bezeichnen könnte. Weil sie vorher nicht studiert haben, so wie Stephanie und Alexander. Weil sie nicht mit dem Magister, Bachelor oder Master in der Tasche an die Berufsschule wechseln. Weil der Beginn einer Ausbildung für sie der logische nächste Schritt ist und kein Schritt zurück.

Aber: Ist es wirklich einer? Ist man gescheitert, wenn man nach dem Uniabschluss eine Ausbildung macht? Und wenn ja: woran? An den eigenen Ansprüchen oder an denen anderer? Stephanie und Alexander haben sich aus dem gleichen Grund und mit der gleichen Zuversicht für ein Studium entschieden wie viele andere Abiturienten. Sie dachten: Jetzt habe ich die Hochschulreife, also studiere ich auch – danach werde ich schon einen Job finden. Allerdings gibt es längst keine Jobgarantie für Akademiker mehr.

In den vergangenen 20 Jahren hat sich die Zahl der Studienanfänger nahezu verdoppelt, heute gibt es jährlich fast genauso viele Erstsemester wie neu abgeschlossene Ausbildungsverträge. Mehr Akademiker bedeuten auch härter umkämpfte Jobs für Akademiker. Gleichzeitig hat sich der Arbeitsmarkt gewandelt, ist flexibler und vielseitiger geworden. Berufsbiografien, gerade die der Absolventen in den theorielastigen Geistes-, Sprach- oder Kulturwissenschaften, erfordern zunehmend Umwege, Weiterbildungen, Umorientierungen. Dazu kann auch eine Ausbildung gehören. „Eine Ausbildung ist immer eine Entscheidung für die Praxis“, sagt Michael Hümmer, Berufseinstiegsberater der Agentur für Arbeit an der Uni Erlangen, „viele entdecken dann erst, dass das genau ihr Ding ist.“

Der Unterschied zwischen Studium und Ausbildung ist also erst einmal der zwischen Theorie und Praxis, nicht der zwischen oben und unten. Warum dann diese Abstiegsangst? Weil es bei der Frage „Ausbildung oder Studium?“ gesellschaftlich eben doch um Status geht. Der Anteil an Uni-Absolventen, die einen Ausbildungsvertrag abschließen, wird im Gegensatz zu sonstigen Vorbildungen nicht statistisch erfasst, wohl auch, weil es so selten vorkommt. Alexander war selbst lange der Meinung: „Ich habe nicht fünfeinhalb Jahre mit großem Erfolg studiert, um dann eine Ausbildung zu machen!“ So sehen es die meisten. Es gibt ein Wertschätzungs- und Prestigegefälle, Studium oben, Ausbildung unten.


„Das Thema ist ein Minenfeld“, sagt Michael Hümmer, „die Botschaft in der Politik und der Gesellschaft lautet immer noch: ‚Mach ein Studium, dann gehört dir die Welt!‘“ Die Status-Unterscheidung funktioniert zum Beispiel über den einfachsten aller Wertmaßstäbe: Geld. Stephanie und Alexander verdienen im ersten Lehrjahr 630 Euro brutto im Monat, im zweiten 690, im dritten 800. Die neue gemeinsame Wohnung, in die sie gerade gezogen sind, werden sie sich mit ihren beiden Gehältern gerade so leisten können, Urlaub und langfristige Zukunftsplanung müssen hinten anstehen. Zum Vergleich: Das Einstiegsgehalt für Akademiker liegt im Schnitt bei 3400 Euro brutto im Monat.

Statistisch gesehen verdienen Stephanie und Alexander also je 2770 Euro weniger, als sie verdienen könnten. Statistisch gesehen ist das ein Abstieg. Oder zumindest ein verpasster Aufstieg. Schwerer als die Statistik wiegt natürlich das direkte Umfeld. Dr. Hans-Uwe Hohner ist Berufs- und Organisationspsychologe mit dem Schwerpunkt berufliche Entwicklung an der FU Berlin. Er weiß, dass Freunde und Verwandte viel Anteil am Gefühl des Scheiterns haben können. Weil man dazu neigt, sich selbst durch ihre Augen zu betrachten. Gerade im Hinblick auf den familiären Hintergrund von Stephanie und Alexander erscheint ihm das einleuchtend: Beide sind in ihrer Familie die ersten mit Uniabschluss.

„Als Aufsteiger trägt man die Last der ganzen Sippe auf seinen Schultern. Die einen sind stolz, die nächsten zwiespältig, und andere machen hämische Bemerkungen, wenn es doch nicht klappt: ‚Er wollte was Besseres sein als wir und hat es nicht geschafft!‘“ Der Aufstieg erfolgt eben über eine Treppe. Und eine Stufe zurückzugehen ist besonders unangenehm, wenn man dabei beobachtet wird.

Stephanie und Alexander haben die ganze Bandbreite des Unverständnisses kennengelernt. Manche sagten: „Dann war ja alles umsonst!“ Oder: „Das hättest du ja auch schon vor sieben Jahren haben können!“ Sie fragten, warum man mit Studium keinen Job findet. Warum man sich dann auch noch ausgerechnet für eine Ausbildung in der „toten“ Buchbranche entscheidet. „Einer wusste nicht mal, dass es den Beruf Buchhändler gibt, der dachte, ich erzähle ihm irgendeinen Scheiß“, sagt Alexander.

Stephanie vergleicht ihren Weg manchmal mit dem alter Freunde aus der Realschule. Die es mit einer Ausbildung und ohne Studium weit gebracht haben, heute finanziell besser dastehen als sie und beruflich mehr Verantwortung tragen. Klar, dass man da auch selbst anfängt zu grübeln: ob man mit Mitte, Ende 20 nicht ein bisschen spät dran und zu alt ist für eine Ausbildung. Allein der Gedanke, in eine Berufsschule gehen zu müssen, kann für ehemalige Studenten belastend sein – immerhin haben sie jahrelang eigenverantwortlich gelernt und müssen dann plötzlich wieder zurück in eine Klasse.

Auch die Frage, ob vielleicht schon der erste Schritt, das Studium, die falsche Entscheidung war, kommt unweigerlich auf. Stephanie und Alexander bereuen ihr Studium nicht. Wenn man sie fragt, was es ihnen gebracht hat, zählen sie neben den fachlichen Aspekten vor allem die viel beschworenen Soft Skills auf: Zeitmanagement, Organisation, die Fähigkeit, selbstständig Probleme zu analysieren und zu lösen, Herausforderungen zu begegnen und sie zu bewältigen. Klar kann das Schönrederei sein. Aber vielleicht ist es auch der richtige, weil gelassene Umgang mit dem Studium, weit weg von Bologna-Reform, Praxisori-entierung, Arbeitsmarkttauglichkeit, aber auch von Prestige und falschem Akademikerstolz: das Studium als die gute alte Charakterschule. Als Zeit, die man vielleicht noch braucht, um herauszufinden, was man machen will.

„Wir sind beide sehr glücklich mit unserer Entscheidung für die Ausbildung“, sagt Stephanie, „wir haben das Gefühl, dass es die richtige war – und dass wir gerade wegen unseres Studiums viele Vorteile haben.“ Michael Hümmer sieht das auch so: „Die Semester, die ich gemacht habe, gehören mir. Ohne sie wäre ich nicht, wie ich bin.“ Ohne sie hätte Alexanders heutiger Chef ihm vielleicht gar keinen Ausbildungsvertrag angeboten.

Damit wäre die Ausbildung, was sie für die meisten ist: kein Rückschritt, sondern der logische nächste Schritt. Das klingt zwar ein bisschen nach Schicksalsergebenheit. Aber in jedem Fall besser als: „Dann war ja alles umsonst!“ Die Angst vor dem Statusverlust und vor dem Scheitern loszuwerden, ist denkbar einfach und denkbar schwer: das Selbstbewusstsein steigern und sich unabhängig vom Umfeld machen. Die eigenen Erwartungen in Ruhe abwägen. Sich vorsagen, was man schon erreicht hat. Und es ganz rational sehen: Wenn man einen Schritt zurück macht, kann man anschließend ja trotzdem drei nach vorne machen.

Text: nadja-schlueter - Illustration: Joanna Mühlbauer

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